Wie der ARD-Faktenfinder Realität im Nachrichtentext bewertet
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Zweifel an Bericht über Nord-Stream als Faktum, Gegenposition als "Narrativ" im Konjunktiv II. Wie Journalisten ihre Interpretation als Realität darstellen. Und worauf wir achten sollten.
Pascal Siggelkow vom ARD-Faktenfinder hat jüngst erneut einen Beitrag veröffentlicht, über angebliche weitere Unstimmigkeiten im Bericht des US-Investigativjournalisten Seymour Hersh zu den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines. Der Autor Siggelkow vom NDR schreibt im ARD-Faktenfinder einerseits:
"(...) Bereits kurz nach der Veröffentlichung seines (Hershs, d.A.) Berichts hatten Experten darauf hingewiesen, dass es einige Ungereimtheiten an Hersh Version gibt (...)"
Kurz zuvor hatte derselbe Autor, Pascal Siggelkow, im selben Text Folgendes geschrieben:
"(...) Der russische Außenminister Sergej Lawrow nutzte den Bericht von Hersh, um das Narrativ zu verbreiten, der Westen würde Wissen bewusst zurückhalten, um die eigene Täterschaft zu vertuschen (...)"
Bemerkenswert, dass hier zweimal faktisch der falsche Verbmodus verwendet wird: In beiden Fällen ist der Konjunktiv I der einzig richtige Verbmodus, sofern es um Journalismus und hier insbesondere informationsbetonten Journalismus gehen soll. Das dürften wir als Nutzerinnen und Nutzer vom ARD-Faktenfinder erwarten können.
1.) Im Falle der von Siggelkow einbezogenen westlichen Experten muss es korrekt heißen: "Experten (hatten) darauf hingewiesen, dass es einige Ungereimtheiten an Hershs Version GEBE (...)" (Hervorhebung d.A.).
2.) Im Falle des vom ARD-Faktenfinder zitierten russischen Außenministers muss es richtig lauten: "(...) Der russische Außenminister Sergej Lawrow nutzte den Bericht von Hersh, um das Narrativ zu verbreiten, der Westen HALTE Wissen bewusst zurück, um die eigene Täterschaft zu vertuschen (...)" (Hervorhebung d.A.).
Inwiefern bedeutet die Verwendung des Konjunktivs I hier auch inhaltlich einen Unterschied, der das Ganze, nämlich den Inhalt, betrifft, und nicht nur eine sprachliche Nachlässigkeit hinsichtlich der Grammatik (siehe auch Bastian Sick: Der traurige Konjunktiv)?
Die Fallhöhe
Das Folgende konzentriert sich auf einen Aspekt, der besonders bei umstrittenen Themen mit einer immensen "Fallhöhe" wichtig ist. Wenn es also nicht zuletzt um Krieg und Frieden geht, hier um Anschläge mit beträchtlichen Auswirkungen.
Es handelt sich hierbei darum, wie durch die Verwendung von Verben, genauer: eines jeweils bestimmten Verbmodus, Wirklichkeit in gewisser Weise nicht nur interpretiert, sondern beeinflusst oder sogar geschaffen wird.
Vorab sei gesagt: Der Konjunktiv I hat es nicht leicht. Er scheint tendenziell auf dem Rückzug, weil er offenbar eine relativ anspruchsvolle Form des Sprachmodus ist. Mündlich oder umgangssprachlich wird er ohnehin selten verwendet.
Im Journalismus als einer besonderen medialen Kommunikationsgattung sollte dieser Konjunktiv I als ganz spezieller Verbmodus allerdings weiterhin seinen wichtigen Platz haben – vielleicht heute, in Zeiten von Krisen und Krieg, mehr denn je. Die Beispiele mögen zur Illustration einiger Probleme dienen, die mit dem Konjunktiv I bzw. seinem Wegfallen für professionellen Journalismus verbunden sind – oder wären.
Michael Haller, das Netzwerk Recherche und viele andere in Journalismus und Journalistik weisen immer wieder zurecht darauf hin, dass und warum es wichtig ist, Versionen als solche, also als Versionen, zu kennzeichnen.
Denn jede Aussage, die nicht trivial oder banal wäre, wird aus einer bestimmten Perspektive getroffen, ist mit gewissen Interessen verbunden. Diese Perspektivierung von Aussagen, deren Interessengebundenheit, sollte explizit deutlich gemacht werden. Warum?
Damit wir, die Nutzenden, damit das Publikum journalistischer Beiträge solche Aussagen bestmöglich eigenständig einordnen und damit dann auch kritisch-kompetent umgehen können.
Gesagtes wiedergeben
Der Konjunktiv I soll genau das leisten: Eine Version als die interessierte Rede einer bestimmten Person, Partei oder sonstigen Perspektive kenntlich machen. Und zwar so sachlich, so wenig wertend wie möglich. Natürlich liegt auch dieser Wiedergabe "Meinung" zugrunde, nämlich die Auffassung der Autorin oder der Redaktion, genau diese Person, Partei oder generell Perspektive überhaupt auszuwählen, selektiv mit exakt jenen Aussagen zur Veröffentlichung.
Aber darüber hinaus hat der Konjunktiv I die einzigartige Eigenschaft, so "neutral" wie möglich etwas von anderen Gesagtes wiederzugeben: Das Zitierte soll weder in den Rang einer unbestreitbaren Tatsache erhoben werden wie mit der Wirklichkeitsform des Indikativ ("es gibt Ungereimtheiten"), noch soll es abwertend mit dem Konjunktiv II kommentiert und die Aussage damit in den Bereich des Irrealen abgeschoben werden ("der Westen würde Wissen bewusst zurückhalten").
Das führt zu einer interessanten Pointe, auch inhaltlich, mit Blick auf eine etwaige "Haltung" des Beitragsautoren: Denn es fällt auf, dass hier der Verbmodus gerade und genauso falsch verwendet wird, dass die Aussagen der westlichen Experten schon per grammatikalischer Wirklichkeitsform faktisch in den Rang unbestreitbarer Tatsachen erhoben werden - während die Aussage von Lawrow bereits allein durch den (falschen) Verbmodus, hier durch den Konjunktiv II, ins Reich der Lügen und Legenden verbannt wird.