Wie Universitäten heute funktionieren

Geschichte der Naturwissenschaften in München vor dem Ende?

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Bestimmte Probleme des deutschen Hochschulsystems – nämlich die überbordende Bürokratisierung mit enormen Antragspapierausstoß, der dabei letztlich doch höchstens den CO2-Ausstoß befördert – lassen sich sehr schön anhand der folgenden Geschichte illustrieren.

Die LMU-München besaß seit den frühen Sechziger Jahren ein Institut für die Geschichte der Naturwissenschaften. Dies mag kein Massenfach sein, dafür immerhin ein geisteswissenschaftliches Fach, in dem mehr getan wird als altbekannte Fakten unter Beimengung sinnentleerter Schlagwörter („gender studies“, „post-colonial studies“, „poststrukturalistisch“, „semiotisch“) gelegentlich neu aufzukochen.

So erstellte der Lehrstuhlinhaber Folkerts in langjähriger, mühsamer Arbeit ein Archiv von Mikrofilmen aller mittelalterlichen, lateinischen Handschriften mathematischen Inhalts. Mit faszinierenden Ergebnissen: Von einem Werk des islamischen Mathematikers al-Khwarizmi (von dessen Namen sich das Wort „Algorithmus“ ableitet) war nur eine lateinische Handschrift bekannt. Dieses Buch, verloren im arabischen Original, stand nur in dieser einen, schlampigen und unvollständigen Kopie zur Verfügung, die zu den größten Schätzen Cambridges gehört. Aufgrund seiner systematischen Sammlertätigkeit konnte Folkerts eine vollständige und gute Handschrift an einem höchst unwahrscheinlichen Ort auffinden: der Bibliothek der Hispanic Society of America. Handelt es sich dabei lediglich um ein Kuriosum? Nein – dieses Werk von al-Khwarizmi war zentral für die Verbreitung des dezimalen Stellenwertssystems und der Null in Orient wie Okzident. Nicht weniger erfolgreich war das Institut in der Lehre: Die ehemaligen Assistenten Folkerts besetzen heute ausnahmslos Professuren.

Ludwig-Maximilians-Universität. Bild: Wolfgang Zeidler

Gleichwohl wurde aus Spargründen zunächst einmal das Institut gestrichen, in einen Lehrstuhl umgewandelt und von der Mathematischen an die Philosophische Fakultät für Geschichtswissenschaften transferiert. Als dann anno 2004 eine Liste streichbarer Professuren erarbeitet werden sollte, landete auf dieser Liste der Lehrstuhl für Geschichte der Naturwissenschaften. Das verwundert nicht weiter: Gegen Streichaktionen hilft nur das Sankt-Florians-Prinzip, und wenn ein Fach nur mit einer Person vertreten ist, ist das Opfer schnell gefunden. Gemäß diesem Prinzip sah das LMU-Streichkonzept vor, vorrangig die kleinen, einmaligen Fächer zu schließen, während die Massenfächer in unveränderter Ausstattung weiterlaufen sollten.

Das bayerische Wissenschaftsministerium setzte eine internationale Expertenkommission („Mittelstraß-Kommission“) ein, um die Vorschläge der Universitäten zu prüfen, und diese Kommission bemerkte dazu im Abschlussbericht (S. 40f.):

Die LMU gehört zu den leistungsstärksten deutschen Universitäten, was sich unter anderem an der großen Zahl von Sonderforschungsbereichen ablesen läßt. Auffallend ist dabei, daß in Form eines Strukturkonzepts überwiegend die Einstellung von Studiengängen kleinerer Fächer vorgeschlagen wird, die bisher, zumindest im geisteswissenschaftlichen Fächerspektrum, einen Teil des Profils der LMU ausmachten. Dem sollte in der vorgeschlagenen Form nicht gefolgt werden. […] Die Kommission sieht zwar, wie die LMU im Begründungszusammenhang, in allen Fällen das Problem geringer studentischer Nachfrage gegeben, weist aber zugleich darauf hin, daß die Lösung von Strukturproblemen nicht allein zu Lasten kleiner Fächer, zumal wenn einige dieser Fächer einen Teil der Profilbildung der Geisteswissenschaften ausmachen, gehen sollte.

Speziell zur Geschichte der Naturwissenschaften wurde (in erstaunlicher Ausführlichkeit) folgendes bemerkt (S. 58):

Auch die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, die Wissenschaftsgeschichte allgemein, die Universitätsgeschichte, die Medizingeschichte, ferner die Wissenschaftstheorie werden von der LMU als Rückzugsgebiete definiert. Würde dem gefolgt, wären die Möglichkeiten, an deutschen Universitäten Wissenschaftsgeschichte zu betreiben, erheblich eingeschränkt. Das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin würde, nachdem schon in der Vergangenheit an mehreren deutschen Universitäten das Fach Wissenschaftsgeschichte zugunsten anderer Fächer aufgegeben wurde, fast zum einzigen institutionellen Ort für entsprechende Forschungs- und Lehraktivitäten. Dies ist, zumal es sich bei der Wissenschaftsgeschichte um ein unter interdisziplinären Gesichtspunkten wichtiges Verbindungsfach handelt und das Fächerspektrum der Geistes-, Natur- und Technikwissenschaften gute Voraussetzungen für eine produktive Zusammenarbeit bietet, schwer zu rechtfertigen. Die Kommission empfiehlt daher der LMU, diese Pläne nicht weiter zu verfolgen. Allerdings sollte die gegebene institutionelle Zersplitterung aufgehoben und, gegebenenfalls durch eine Vitalisierung des „Münchner Zentrums für Wissenschafts- und Technikgeschichte“ (als bisherige gemeinsame Einrichtung von LMU, TUM, Universität der Bundeswehr und Deutschem Museum) ein Zentrum für Wissenschaftsgeschichte eingerichtet werden, in dem die bestehenden fachlichen Spezialisierungen im Bereich der Wissenschaftsgeschichte zusammengeführt werden, womit zugleich ein profilbildender Schwerpunkt, deutschlandweit im Universitätssystem einzigartig, entstünde.

Wer würde schon gern der Expertenkommission und dem Wissenschaftsministerium widersprechen? So hielt denn auch die Universität „diesen Vorschlag der Expertenkommission für einen positiven Ansatz“. Auf Grundlage dieser Empfehlungen des Mittelstraß-Abschlussberichts schloss das bayerische Wissenschaftsministerium so genannte Zielvereinbarungen mit der LMU. Diese Zielvereinbarungen stellen einen Vertag zwischen Ministerium und Universität dar: "Ihr müsst das und das erledigen, dann gibt es Mittel, andernfalls Mittelentzug."

Hier findet sich (S. 8):

Die von der Expertenkommission nicht befürwortete Aufhebung der Studiengänge Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik (Magister Haupt- und Nebenfach), Wissenschafts- und Universitätsgeschichte (Magister Haupt- und Nebenfach) sowie Medizingeschichte (Magister Nebenfach) ist bis zum Vorliegen des von der Universität angekündigten Konzepts zurückgestellt. Die Universität wird in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität München und dem Deutschen Museum ein Konzept für das von der Expertenkommission empfohlene Zentrum für Wissenschaftsgeschichte erarbeiten; erst dann kann entschieden werden, welche Studiengänge im Rahmen des Zentrums sinnvollerweise angeboten werden. Das Konzept soll bis Mitte des Jahres 2007 vorliegen.

Das Konzept (das eine W3-Professur an der LMU vorsieht) wurde in der ersten Hälfte des Jahres 2007 erstellt und im Mai 2007 vom Fachbereichsrat der Hochschulleitung übergeben. Das Ministerium erhielt laut Auskunft der Pressestelle das Konzept bis zum heutigen Tag (mehr als ein Jahr nach dem „soll-vorliegen“-Termin!) nicht.

Die Zielvereinbarungen (S. 23) legen auch eine Berichterstattung und eine Erfolgskontrolle fest:

Die LMU berichtet zum 01.12.2007 über den Stand der Umsetzung der Zielvereinbarung. […] Die Nichterreichung vereinbarter Ziele führt zu Konsequenzen, es sei denn, die Universität kann nachweisen, dass sie notwendige und geeignete Handlungen zur Zielerreichung vorgenommen hat, das vereinbarte Ziel aber gleichwohl aus Gründen verfehlt wurde, die sie nicht zu vertreten hat. […] Als Konsequenzen kommen insbesondere die (teilweise) Rückforderung der in den Zielvereinbarungen zugewiesenen Ressourcen, die Sperre von Haushaltsansätzen oder die Umsetzung von Haushaltsstellen und -mitteln der Universitäten in Betracht. Ferner können auch gewährte bzw. in Aussicht gestellte monetäre oder nicht monetäre Anreize wieder entzogen oder versagt werden.

Es wäre interessant zu sehen, wie sich die LMU in diesem Bericht zum 1.12.2007 zur Umsetzung der Zielvereinbarung hinsichtlich des Zentrums für Wissenschaftsgeschichte äußerte. Laut Pressestelle des Wissenschaftsministeriums ist der Bericht nicht-öffentlich. Die Pressestelle der LMU hatte auf Nachfrage noch nie etwas von der Angelegenheit gehört, und der versprochene Rückruf ist bislang nicht erfolgt.

Ob die LMU mit den angedrohten Konsequenzen hinsichtlich der Mittelzuweisungen rechnen muss? Angst scheint sie davor keine zu haben, denn am 9. Juli 2008 informierte die Hochschulleitung den Fachbereich, dass die einzige Professur für Geschichte der Naturwissenschaften samt Ausstattung (d.h. Sekretärin, Assistent, Hilfskräfte) eingezogen wird. Der gegenwärtige Lehrstuhlinhaber wird zum Ende dieses Semesters pensioniert; die Sekretärin wurde schon informiert, dass sie ab September woanders arbeiten werde. Der Studiengang als solcher bleibt vorerst bestehen – nur dass es keinen bezahlten Mitarbeiter mehr gibt, der ihn gewährleisten würde.

Ab September ist also das Fach faktisch inexistent. Es ist klar, dass sich auf diese Weise keine neuen Studenten für das Fach finden werden (und wenn, müssten sie feststellen, dass niemand da ist, der ihnen die Bibliothek morgens aufschließt). Die Kontinuität ist damit gebrochen, und ob es zur Neuerrichtung eines Lehrstuhls kommt, mehr als fraglich.

Wir halten fest:

  1. Zwar fanden die Mittelstraß-Empfehlungen Eingang in die Zielvereinbarungen und wurden von der Universität als „positiver Ansatz“ gelobt.
  2. Gleichwohl wurde von der Hochschulleitung das Zentrumskonzept, das die Fachgremien passiert hatte, nicht weitergeleitet.
  3. Seit mehr als einem Jahr ist die Abgabe des Konzepts überfällig.
  4. Der Bericht zum 1.12.2007 wird vom Ministerium unter Verschluss gehalten.
  5. Gegen die Intentionen der Kommission werden nun Fakten geschaffen, indem die Professur samt Ausstattung eingezogen wird, ehe ein Zentrumskonzept vorliegt.

Hätte man sich die Zielvereinbarungen nicht einfach sparen können, wenn Berichte selbst nach mehr als einem Jahr nicht abgegeben werden? Was bringen angedrohten Konsequenzen, wenn solche anscheinend nicht erfolgen und der Fortschrittsbericht der LMU nicht öffentlich gemacht wird?

Wird die Geschichte der Naturwissenschaften jetzt durch die Hauruck-Aktion der Hochschulleitung abgewickelt, dann war wohl die Arbeit der vielgepriesenen Mittelstraß-Kommission zumindest in diesem Punkt für die Katz.