Wie die Corona-Gesetze unsere Staatsordnung erschüttern
Der Jurist Franz Knieps über Nationalsozialisten, den Ausnahmezustand während der Seuche und verfassungsrechtliche Probleme der Pandemie-Politik
Während das Robert-Koch-Institut in der Corona-Pandemie fast täglich steigende Infektionszahlen bekanntgibt, plant Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ein Gesetz, das seinem Ressort im Fall einer "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" umfangreiche Eingriffe erlauben soll (Erosion der Demokratie: Bundesgesundheitsministerium will weiter mit Anordnungen regieren).
Nicht erst seit diesem Vorstoß läuft unter Juristen eine Debatte über die Beurteilung der Maßnahmen. Telepolis sprach über die verfassungsrechtliche und demokratietheoretische Kritik an der Corona-Politik von Bundesregierung und Robert-Koch-Institut mit dem Juristen Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbandes und von 2003 bis 2009 Abteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit.
Herr Knieps, unser Grundgesetz kennt keinen Ausnahmezustand im Fall einer Pandemie. Dennoch sind mit den Gesetzen "zum Schutz der Bevölkerung" am 27. März und 19. Mai zwei Regelwerke erlassen worden, die massive Eingriffe in die Bürger- und Freiheitsrechte erlauben. Wie passt das zusammen?
Franz Knieps: Das Grundgesetz kennt in der Tat keine Ausnahmeverfassung für den Fall einer Pandemie. Das ist kein Zufall, sondern das bewusste Ergebnis der Erfahrungen, die die Mütter und Väter unserer Verfassung mit der Weimarer Reichsverfassung und deren konkrete Handhabung durch den Anti-Demokraten Hindenburg als Steigbügelhalter von Hitler und den Nationalsozialisten gemacht hatten. Aber das Grundgesetz ist nicht blind gegenüber Ziel- und Interessenkonflikten der modernen Welt. Grundrechte gelten nicht absolut - mit Ausnahme der Menschenwürde. Sie können durch Gesetze eingeschränkt werden, dürfen aber - wie es das Bundesverfassungsgericht ausdrückt - in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden. Schließlich müssen konkurrierende Grundrechte und daraus abgeleitete Schutzpflichten des Staates gegeneinander abgewogen werden.
Was aber verändern die genannten Pandemie-Gesetze an der Gewaltenteilung?
Franz Knieps: Die in der Frühzeit der Pandemie verabschiedeten Gesetze "zum Schutz der Bevölkerung" verändern die Statik der Gewaltenteilung und des Systems der Checks and Balances in gleich zwei Formen. Zum einen hat sich das Parlament temporär seiner zentralen Funktionen beraubt als Entscheider aller wesentlichen Rechtsfragen - Juristen sprechen hier vom Vorbehalt des Gesetzes - und als Kontrollorgan der Regierung, die mit nahezu unbeschränkten Verordnungsermächtigungen ausgestattet worden ist. Zum anderen werden dem Bund Kompetenzen übertragen oder schlicht überlassen, die nach der Staatsorganisation in unserer Verfassung den Ländern zustehen.
In einem Aufsatz, den Sie gemeinsam mit fünf Ko-Autoren in der Zeitschrift "Medizinrecht" veröffentlicht haben, kritisieren Sie die Gesetze. War eine schnelle Reaktion auf Bundesebene angesichts des föderalen Chaos aber nicht notwendig?
Franz Knieps: Sicher ist der Wunsch nach einem gewissen Maß an bundesweiter Einheitlichkeit verständlich. Dem kann auch mit den Neuregelungen des Bundesinfektionsschutzgesetzes Rechnung getragen werden. Aber es bleibt bei der verfassungsrechtlichen Ausgangslage, die den Bundesländern die wesentlichen Kompetenzen bei der gesundheitlichen Risikovorsorge zuweist, wie übrigens auch für die Finanzierung der Krankenhausinvestitionen oder der Pflegeheime und die Ausstattung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Hier hat der Föderalismus schlicht versagt. Deshalb wäre etwas mehr Demut in den Staatskanzleien von Kiel bis München angebracht. Föderalismus schließt im Übrigen Koordination und Kooperation nicht aus.
In Ihrem Aufsatz stellen Sie fest, dass die Befugnisse des Bundesgesundheitsministerium weit über den Rahmen des bisherigen Infektionsschutzgesetzes hinausgehen. Inwiefern?
Franz Knieps: Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) wird ermächtigt, ohne Mitwirkung des Parlaments von Gesetzen, Verordnungen oder Regulierungen der Selbstverwaltung abzuweichen. Inhaltlich ist diese Ermächtigung kaum begrenzt. Diese Ermächtigung reicht soweit, dass das BMG selbst von dem ermächtigenden Gesetz abweichen kann. Eine Regelung, bei der sich Juristinnen und Juristen der Magen umdreht.
Das läuft Artikel 80 des Grundgesetzes zuwider, nach dem "Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden" müssen.
Artikel 80 GG ist zwar primär eine Formvorschrift. Sie soll aber deutlich machen, dass der Spielraum für Abweichungen vom Vorrang des Gesetzes streng begrenzt ist.
Inwieweit haben Gesetzgeber und Bundesregierung die Rücknahme von Maßnahmen geregelt, die etablierte Freiheitsrechte einschränken?
Franz Knieps: Die Rücknahme von Entscheidungen zur Beschränkung von Freiheitsrechten ist in doppelter Weise geregelt. So kann der Deutsche Bundestag die Feststellung einer pandemischen Lage von nationaler Tragweite jederzeit aufheben, was aktuell aber wohl nicht zu erwarten ist. Außerdem haben viele Einschränkungen von vornherein Verfallsdaten, meist zum Ende März nächsten Jahres. Sehr wichtig ist, dass Einschränkungen, die auf einer Verordnung oder einer Verwaltungsverfügung beruhen, durch jedes Gericht aufgehoben werden können. Da muss man nicht erst den Weg nach Karlsruhe antreten.
Findet Ihrer Meinung nach eine hinreichende und kontinuierliche Überprüfung der Maßnahmen mit dem Ziel der Rücknahme statt?
Franz Knieps: Es sind primär die Gerichte, die Überprüfungen erzwingen. Das Parlament ist - zumindest in seiner Mehrheit - eher passiv. Von kontinuierlicher Überprüfung würde ich hier nicht sprechen, zumal sich viele Politiker in der Rolle des Apokalyptikers oder wenigstens des Krisenmanagers gefallen. Die meisten Medien tun das ihre dazu.
Wie weit wirken die genannten Gesetze in die Zukunft, wenn jetzt schon die Zwangsanwendung von Tracking- und Tracing-Apps diskutiert wird?
Franz Knieps: Die Verschärfungen des Bundesinfektionsschutzgesetzes und die unbestimmten Verordnungsermächtigungen gelten auf eine unbestimmte Zeit weiter, solange der Deutsche Bundestag die oben angebende Feststellung nicht aufhebt. Folglich ist kein Ende absehbar, weder zeitlich noch inhaltlich. Die Phantasie der Krisenmanager scheint grenzenlos zu sein. Ob das auch für die Akzeptanz von Maßnahmen in der Bevölkerung gilt, darf bezweifelt werden. Wir erleben das gerade bei den völlig unsinnigen "Beherbergungsverboten" - ein Kandidat für das Unwort des Jahres. Und schließlich sind ja noch Gerichte da, die in den vergangenen Monaten Dutzende von Einschränkungen aufgehoben haben, weil sie von deren Eignung und/oder deren Verhältnismäßigkeit nicht überzeugt waren.
Sie zitieren den Rechtsphilosophen Carl Schmitt, der einmal sagte: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." Was sagt uns das über die gegenwärtige Pandemie-Demokratie?
Franz Knieps: Damit kein Zweifel entsteht, ich verachte Carl Schmitt und seinen Ausspruch. Ich kann nicht verstehen, wie man von einem solchen Handlanger des Totalitarismus fasziniert sein kann. Ich habe mit Genugtuung festgestellt, dass die deutsche Rechtswissenschaft sich fast ausnahmslos in der Pandemie dem Rekurs auf Schmitt verweigert hat. Im Gegenteil: Die Berliner Verfassungsrechtlerin Andrea Böhm hat in ihrer kürzlich veröffentlichten Habilitationsschrift klug und inspirierend dargelegt, dass wir keinen Ausnahmezustand brauchen, um Krisen wie die Pandemie zu bewältigen. Auch wenn es manchem Konservativen in der Seele wehtut, Carl Schmitt ist tot.
Franz Knieps ist Vorstand des Dachverbandes der Betriebskrankenkassen und ehemaliger Abteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit. Er ist Mitverfasser einer medizinisch-juristischen Kritik an der Corona-Politik von Bundesregierung und Robert-Koch-Institut, die in der Fachzeitschrift "Medizinrecht" erschien. Zum Weiterlesen: Schrappe, M., François-Kettner, H., Knieps, F. et al. Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 . MedR 38, 637-644 (2020)