Wie blinder Menschenrechtsaktivismus den Kollaps von Nepal in Kauf nimmt
- Wie blinder Menschenrechtsaktivismus den Kollaps von Nepal in Kauf nimmt
- Arbeitsmigration: Die fehlenden Alternativen aus deutscher Sicht
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Grundlegende Probleme der Migrationspolitik: Welche Folgen ein Boykott der nächsten Fußball-WM in Katar hätte
Eine an und für sich überflüssige Erklärung zu Beginn: Der Artikel will die Zustände in Katar weder entschuldigen noch verharmlosen.
Katar hat in den letzten Jahren die Arbeitsbedingungen seiner Fremdarbeiter erheblich verbessert, mehr als zum Beispiel Saudi-Arabien; trotzdem sind sie nach wie vor weit von den Standards entfernt, die es mit seiner Unterschrift unter internationale Verträge einhalten müsste. Die Bezeichnung "Sklaverei" trifft auf manche Verhältnisse weiterhin zu.
Löhne sind deutlich unter der Schwelle, die Katar bezahlen müsste – und könnte. Diese Missstände – Gesetzesbrüche und damit eigentlich Verbrechen – müssen unbedingt weiter angezeigt werden; Katar muss weiter unter Druck gesetzt werden, Zusagen und ratifizierte Verträge einzuhalten.
Aus Sicht der Fremdarbeiter wäre jedoch ein Boykott der kommenden Fußball-WM das falsche Mittel, um solchen auf die Scheichs des al-Thani Clans ausüben. In der Regel lassen sich Regimes nicht durch solche Sanktionen beeinflussen. Für die Fremdarbeiter – denen er eigentlich dienen soll – hätte ein Boykott ausschließlich negative Folgen und das unmittelbar.
Aus der Opferperspektive – in wenigen Sätzen
Bei Fragen von Schuld und Bestrafung von Tätern, ob Individuen, Firmen oder Nationen, fallen selbst heute die Interessen der Opfer oft unter den Tisch. So in der Frage, ob und wie Katar wegen der Behandlung seiner Fremdarbeiter, in diesem Fall jener aus Nepal, gemaßregelt werden soll. Was Nepalesen von Boykottaufrufen gegen die WM in ihren "Gastland" halten, ist unbekannt. So wird es sehr wahrscheinlich selbst nach der Ehrung des nächsten Weltmeisters sein.
Problem, Argumentation und Folgerung in wenigen Sätzen: Aufgrund der Verhältnisse in Nepal hat sich Arbeitsmigration zur mit Abstand wichtigsten Stütze der Wirtschaft entwickelt. Praktisch jede Familie erhält von einem oder mehreren Mitgliedern Geld aus dem Ausland, oft ist es zum Überleben.
Die Verhältnisse in Katar sind schlecht, aber deutlich besser als in Indien (das althergebrachte Arbeitsziel der Nepalesen) und vor allem um ein Vielfaches besser als in Nepal.
Existieren könnte Nepal ohne Remittances, also Überweisungen der Gastarbeiter an ihre Familien in der Heimat, seit Jahrzehnten nicht mehr. Wer sich gegen Katar und sonstige Migrationsziele ausspricht, muss eine Alternative bieten. Die ist bis auf Weiteres nicht in Sicht. Ein Boykott brächte die Scheichs kaum in Bedrängnis, ein paar Milliarden weniger fallen nicht ins Gewicht. Dafür umso schneller und heftiger die Nepalesen und ihre Familien.
Das zeigte sich im März 2020 zu Beginn der Coronakrise als Katar viele seiner Fremdarbeiter heimschickte. Deren finanziellen Einbußen fing niemand auf. So traurig das ist, aber Arbeit in Katar ist trotz der noch immer verheerenden Bedingungen mit das Beste, was ein Nepalese bekommen kann. Entweder das oder das Nichts. Zum Wohle Katars ist zum Wohle Nepals; pro Katar heißt: pro Nepal.
Im Detail: Entwicklung der Arbeitsmigration in Nepal
Bis vor 30 Jahren war das Land ein reiner Agrarstaat, über 95 Prozent der Bevölkerung Bauern, zumeist auf Subsistenzniveau. Das war die einzige Möglichkeit des Überlebens, eine Form von Armut, wie sie es in Deutschland seit der Industriellen Revolution nicht mehr gibt.
Mit archaischen Methoden wird einer eigentlich völlig unrentablen Form von Landwirtschaft nachgegangen, dem Boden mit knapper Not die ausreichende Zahl von Kalorien entzogen. Dazu muss man sich nur die endlosen Hänge anschauen, auf denen im Jahr 2022 noch kein Traktor zu sehen ist, dafür aber Holzpflug und Zugochsen(!).
Obwohl praktisch die ganze Bevölkerung im Agrarsektor arbeitete, kippte Ende der 70er-Jahre die Bilanz – das Land wurde vom Nahrungsselbstversorger zum Importeur. Es reichte nicht, obwohl alle auf den Äckern schufteten. Andere Erwerbsquellen gab es nicht, daher kein Geld, die fehlenden Kalorien zu kaufen.
Stimmt, die Bevölkerung hat sich seit 1950 vervielfacht (es geschieht nicht mehr), die Ressource Land ist beschränkt. Bevölkerungswachstum jedoch ist per se nicht verwerflich, jedes Land hatte Phasen hohen Geburtenüberschusses, auch Deutschland (China wiederum muss heftigste Kritik für seine restriktive Geburtenkontrolle einstecken).
Die Bevölkerung der USA nahm in den letzten 20 Jahren um über 50 Millionen Einwohner zu – Afrikaner und Muslime werden dafür beleidigt. Kurzum, Nepal kann nicht pauschal das Anwachsen seiner Bevölkerung angekreidet werden.
Die bis heute fast einzige Möglichkeit, der (nun nicht mehr lebensbedrohlichen) Armut zu entkommen, ist Migration. Die ersten Arbeitsmigranten, zugegebenermaßen nicht ganz so arm, sondern eher Elite, waren Söldner, Gurkhas. Nicht im Dienst der Briten, die lernten sie erst im England-Nepal Krieg 1814 kennen und übernahmen sie sofort in ihre Armee.
Das blieb lange die einzige Form von Migration und sie gibt es bis heute. Die USA könnten ihre Kriege nicht führen ohne nepalesische Söldner in den outgesourcten privaten Sicherheitsdiensten.
Elite ist das heute noch. Deren Angestellte im Irak und (bis in jüngster Vergangenheit) Afghanistan verdienen mindestens das Fünffache ihrer Landesleute, die in Katar auf Baustellen in der sengenden Sonne schuften. Oft auch das Zehnfache und noch mehr.
Eine übersehene Form von Söldnertum ist, was die Sherpas am Mount Everest und anderen Bergen machen, zum Großteil für westliche Kunden. Und wie vor Jahren gemeldet wurde, ungefähr viermal so gefährlich wie als Söldner im Irak – bei weniger Lohn.
Die ersten Armutsmigranten wanderten vor ungefähr 100 Jahren aus, ausschließlich nach Indien. Verdient wurde dort praktisch nichts. Es saßen aber während wortwörtlich magerer Phasen weniger Esser am Tisch. Wenn es wieder mehr gab, kamen die zurück.
Die durften nur nicht in Indien verhungern. Ein bekannter Vertreter dieser Spezies war Tenzing Norgay, einer der beiden Erstbesteiger des Mt. Everest, sozusagen einer der ersten Armutsmigranten und ersten Bergsöldnern (diese Hinweise sollen das Ansehen von Tenzing Norgay nicht schmälern!).
1935 wurde er von den Briten im Bazaar von Darjeeling "entdeckt", wo er als Kuli arbeitete. Norgay war übrigens nicht gebürtiger Nepalese, sondern Tibeter. Das wurde zumindest offiziell erst Jahre nach seinem Tod bekannt.
Zum Bevölkerungszuwachs in Nepal verlief parallel eine andere Entwicklung: Länder wie Südkorea und Malaysia industrialisierten sich, arbeiteten sich aus der Armut und benötigten zusätzliche Arbeitskräfte wie Deutschland in den frühen 60ern. Die praktisch menschenleeren Scheichtümer (abgesehen vom Königreich Saudi-Arabien) auf der Arabischen Halbinsel stießen auf Öl und sagenhaften Reichtum. Die einen hatten Geld und keine Menschen. Die anderen hatten Menschen und kein Geld.
Im Detail: Nepal heute
Vielleicht wird eines Tages so viel Wasserkraft generiert, um theoretisch jedem Bürger ein Auskommen zu gewähren. In Bhutan ist das so in etwa wirklich der Fall. Es ist allerdings zweifelhaft, ob das Potenzial ausreicht. Sicher kann man dagegen voraussagen, dass, selbst wenn das Potenzial so groß wäre, es nicht der Mehrheit der Nepalesen zugutekäme. Das haben die letzten 30 Jahre leider zur Genüge bewiesen.
Zwischen 1950 und 1990 nahm es sich vorwiegend der Westen vor, Nepal zu entwickeln. Die Dokumentation dieses Unterfangens bietet bis auf wenige Ausnahmen deprimierende Lektüre. Es wäre unfair zu behaupten, der Westen hätte völlig versagt. Mehr als die prekären Verhältnisse zu stabilisieren wurde nicht erreicht. Von einer Perspektive für die Mehrheit keine Spur.
Das änderte sich mit der rapide steigenden Nachfrage nach billigen Arbeitskräften in ehemaligen Drittweltländern. Natürlich, das hätte der Westen mit seinen Methoden und Mitteln nie schaffen können. Andererseits: Das angeblich so fatalistische und träge Volk ergriff energisch die erste wahre Chance, dem endlosen Kreislauf entwürdigender Armut zu entrinnen.
Über acht Milliarden US-Dollar wurden allein 2018 nach Nepal überwiesen.
Schon diese offizielle Zahl ist märchenhaft. Die Rücküberweisungen der Fremdarbeiter sind mit Abstand die wichtigste Stütze von Wirtschaft, Gesellschaft, Staat und Nation, und das, obwohl die überwiegende Mehrheit für Löhne arbeitet, die international als ausbeuterisch gelten.
Nepal ohne die Remittances der letzten 30 Jahre ist eigentlich unvorstellbar. Die Menschen würden wohl wie in Afghanistan dahin vegetieren, vielleicht schlimmer. Womöglich hätte es eine Hungerflüchtlingswelle nach Süden gegeben, die Nepal von der Landkarte getilgt hätte.
Trotz des (im Vergleich bescheidenen) neuen Reichtums sind Arbeitsbedingungen und Löhne in Nepal (und Indien) weiterhin absolut katastrophal, mieser als in Katar&Co. und das Angebot nach wie vor nicht ansatzweise so hoch wie der Bedarf. Am (Menschen-)Handel mit Arbeitskräften verdienen sich "Man Power Agents" in Kathmandu und Terai goldene Nasen. Kinderarbeit ist Alltag, ebenso Sklaverei und Schuldknechtschaft im westlichen Terai.
Träger, die 80 kg und mehr auf dem Rücken durch die Berge schleppen, gibt es seit 20 Jahren tatsächlich nicht mehr, aber wer einmal ein Bambusgerüst an einem Hochhaus in Kathmandu gesehen hat, vergisst diesen Anblick nicht so schnell. Wer Zahlen zu Arbeitsunfällen in Nepal erfahren will, bekommt allerorts ein müdes Lächeln oder fragende Blicke – und wenn schon oder: Wen soll das interessieren?
Vernünftige Alternativen entwickeln sich langsam in Inland, doch das Rückgrat von Wirtschaft und Gesellschaft wird auf Jahrzehnte hinaus die Arbeitsmigration bleiben. Ein bedeutender Teil der jungen, arbeitsfähigen Bevölkerung muss zur Sicherung der persönlichen und familiären Existenz wenigstens zeitweise abwandern.