Wie Wissenschaft Politik macht

Nicht gewählt, aber potenziell mit politischem Einfluss: angehende Akademiker. Bild: pexels.com

Wir hören zu Recht auf akademische Experten. Ihr Wissen kann helfen, unsere Gesellschaft voranzubringen. Wie zugleich eine fragwürdige Expertokratie entsteht.

In der modernen westlichen Gesellschaft genießen die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, eine hohe Reputation. Der Ruf der Forschung ist, trotz einiger kritischer Debatten über die Rolle von Wissenschaftlern in der Pandemie, noch immer erstklassig, ihnen vertraut man, auf sie hört man, ihre Expertise ist anerkannt.

Der Grund dafür ist einfach: Seit ein paar Jahrhunderten sind es die Leute aus der Physik und der Chemie, aus der Biologie und der Astronomie, die uns mit erstaunlichen Erkenntnissen und erbaulichen Einsichten über die Naturkräfte und die Geschehnisse im Kleinsten und im Größten versorgen. Und wir sind auch sicher, dass unser Wohlstand, all unsere technischen Bequemlichkeiten und unsere grandiose Gesundheit auf diesen Forschungen beruhen.

Deshalb lauschen wir auch besonders andächtig der Biologin, dem Klimaforscher, der Physikerin oder dem Virologen, wenn es um die großen krisenhaften Herausforderungen in der Gegenwart geht. Und das gilt selbstverständlich nicht nur für die besorgten Bürger vor den Fernsehern und Websites der Medien, sondern auch für die Leute aus der Politik.

Es entsteht ein Dreieck aus Wissenschaft, Politik und Bevölkerung, welches man sich genauer ansehen muss, um zu verstehen, wie Wissenschaft Politik macht und sich eine verdeckte Expertokratie entwickeln kann, ohne dass Wissenschaftler tatsächlich Machtpositionen besetzen.

Das herkömmliche Spannungsfeld in der modernen Demokratie besteht zwischen Bevölkerung und Politik. Politiker wollen regieren und politisch gestalten, sie wollen die gesellschaftlichen Entwicklungen nach ihren politischen, ökonomischen, moralischen und sozialen Vorstellungen und Idealen gestalten und verändern.

Um das machen zu können, müssen sie gewählt und wiedergewählt werden. Für die Wahl ist es notwendig, dass die Vorstellungen der Politiker von einer guten Gesellschaft ungefähr mit denen der Bevölkerung zusammenpassen, genauer gesagt, es werden die Politiker gewählt, deren Zielvorstellungen mit den Wünschen eines ausreichenden Bevölkerungsanteils zusammenpassen.

Für die Wiederwahl ist es notwendig, dass man Erfolge vorweisen kann und dass die Wählenden wenigstens zum Teil den Eindruck haben, die Regierenden hätten in den zurückliegenden Jahren das Richtige, Notwendige und Mögliche getan, um die gewünschten Ziele zu erreichen.

Woran aber kann man das erkennen? Wie kann man, insbesondere in Krisenzeiten und bei großen, komplexen und unwägbaren Herausforderungen das Richtige und Notwendige überhaupt bestimmen und den Eindruck erwecken, das Mögliche nach bestem Wissen und Gewissen getan zu haben – auch dann, wenn das Ergebnis nicht optimal ist?

Hier kommen die Wissenschaften ins Spiel, die auf zwei Frequenzen gleichzeitig senden können: Zum einen erklären sie den Leuten die Welt, sowohl der Bevölkerung als auch denen in der Politik. Sie machen uns überhaupt erst auf Gefahren aufmerksam, sie zeigen uns Probleme auf.

Wir sind überzeugt: Sie haben die Sache verstanden, sie wissen Bescheid über die Ursachen und die Auswirkungen. In der Bevölkerung entsteht daraus ein Handlungsdruck auf die Politik: Hört auf die Wissenschaft, die sieht ein Problem, die versteht, was da vorgeht, und die weiß, was getan werden muss.

Für die Politik ist das verlockend. Sie weiß, welch hohes Ansehen die Wissenschaft genießt. Man muss nur das Radio oder den Fernseher anschalten, man schaut auf die großen Nachrichtenportale und man sieht und hört überall Experten, die die Probleme der Welt erklären und sogleich wissen, was getan werden muss.

Wissenschaft ist nicht nur in der Pandemie gefragt

Auf die Wissenschaft zu hören, ist da eine gute Strategie. Deshalb sendet die Wissenschaft auch auf der politischen Frequenz: In wissenschaftlichen Expertenkommissionen und Beratergremien werden Vorschläge für Maßnahmen erarbeitet, die die Politik umsetzen sollte, um die Probleme zu lösen.

Das gilt nicht nur für die großen Krisen wie Pandemie und Klimawandel, auch für die Schwächen der Schüler in Mathematik und Deutsch, für die Ausbildungsplatzmisere und anderes.

In den großen Krisenfällen ist es am besten, wenn sich die Wissenschaft in einigen wenigen Fachleuten personifiziert. Diese werden dann zugleich zu den wichtigsten Beratern der Politik wie auch zu beliebten Gästen in Talkshows und Podcasts, in denen sie der Bevölkerung erklären, was erklärt werden muss.

Die Entscheider in der Regierung können dann sagen, dass sie genau auf die Experten hören, die in der Bevölkerung das höchste Ansehen genießen. Selbst, wenn die Sache dann nicht so läuft, wie angenommen, hat man das Richtige getan, nämlich das, was die Wissenschaft für richtig gehalten hat.

Dass das Resultat gelegentlich nicht den Erwartungen entspricht, kann viele Ursachen haben, vor allem liegt es natürlich daran, dass man Rücksicht nehmen musste auf jene, die einfach nicht auf die Wissenschaft hören wollten.

Durch die zweifache Ansprache von Politik und Bevölkerung durch die Wissenschaft kommt es, dass Wissenschaft selbst zur politischen Kraft wird: Sie bestimmt wesentlich mit, was politisch auf den Weg gebracht wird, sie definiert Maßnahmen und Ziele der Politik. Zugleich wird sie zum Richter über die Leistungen der Politik, denn sie kann, wenn Politik scheitert, immer darauf verweisen, dass nicht ausreichend auf ihre Ratschläge gehört wurde.

Man kann einwenden, dass das doch gar kein Übel sein muss, dass doch im Gegenteil die Vorschläge der Wissenschaft wohl wirklich das beste und fundierteste ist, was Politik umsetzen könnte. Zudem, so kann man sagen, ist es doch auch für den sozialen Frieden gut, wenn das getan wird, was die Wissenschaften vorschlagen, wo diese Leute doch das höchste Ansehen genießen.

Das Problem ist aber, dass wissenschaftliche Vorschläge niemals alles berücksichtigen, was für die politische Entscheidung wichtig wäre. Nicht nur, dass etwa Naturwissenschaftler aus ihrer mathematisch-technischen Perspektive oft ökonomische Rahmenbedingungen und soziologische Strukturen sowie Auswirkungen auf den sozialen Frieden unterschätzen, sie können aus ihrer wissenschaftlichen Sicht niemals sagen, ob wir so leben wollen, wie es ihre Vorschläge erfordern würden.

Ob Einschnitte in die Freiheit und ob Ungerechtigkeiten oder moralischen Konsequenzen der wissenschaftlich begründeten Maßnahme hinnehmbar und akzeptabel sind – diese Frage können sie uns nicht beantworten.

Wenn aber Politik sich einfach daraus begründet, dass sie alternativlos auf die Wissenschaft hört, und wenn die Bevölkerung das akzeptiert, dann ist es mit der Freiheit, der Moral und dem lebenswerten Leben schnell vorbei, dann wird die Gesellschaft inhuman.

Deshalb kann die Wissenschaft gerade in der krisenhaften postoptimistischen Gesellschaft zwar beratend und erklärend tätig werden, sie kann uns aber nicht sagen, was wir tun sollen. Das muss die Politik aushandeln und es muss sich ohne Berufung auf wissenschaftliche Zwänge in der Spannung zwischen Bevölkerung und Politik bewähren, und das muss auch die Wissenschaft akzeptieren.

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