Westliche Heuchelei: Wollen wir wirklich den "Big Bang" in Nahost?

Seite 2: Höchste Zeit für Diplomatie

Finanzminister Bezalel Smotrich bezeichnet sich ungeniert als "Faschisten", der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, plädiert unverhohlen für die "ethnische Säuberung" von Palästinensern. Die israelische Zeitung Haaretz bezeichnet ihn als "jüdischen Terroristen".

Insoweit ist es nur folgerichtig, dass die Regierung Netanjahu auf Kollektivbestrafung setzt und eine "totale Blockade" über den Gazastreifen verhängt hat. Die Versorgung mit Strom, Wasser und Lebensmittel wurde eingestellt. Völkerrechtlich gelten Kollektivstrafen als Kriegsverbrechen – doch wen interessiert das, im vermeintlich werteorientierten Westen?

Wie bei allen Kriegen, siehe auch den in der Ukraine, sind Politik und Leitmedien bemüht, ein möglichst einheitliches Narrativ über gegebene Kriegsursachen und -verläufe zu vermitteln. Andernfalls riskieren Entscheider und Meinungsmacher, Rückhalt oder Glaubwürdigkeit einzubüßen.

Dabei geht es in der Regel nicht um Sachlichkeit, um Hintergründe oder Ausgewogenheit, sondern um Moralisierung – hier die Guten, also auch "wir", dort das absolut Böse, die ultimative Bedrohung für Freiheit und Demokratie.

Zwei große erzählerische (propagandistische) Linien bestimmen das sich abzeichnende politisch-mediale Framing auch im Nahen Osten. Die eine richtet ihren Fokus auf den Iran, auf "fanatische Mullahs", die "den Terror gegen Israel" unterstützen. Angereichert um Handlungsempfehlungen an die Politik, harte Kante wider Teheran zu zeigen.

Eine leichte Übung angesichts des ohnehin bestehenden Negativimage Irans. Ob selbst verschuldet oder nicht spielt dabei keine Rolle. Es fehlt auch nicht an Spekulationen über angebliche iranische Waffenlieferungen an die Hamas. Die naheliegende Frage, wie die denn in den abgeriegelten Gazastreifen gelangt sein sollen, bleibt dabei unbeantwortet.

Die zweite Linie dürfte ihre Wirkung erst noch entfalten. Den entscheidenden Aufschlag setzte Israels Präsident Jitzchak Herzog: "Seit dem Holocaust sind nicht mehr so viele Juden an einem Tag getötet worden", erklärte er am 9. Oktober. Das ist sachlich nicht falsch und dennoch, oder gerade deswegen, ein potenzieller rhetorischer Richtblock.

Denn jeder noch so sachliche Versuch, die Hintergründe dieser Eskalation zu erklären, steht nunmehr unter Antisemitismus-Verdacht – sofern er nicht allein die Hamas oder die Mullahs geißelt, diese Wiedergänger Hitlers.

In der besten aller Welten würde das Mitgefühl der Staatengemeinschaft all jenen unschuldig getöteten israelischen und palästinensischen Zivilisten gelten, die einen mörderischen Preis für eine verfehlte, auf Vorherrschaft und Anmaßung gerichtete Politik bezahlen. Die westliche, erst recht die in Deutschland vorherrschende Haltung ist dagegen eine ganz andere.

Sie solidarisiert sich ohne Wenn und Aber mit Israel, sieht überwiegend die massakrierten jüdischen Opfer, während jene der wahllosen israelischen Bombenangriffe auf den Gazastreifen offenbar als Kollateralschaden gelten.

Die ersten Reaktionen der Bundesregierung sprechen für sich. Deutsche Hilfszahlungen für die Palästinenser sollen eingestellt, auf EU-Ebene gekürzt werden. Der von der Regierung Netanjahu vorexerzierte Ungeist kollektiver Bestrafung setzt sich auch auf dieser Ebene fort.

Das Unrecht der völkerrechtswidrigen israelischen Besatzung seit 1967 wird in Berlin wie auch in Brüssel oder Washington zur Kenntnis genommen, mehr nicht. Israel hat folglich seit Jahrzehnten freie Hand, mit den Palästinensern nach Belieben zu verfahren.

Nachfolgende israelische Regierungen haben sie im Gazastreifen seit 2006 mit regelmäßigen Bombenkampagnen in Schach zu halten gesucht und gleichzeitig jüdisch-extremistischen Milizen im Westjordanland freie Hand bei ihren Raubzügen auf palästinensischem Land gelassen. Diese Strategie ist seit dem Blitzkrieg Makulatur.

Das ist der Grund, warum Palästinenser auch in Deutschland mit der Hamas sympathisieren. Ihnen deswegen etwa die deutsche Staatsangehörigkeit aberkennen zu wollen, wie es führende Politiker fordern, ist ein für Berlin typischer, weil bauchgesteuerter Reflex. Wer palästinensischen Terror verurteilt, zur israelischen Staatsgewalt aber schweigt, ist nicht glaubwürdig.

Eigentlich wäre es jetzt höchste Zeit für Diplomatie, die es aber nicht geben wird. Sollte der Nahe Osten explodieren, ebnet die "Staatsräson" den Weg auch für ein militärisches Engagement der Bundeswehr. Dafür werden die Hofreiters und Strack-Zimmermanns schon sorgen.

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