Wie aus einem "gemeinsamen Haus Europa" eine Ruine wurde

Seite 2: "Die Veränderungen folgen einer bestimmten historischen Logik"

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Populäre linke Themen sind heutzutage Gendertheorie, Political Correctness und Multikulturalismus: Hat sich innerhalb der Linken eine Achsenverschiebung weg von sozialistischen Inhalten hin zu liberalistischen Gedanken und Vorstellungen ereignet?

Elmar Altvater: Teilweise mag das so sein. Aber gleichzeitig ist auch die gegenläufige Bewegung festzustellen: in Richtung der Suche nach einem Sozialismus des 21. Jahrhunderts, wie Hugo Chavez dieses Projekt genannt hat, das aber in vielen Varianten lebendig ist. Und zwar nicht nur in Lateinamerika, auch in anderen Weltregionen, auch in Europa. Vielen Menschen ist es klar, dass die Herausforderungen der Menschheit, dass vor allem die ökologische Zerstörung, der Klimawandel, die Bedrohung des Friedens hier in Europa, von den fast schon traditionell zu nennenden sozialen Fragen und Konflikten abgesehen, nur bewältigt werden können, wenn die kapitalistische Ordnung der Dinge gründlich verändert wird.

Man darf sich das nur nicht als Putsch von heute auf morgen vorstellen. Es handelt sich dabei um einen langwierigen Prozess der aktiven und demokratischen Politik-, Wirtschafts-, Gesellschafts- und Umweltveränderung, in dessen Verlauf sich auch unsere Kultur ändert. Dann wird sich herausstellen, dass die Veränderungen einer bestimmten historischen Logik folgen. Die Gesellschaft wird solar auf der Basis erneuerbarer Energien und solidarisch, also genossenschaftlich-dezentral. Wir brauchen auch zentrale Entscheidungen, wenn sonst können wir manche Probleme nicht lösen, aber diese müssen demokratisch organisiert werden.

"Wir haben die Chance, unser fossiles Energiesystem hinter uns zu lassen"

Sie haben soeben davon gesprochen, dass Veränderungen einer bestimmten Logik folgen. Können Sie das kurz erläutern?

Elmar Altvater:: Die Gesellschaft wird solar auf der Basis erneuerbarer Energien und solidarisch, also genossenschaftlich-dezentral. Dies in groben Zügen. Wenn darauf genauer eingegangen werden sollte, müssten wir uns mit der Entwicklung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses der Menschen in den letzten Jahrhunderten auseinander setzen. Wir müssten also fragen, wie wir seit etwa 300 Jahren darauf gekommen sind, nicht mehr - wie in Millionen Jahren zuvor - die Strahlenenergie der Sonne für unsere Zwecke zu nutzen, sondern die fossilen Bestände von Kohlenwasserstoff in der Erdkruste. Wir müssten auch danach fragen, warum wir nicht einfach so weitermachen können.

Alle wissen es: Kohle, Öl und Gas gehen zur Neige und die Emissionen bei der Verbrennung bescheren uns die Klimakatastrophe. Also geht es gar nicht anders, als zurück zu der solaren Flussenergie in die Zukunft orientieren. Nach dem kurzen fossilen Zeitalter, denn wir nutzen die in hunderten von Millionen Jahren aufgebauten fossilen Bestände in der Zeit eines erdgeschichtlichen Wimpernschlags, haben wir die Chance (und vor den nachfolgenden Generationen die Verpflichtung), unser fossiles Energiesystem hinter uns zu lassen und das solare Energiesystem zu gestalten. Niemand soll glauben, dass dies vor allem eine technische Aufgabe wäre. Es ist umfassende Gesellschaftsgestaltung, die über den Kapitalismus wie wir ihn kennen hinausweist.

Es werden dezentrale, genossenschaftlich organisierte Strukturen entstehen. Aber auch zentrale Entscheidungen sind notwendig, weil wir sonst manche Probleme nicht lösen können. Auch die Eigentumsfrage kommt auf die Tagesordnung. Wichtig ist dabei, dass der gesellschaftliche Transformationsprozess demokratisch organisiert wird.

"In einer Geldwirtschaft den Menschen das Geld zu nehmen ist ein Verbrechen"

Sie waren in der Zeit vor dem Referendum in Griechenland: Wie schätzen Sie die soziale und politische Entwicklung dort ein und wie kann sich diese auf die politische Lage in Deutschland auswirken?

Elmar Altvater: Wenn ich ehrlich bin, muss ich heute, am 12. Juli 2015 sagen: Ich weiß es nicht. Eines nur ist offensichtlich. Die soziale Lage in Griechenland wird katastrophal, wenn sie es nicht bereits ist. Die Institutionen des "gemeinsamen Hauses Europa" haben es geschafft, ein 10-Millionen-Volk regelrecht zu strangulieren. In einer Geldwirtschaft den Menschen das Geld zu nehmen und dies noch unnötigerweise, ist ein Verbrechen, für das die drei Troika-Institutionen zusammen mit den Regierungen der EU Verantwortung tragen - zumal sie die Finanzinstitute mit reichlich billigem Geld zu Schnäppchenzinsen versorgen, "monetary easing" genannt.

Frau Merkel, die Herren Schäuble, Schulz und Juncker und tutti quanti haben in kürzest möglicher Zeit das "gemeinsame Haus Europa" in eine Ruine verwandelt. Das wird sich auch in Deutschland und in den Ländern des von Rumsfeld einst das "neue Europa" genannten Ländern auswirken. Aber zu sagen, wie - das übersteigt meine prognostischen Fähigkeiten.

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