Wie Phönix aus der Asche
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schon totgeglaubt, erlebt Russlands Militärisch-Industrieller-Komplex derzeit eine stürmische Renaissance
In einem kürzlich publizierten Interview warnte Juri Solomonow, der Chefkonstrukteur der neusten Generation russischer Interkontinentalraketen, seine Regierung vor der Wiederholung vergangener Fehler. Der Generaldirektor des Moskauer Instituts für Wärmetechnik mahnte den Kreml, sich nicht in ein neues Wettrüsten mit den USA hineinziehen zu lassen und eine nüchterne und vorsichtige Antwort auf die in Polen und Tschechien geplante, amerikanische Raketenabwehr zu finden. "Wir sollten uns nicht dieser Provokation hingeben wie vor 25 Jahren. Wir investierten riesige Ressourcen innerhalb kurzer Zeit und erhielten keine Effekte.", so Solomonows Zusammenfassung der massiven Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion in den 80er Jahren, als das von der Reagan-Administration geplante "Star-Wars" Programm die gesamte sowjetische Wirtschaft in einen ruinösen Rüstungswettlauf trieb.
Ob aber der maßgeblich an der Entwicklung der Topol-M Interkontinentalrakete (ICBM) beteiligte Solomonow mit seinen Mahnungen auch Gehör bei den Kremloberen findet, ist eher fraglich. Als Reaktion auf den durch die USA geplanten Raketenschutzschild steigert Russland massiv seine Rüstungsausgaben. Zudem läuft innerhalb der russischen Militärführung eine Debatte um die Formulierung einer neuen Verteidigungsdoktrin, die den neuen, strategischen Realitäten entsprechen soll.
Die Grundzüge einer umfassenden Modernisierungsstrategie der russischen Streitkräfte gab einer der möglichen Nachfolger Putins, der damals noch als Verteidigungsminister fungierende Sergej Iwanow Anfang Februar bekannt. Der inzwischen zum ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannte Iwanow will in den kommenden acht Jahren umgerechnet 189 Milliarden US-Dollar für eine umfassende Modernisierung der russischen Streitkräfte bereitstellen. An die 45 Prozent der Austüstung der russischen Armee sollen laut Iwanow während dieses Aufrüstungsprogramms ersetzt werden. Annähernd 100.000 modere Militärfahrzeuge, zahlreiche strategische Bomber und 31 Kriegsschiffe werden bis 2015 den Streitkräften zu Verfügung gestellt.
Finanziert werden diese Mehrausgaben durch die derzeit sprudelnden Deviseneinnahmen aus den Rohstoffexporten des Landes. Die Währungsreserven Russlands beliefen sich vorsichtigen Schätzungen zufolge Ende 2006 auf umgerechnet 300 Milliarden US-Dollar. Seit 2004 wird ein Teil der Deviseneinnahmen in einen "nationalen Stabilisierungsfonds" geparkt, der Mitte 2006 77 Milliarden US-Dollar betrug.
Im Zentrum dieser Rüstungsanstrengung sollen aber weitere 50 ICBM der besagten Topol-M stehen, um auf die von den USA in Polen und Tschechien geplante Raketenabwehr eine "adäquate, strategische Antwort" zu finden. Russland verfügt bereits über 40 Topol-M. Russische Militärexperten und Politiker vertreten die Ansicht, dass die Topol-M den Raketenschutzschild der USA spielend durchbrechen kann, da ihr Gefechtskopf nach dem Start in eine semiballistische Flugbahn wechseln kann. Dadurch soll es Abwehrsystemen nahezu unmöglich sein, die Flugbahn der Topol-M zu antizipieren und den Gefechtskopf abzufangen. Zudem soll diese ICBM über etliche Täuschungs- und Tarnvorrichtungen verfügen.
Die zunehmenden Spannungen mit den USA sind auch einer der Hauptgründe für die rasant wachsenden jährlichen Verteidigungsausgaben Russlands, die 2007 um 23 Prozent auf inzwischen ca. 31 Milliarden US-Dollar steigen sollen. Gegenüber 2001 vervierfachte sich somit das Verteidigungsetat im russischen Budget.
Einen Großteil der Mehrausgaben sollen Forschungsprojekte zur Entwicklung modernster Angriffs- und Verteidigungsraketen verschlingen. Der Rüstungskonzern Almaz Antei erhielt Ende Februar den prestigeträchtigen Auftrag, ein neuartiges Luftabwehrsystem zu entwickeln, das zugleich gegen Kampfflugzeuge, Raketen und "weltraumgestützte Waffensysteme" eingesetzt werden kann.
Die 1550 offiziell registrierten russischen Waffenhersteller können sich aber auch über eine massiv gestiegene, internationale Nachfrage freuen. Die Summe aller ausländischen Aufträge an russische Rüstungsunternehmen erreichte 2006 einen Wert von umgerechnet 30 Milliarden US-Dollar, was nahezu einer Verdopplung gegenüber dem Vorjahr gleichkommt. 2005 betrug das Auftragsvolumen der russischen Rüstungsindustrie 16 Milliarden US-Dollar. Die Exporteinnahmen der russischen Rüstungsindustrie summierten sich 2006 auf 6,4 Milliarden US-Dollar, unter Berücksichtigung diverser Serviceleistungen nahm Russland sogar 8 Milliarden US-Dollar ein.
Die wichtigsten Handelspartner Russlands sind China und Indien. Auf diese Länder entfallen 62 Prozent aller Rüstungsaufträge. Staaten des Mittleren Ostens und Afrikas haben ihren Anteil an den Auftragsvolumen russischer Waffenhersteller auf 21 Prozent gegenüber 2005 verdoppelt. Bemerkenswert ist vor allem der sprunghafte Anstieg der Nachfrage nach russischer Militärtechnik in Lateinamerika, das traditionell als ein von US-Herstellern dominierter Waffenmarkt galt. Der Anteil dieser Region am Auftragsvolumen stieg von 0,5 Prozent in 2005 auf 7,7 Prozent im vergangenen Jahr, wobei Venezuela und Mexiko zu den wichtigsten Kunden Russlands gehörten. Der Export russischer Militärtechnik wird von dem staatlichen Monopolunternehmen Rosoboronexport abgewickelt, dessen Auftragsvolumen 20 Milliarden US-Dollar beträgt. Einzig die Kampflugzeughersteller Suchoj und MiG verblieben außerhalb des Rosoboronexport-Imperiums.
Die sich rapide verschlechternden Beziehungen zwischen Russland und dem Westen führen überdies zu einer grundlegenden, strategischen Umorientierung russischer Verteidigungspolitik, die einen wachsenden Einfluss des erstarkten, Militärisch-Industriellen-Komplexes des Landes erwarten lässt. Am 20. Januar fand in der Russischen Akademie der Militärwissenschaft eine hochkarätig besetzte Konferenz statt, auf der einige Elemente der künftigen Militärdoktrin Russlands vorgestellt wurden. Laut dem referierenden Armeegeneral Juri Balujewski bilden das "Streben der Vereinigten Staaten nach globaler Führung" und die Osterweiterung der NATO die größten Bedrohungen russischer Sicherheit. Um gegenüber diesen Gefahren gewappnet zu sein, müsse die russische Militärorganisation laut Balujewski "politisch und finanziell gestärkt werden". Dies beinhalte eine "Verstärkung der Nuklearstreitkräfte" und die permanente Erhöhung der Militärausgaben Russlands von 2,5 Prozent des Bruttosozialprodukts auf 3,5 Prozent. Zum Vergleich: Während der Hochphase des Wettrüstens in den 80ern widmete westlichen Schätzungen zufolge die Sowjetunion zwischen 15 und 17 Prozent ihres Bruttosozialprodukts dem Militärisch-Industriellen-Komplex.
Nach dem russischen Vizepremier Sergej Iwanow stellt der militärisch-industrielle Komplex 70 Prozent der wissenschaftsbasierten Produktion dar. Die Hälfte der russischen Wissenschaftler würde hier arbeiten. Wie Präsident Putin kündigte er auch an, dass Russland viele Mittel in die Nanotechnologie investieren würden, um neue Waffensysteme und andere technische Innovationen zu entwickeln.