Wie der Haftbefehl gegen Putin dem Völkerstrafrecht schaden könnte

Seite 2: IStGH gegen Putin: Wegen Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie einen Völkerrechtler

Unmittelbar nach der Ankündigung des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin ist im Netz ein Kampf der Haltungen ausgebrochen. Keine Debatte, sondern ein wütendes Aneinanderabarbeiten. Dabei stehen sich nicht einmal Putin-Fans und Putin-Gegner gegenüber, das wäre einfach. Die Frontlinie verläuft diffuser, der Umgang ist komplizierter.

Im Zentrum der Kontroverse steht eine offensichtliche Beobachtung: Der IStGH, der nun mit Putin einen der Hauptwidersacher des Westens in Visier genommen hat, ist in seiner jüngsten Geschichte damit gescheitert, mutmaßliche Kriegsverbrechen im Verantwortungsbereich der aktuellen Ankläger zu ahnden. Wer das Völkerstrafrecht aber durchsetzen will, muss es unteilbar anwenden.

Wie schnell solche Argumente in einem kruden Meinungskampf untergehen, der schon nicht mehr als Diskussion bezeichnet werden kann, zeigt sich seit Ende vergangener Woche in sozialen Medien. "Whatsaboutism", schallt es zurück, wenn User auf den Widerspruch der IStGH-Bilanz hinwiesen. Da hilft es auch nicht, wenn man, wie der Volkswirt und ehemalige Bundestagsabgeordnete Fabio De Masi, die Anklage gegen Putin begrüßt.

Dabei muss gerade diese Debatte gegen alle Attacken jener geführt werden, die den Hinweis auf Missbrauch des Völkerstrafrechts als "russisches Narrativ" oder "Kreml-Propaganda" niederzubrüllen versuchen, weil ihnen am Ende alles recht und lieb sein wird, was dem vermeintlichen Kampf gegen die Moskau als "Macht des Bösen" (Dmytro Kuleba) dienlich ist.

Denn das Vorgehen des IStGH wirft viele Fragen auf. Und was den Kritikern Putins heute ein Gefühl der Genugtuung verschafft, könnte sich morgen schon rächen, weil es das Völkerstrafrecht und Weltrechtsprinzip einen nachhaltigen Schaden zufügt.

Dem IStGH-Chefankläger Karim Khan ist das offenbar klar. Als er im April und September vergangenen Jahres zu den Ermittlungen in der Ukraine sprach, bestand er beide Male fast wortgleich darauf, dass seine Arbeit und die des Gerichtes nicht politisch motiviert sei und keiner politischen Agenda folge. Eben das aber wurde von einigen Rednern, wenn auch in diplomatischer Höflichkeit, in Abrede gestellt.

Die inzwischen 43 Staaten, die Ermittlungen des IStGH in der Ukraine gefordert haben, gehören mehrheitlich der Nato an und sind an der Seite von Kiew mehr oder weniger am Krieg gegen die russischen Truppen im Land beteiligt. Von den 30 Nato-Staaten sind nur die Türkei und die USA außen vor; mit dabei dafür: Allianzanwärter Finnland und Schweden.

Es bedarf schon eines ausgeprägten ideologischen Tunnelblicks, um das Problem nicht zu sehen: Sollte auch nur der Eindruck entstehen, dass der IStGH hier – und das ist völlig unabhängig von der Berechtigung des Putin-Haftbefehls – zum Spielball globalpolitischer Machtverhältnisse geworden ist, dann wird der Schaden nachhaltig sein.

Selbst das Fachportal LTO, jedweder Putin-Propaganda unverdächtig, weist in einer ersten Einschätzung vorsichtig auf den großen Druck hin, unter dem IStGH-Chefankläger Khan vor einem Treffen mit den EU-Justizministern am heutigen Montag zu stehen schien. Die Haftbefehle gegen Putin und eine hohe Beamtin seines Apparats schließlich fast einen Monat alt. Die LTO mutmaßt:

Auf der Konferenz in London will Khan wohl um frisches Geld und Unterstützung für die Ermittlungen werben. Eine Ladung ausgefertigter Haftbefehle gegen prominente Personen der russischen Führung in der Tasche sind dann möglicherweise als Arbeitsnachweis ein Argument.

Vieles wird angesichts der polit-medialen Frontstellung im Westen derzeit ausgeblendet. Dazu gehört der wachsende Unmut in Ländern des Globalen Südens, also derjenigen Staaten, die sich wirtschaftlichen Sanktionen gegen das kriegsführende Russland und politischen Verurteilungen der Putin-Führung bislang verweigert haben und die – unabhängig von Abstimmungsergebnissen bei der UNO – die Mehrheit der Weltbevölkerung repräsentieren.

Bei der letzten Sitzung des UN-Sicherheitsrates, zu der IStGH-Chefankläger Khan eingeladen war, wurde das deutlich – und es ist bezeichnend für den hiesigen Diskurs, dass die dort und in vergleichbaren Foren geäußerten Vorbehalte kaum wahrgenommen werden. Daher hier einige Beispiele von dieser UN-Sicherheitsratssitzung am 22. September 2022:

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