Wie Studentinnen Frauen sehen
Aufregung um das Gedicht "Avenidas" von Eugen Gomringer
Ein Gedicht sorgt für Aufregung. Es ist ein schlichtes Gedicht an einer Wand der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. Es ist in Spanisch und stammt aus dem Jahr 1953. Es ist dort an der Giebelwand seit 2011. Eugen Gomringer, Schriftsteller und Begründer der Konkreten Poesie, hatte es, nachdem er den Alice Salomon Poetik Preis 2011erhalten hat, der Hochschule übergeben.
Trotz seiner Größe von 15 Metern Höhe und 14 Metern Breite wurde es von der breiten Öffentlichkeit kaum beachtet, bis der AStA, die Studentenvertretung, daran Anstoß genommen hat. Es sei frauenverachtend und sollte daher übermalt werden. Die Frau würde als Objekt dargestellt werden. Das Subjekt, der Handelnde sei wieder einmal der Mann. Dies würde die Frauen an die Übergrifflichkeit der Männer, den täglichen Sexismus erinnern, und sei daher ein Symbol der Frauenunterdrückung.
Alleen
Übersetzung aus dem Spanischen
Alleen und Blumen
Blumen
Blumen und Frauen
Alleen
Alleen und Frauen
Alleen und Blumen und Frauen und
ein Bewunderer
Nehmen wir das Gedicht nun unter die Lupe, dann können verschiedene Aspekte daran deutlich werden. Es sind wenige Bestandteile des Gedichtes, die zu betrachten sind: Alleen, Blumen, Frauen, ein Bewunderer. Alleen, das sind von Menschen angelegte Straßen, aber mehr als das, es sind auch die dazugehörenden Bäume. Manche, die das Gedicht nur flüchtig gehört haben, geben das Gedicht aus dem Gedächtnis so wieder: Alleen, Bäume, Blumen, Frauen und ein Bewunderer. Die Allee, das sind eben auch die zwei Baumreihen, vorzustellende Kulisse für das Gedicht, ein Werk schöpferischer Arbeit, die Symbolik für die Verbindung von Orten und Menschen, gerahmt durch die Mächtigkeit der Bäume.
Blumen als Zeichen der Schönheit, des Sommers, der Freude. Es ist die heitere Note des Gedichtes. Ihre Leichtigkeit säumt zusätzlich zu den Bäumen die Straße.
Und nun die Frauen. An den Frauen entzündet sich die Diskussion. Sind sie genauso nur Objekte des Gedichtes, wie Allee und Blumen? Passiv ohne Handlung, nur zum Betrachten, in einer Reihe von beeindruckenden Alleen und schönen Blumen? Wir gehen später noch auf sie ein.
Dann haben wir noch den Bewunderer. Da kommt einer in dem Gedicht vor, der schenkt seine Aufmerksamkeit dieser Allee, den Blumen und den Frauen. Bewundern, das ist wie Achtsamkeit, wie Anerkennung, wie hochschätzen, würdigen.
Ein blumiges, heiteres Gedicht. Fast zu belanglos, um die Wand einer Hochschule zu zieren. Wenn es das Jahr 2017 mit den aufgeregten Studentinnen nicht gäbe. Dies Gedicht müsse weg. Es würde die Frau zu Objekten männlicher Betrachtung degradieren.
Aber nehmen wir das Anstößige mal aus dem Gedicht heraus und ersetzen nun die Frauen durch Männer? Wie klingt dann das Gedicht? Werden Männer genauso zum Objekt des kritikwürdigen Bewunderers?
Bei Männern fällt dies schwerer. Bei den Männern schwingt sofort die Vorstellung des Machers mit ein. Sind sie es, die die Allee entworfen haben? Sind sie es, die die Straße gepflastert haben, die Bäume gesetzt, die Blumen gegossen haben? Und bewundert nun der Bewunderer eher diese Taten und weniger vielleicht den schönen Körper, die athletische Figur, den knackigen Männerarsch? Nein, würden Männer statt Frauen vorkommen, dann würde es keine Aufregung darüber geben.
Das einzig Problematische an diesem Gedicht sind, im Jahre 2017, die Frauen. Besser gesagt, das Bild, die Vorstellung über die Frauen. Diejenigen, die das Gedicht so interpretieren, legen ja jene Bedeutung in das Wort "Frau" hinein. Diese Interpretation liegt nicht in den Händen Gomringers, zuständig ist ganz allein der Betrachter, der Hörer, der Rezipient.
Nun ist auf die Bühne der Rezipienten der AStA getreten. Der AStA hat eine eindeutige Wertung der Frau abgegeben. Die Studentinnen der AStA sehen in den Frauen des Gedichtes die Opferrolle der Frauen durch "objektivierende und potentiell übergriffige und sexualisierende Blicke" an männlich dominierten Orten. Sie wollen nicht bewundert werden, da sie - die Bewunderung - "häufig unangenehm ist, die zu Angst vor Übergriffen und das konkrete Erleben solcher führt". In den Augen der Studentinnen ist die Frau nur das zu betrachtende Sexualobjekt. Mehr können die Studentinnen in das Wort nicht hinein interpretieren.
Wer dem Gedicht zu seiner Entstehungszeit beispielsweise in Berlin oder Dresden begegnet wäre, würde ganz andere Bilder angesichts der zerbombten Straßen assoziieren. Straßen waren durch die Trümmerfrauen frei geräumt vom Schutt der zerstörten Häuser. Die Bäume der Alleen, soweit sie sich erholen konnten, trugen Grün. Frauen pflanzten Blumen als Zeichen neuer Lebensfreude. Willkürlich nimmt man die Stelle des Bewunderers ein, ist angetan von dem Lebenswillen der Frauen nach der dunklen Phase der Zerstörung.
Der AStA kann in der Frau nicht die Planerin, die Arbeiterin, die Gärtnerin sehen, deren Arbeit auch bewundert werden könnte wie die der Männer. Im Grunde ist deren Interpretation frauenverachtend, nicht das Gedicht selbst. Erst mit dieser einseitigen Interpretation wird deutlich, woran es einigen Feministinnen mangelt: an einem positiven Frauenbild.
Darüber sollte nachgedacht werden. Das macht das Gedicht heute so wertvoll und so mächtig. Gerade im Kontext der AStA Interpretation wird gezeigt, dass Gedichte wie alle andere Kunst selektiv wahrgenommen werden, dass es im Auge des Betrachters, im Ohr des Hörers liegt, welche Bedeutung er den Bildern, den Worten beigibt. Und die Interpretation sagt mehr über den Interpretierenden aus als über den Dichter. Ein Gedicht, das eine Diskussion über das Frauenbild anregt, ist es wert, gelesen und besprochen zu werden. Und es ist würdig genug, die Fassade einer Hochschule für Bildung zu schmücken.
Zum Schluss noch ein Gegengedicht:
Straßen
Straßen und Laternen
Laternen
Laternen und Frauen
Straßen
Straßen und Frauen
Straßen und Laternen und Frauen,
die nicht bewundert werden wollen