Wie der Haftbefehl gegen Putin dem Völkerstrafrecht schaden könnte
Seite 4: Wo und wie der IStGH gedscheitert ist
Khan selbst entschied nach Übernahme des Amtes in Den Haag, die laufende Afghanistan-Voruntersuchung wegen Personalmangels auf die Verbrechen der Taliban und des "Islamischen Staat – Provinz Khorasan" (IS-K) zu konzentrieren.
Strafrechtliche Schritte gegen US-Streitkräfte, denen Folterung und Misshandlung von mindestens 61 Gefangenen, vorgeworfen wurde, waren damit aus dem Schneider. Ebenso wie CIA-Agenten, die seit 2014 mindestens 27 Gefangene in Afghanistan und in Geheimgefängnissen in Polen, Rumänien und Litauen gefoltert haben sollen. Und das nur die nachweisbaren Fälle einer geheimen Verschleppungs- und Folterstruktur.
Khans Vorgängerin Fatou Bensouda hatte Anfang März 2020 bereits die vorläufige Untersuchung wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen durch britische Soldaten im Irak eingestellt. Dabei ging es um Vorwürfe zu Folter, Mord und Misshandlung vor allem in dem Gefängnis von Abu Ghraib.
Sie gehe davon aus, dass die britische Justiz selbst willens und fähig sei, die Vergehen zu ahnden. In diesem Fall kann der IStGH Verfahren an die nationalen Rechtsbehörden abgeben. Menschenrechtsorganisationen liefen Sturm gegen die Entscheidung – und sollten recht behalten: Keiner der Vorwürfe ist bis heute aufgeklärt worden; die Täter straffrei, die Opfer vergessen.
Der ehemalige Professor für öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik und der Universität Hamburg, Norman Paech, schildert diese und weitere Fälle in einem Beitrag für den Verfassungsblog, um auf die Bilanz der ehemaligen Chefanklägerin Carla del Ponte zu verweisen:
Über den Umgang der großen Mächte mit der internationalen Justiz sollte man sich keine Illusionen machen. Die ehemalige Chefanklägerin in den beiden Sondertribunalen zu Ex-Jugoslawien und Ruanda, Carla del Ponte, hat sich in ihrem jüngsten Buch "Ich bin keine Heldin – Mein langer Kampf für Gerechtigkeit" (Frankfurt a.M. 2021) dazu deutlich geäußert. Als Chefanklägerin im Jugoslawien-Tribunal musste del Ponte sehr schnell die Grenzen ihrer Befugnisse erkennen.
Unter der Überschrift "In der Sackgasse: Ermittlungen gegen die Nato nicht möglich" (S. 65) schildert sie, dass sie eindeutigen Nachweisen von mehreren Kriegsverbrechen nicht nachgehen konnte: "Natürlich leitete ich Untersuchungen ein. Oder besser gesagt: Ich hatte es vor, denn ich wurde an den Ermittlungen gehindert. Als ich in Brüssel die Unterlagen anforderte, kooperierte die Nato nicht (…) Dann hieß es plötzlich, die Dokumente seien leider vernichtet worden. Eine offensichtliche Lüge: Die Nato archiviert alles, und für die Unterlagen gibt es auch bestimmte Aufbewahrungsfristen. Damit waren mir die Ermittlungen unmöglich gemacht." (S. 66, 67)
Desgleichen waren ihr im Ruanda-Tribunal die Hände gebunden, bei 13 Massakern der Tutsi, für die es starke Beweise gab, weiter zu ermitteln. In 93 Verfahren war es zuvor gelungen, 62 Hutu für ihre Verbrechen zu verurteilen. Als del Ponte nun auch die Verbrechen der Tutsi untersuchen wollte, standen dem höhere politische Interessen entgegen.
"Um es ganz deutlich auszudrücken: Wir konnten nicht gegen die Tutsi ermitteln, weil uns die von Tutsi dominierte Regierung mit ihrem Präsidenten Kagame, einem General der FPR zu ihren schlimmsten Zeiten, systematisch daran hinderte – aber vor allem, weil die USA und Großbritannien die Ruander in ihrer Verweigerung unterstützten" (S. 84, 85).
Wie muss also eine erste, ehrliche Zwischenbilanz ausfallen? Nach dem Haftbefehl gegen Putin herrscht Genugtuung unter seinen meist westlichen Kritikern. Im Globalen Süden sieht man die Sache kritischer; der Fall könnte geeignet sein, die Akzeptanz des IStGH auf Dauer zu beschädigen.
Dem Weltstrafgerichtshof bliebe dann nur die Möglichkeit, seine Arbeit einzustellen, oder seine Beschlüsse kraft der wirtschaftlichen und militärischen Macht einzelner Mitglieder selektiv umzusetzen.
Dass die an sich richtige Anklage gegen Putin aber Auftakt eines allgemeingültigen Völkerstrafrechts sein könne, wie einige Beobachter jetzt glauben, scheint eher einer verzweifelten Hoffnung geschuldet sein. Und Putin hinter Gittern oder auf der Anklagebank – dieses Szenario beschränkt sich auf Fotomontagen, die seit Ende vergangener Woche das Netz fluten, Symbolpolitik allerorts.
Ein Dilemma findet also in der polarisierten Debatte zu wenig Beachtung. Dieses Dilemma besteht darin, dass die Ermittlungen gegen Putin an sich richtig sind, weil sie zur Klärung möglicher Kriegsverbrechen beitragen könnten. Und es besteht darin, dass IStGH-Chefankläger Khan trotz allen Pathos und Beteuerungen, er handele nicht politisch, von Regional- und Weltmächten fernab der US-geführten Phalanx kaum Unterstützung erfährt.
Darauf hinzuweisen, ohne die Anklage gegen Putin abzutun, ist eine der vordringlichen Aufgaben eines unabhängigen Journalismus, der sich aus seinem Selbstverständnis heraus dem Lagerdenken verweigert.
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