Wie die EU den Rechtsstaat dehnt
Mit Blick auf Polen und Ungarn kritisiert die EU Einschränkungen der Justiz, doch im Fall der Ukraine fordert Brüssel entsprechende Eingriffe. Ein Kommentar
Was ist ein Rechtsstaat? Nach europäischer Tradition besteht er auf jeden Fall aus drei Elementen, allgemein Gewalten genannt: einer Legislative, dem Parlament; einer Exekutive, also der Regierung, und der Judikative, den Gerichten. Doch diese Drei müssen in einem komplizierten Verhältnis miteinander verbunden und voneinander abhängig sein.
Der Legislative gehört ohne Zweifel das oberste Podest. Ihr müssen Exekutive und Judikative auf jeden Fall gehorchen. Die Judikative hat jedoch darüber hinaus ein besonderes Organ, welches sich zur Kontrolle über und Entscheidung gegen die Legislative aufschwingen kann, die Verfassungsgerichtsbarkeit. Dieses Privileg verdankt die Judikative aber wiederum der Legislative, welche der Gerichtsbarkeit Fesseln anlegen kann. Also ein kompliziertes Geflecht.
Nur die Exekutive ist beiden Gewalten eindeutig untergeordnet, was sie nicht immer akzeptieren will und mit ihrer Mehrheit im Parlament auch wieder verändern kann. Das kompliziert das Konstrukt Rechtsstaat noch einmal mehr.
Seit einiger Zeit nun gibt es Streit in der EU über diesen Rechtsstaat, den sie bei allen Mitgliedstaaten als Eintrittsbedingung voraussetzt. Nicht, dass es Staaten ohne eine der drei Gewalten gäbe. Das Problem ist die ungeklärte Balance zwischen ihnen, beziehungsweise der Vorwurf, dass diese aus dem Lot geraten sei. Konkret geht es um die Rolle der Justiz, ihre Unabhängigkeit vor allem von der Exekutive.
Im Mitgliedstaat Polen, so lautet die Kritik der sogenannten Venedig-Kommission des Europarats, werde offen europäisches Recht missachtet und die Unabhängigkeit der Richter sowie anderer Teile der Justiz systematisch beseitigt. Die Regierung bediene sich dabei des Parlaments.1
Forderungen nach Sanktionen gegen Polen
Die EU-Kommission hat mehr als 30 Gesetze dokumentiert, mit denen ihrer Ansicht nach die polnische Regierung unter der nationalkonservativen Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit) seit Ende 2015 den Rechtsstaat abschaffen wolle. Im Obersten Gericht ist zum Beispiel eine außerordentliche Kontrollkammer geschaffen worden, die jedes Urteil rückwirkend aufheben kann. Und eine Disziplinarkammer kann jeden Richter disziplinieren oder entlassen – gleichsam ein selbstzerstörerisches Autoimmunsystem. Obendrein hat die Disziplinarkammer jüngst entschieden (23.09.2020), dass Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EUGH), des obersten Rechtsprechungsorgans der EU, für Polen nicht verbindlich seien.
Aus anderen Mitgliedstaaten der EU wurden schon seit langem Rufe nach Sanktionen laut, die jetzt mit der Verabschiedung des neuen Haushaltsgesetzes der EU unter Umgehung des Einstimmigkeitsgrundsatzes realisiert werden sollen.
Es geht in der Tat um die Unabhängigkeit der Justiz und die Befugnis der EU-Behörden, in die Angelegenheiten eines Staates einzugreifen. Außenminister Zbigniew Rau2 kontert die Sanktionsankündigungen mit dem Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip, nach dem alle Angelegenheiten, die national geregelt werden können, auch dort geregelt werden sollen. Die Sanktionen seien auch nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 EUV) und der Regel der Einstimmigkeit (Art. 7 EUV) vereinbar. Von dem Projekt der "Rechtsreform" will er nicht Abstand nehmen, da es der Souveränität Polens unterliege.
Auch in der Ukraine, noch vor den Toren der EU, aber als Aspirant unter scharfer Beobachtung, geht es um die Unabhängigkeit der Justiz, allerdings mit veränderten Rollen. Wird in Polen die Justiz gegen "Reformgesetze" der Regierung unterstützt, so werden in der Ukraine die "Reformbestrebungen" des 2019 an die Regierung gekommenen Präsidenten Wolodymyr Selensky ermuntert, die noch unter der Regierung Wiktor Janukowitsch formierte Justiz der neuen politischen Richtung anzupassen.
Hier aber steht das Verfassungsgericht in der Kritik, welches der neue Präsident per Gesetz auflösen will. Ihm und seiner Partei gefallen nicht, dass das Gericht einige Regeln zur Bekämpfung der Korruption aufgehoben hat. Darunter war zum Beispiel das obligatorische Vermögensregister für Staatsbedienstete, welches deren Vermögensverhältnisse offenlegte.
EU, IWF und USA mischen in der Ukraine mit
In seiner Entscheidung vom 27. Oktober 2020 über die Verfassungswidrigkeit einiger Bestimmungen des Gesetzes Nr. 1780-VII v. 14. Oktober 2014 "über Korruptionsprävention" hatte es die mangelnde Unabhängigkeit der Disziplinarorgane von der Regierung und die unzureichenden Verfahrensvorschriften gerügt, die das Recht der Richter auf eine faire, transparente und unabhängige Prüfung des Falles garantieren. Es hat auf der legislativen Ebene Beziehungen angemahnt, die unangemessene Druckmittel beseitigen würden.
Der Kampf gegen Korruption wird derzeit auf allen Ebenen geführt, mit dem Parlament, der Regierung und der Justiz, und die EU hat sich diesmal auf die Seite der Regierung geschlagen. Sie sieht ihr Ziel, die Ukraine weg von Russland in die EU zu ziehen, am besten mit der neuen Regierung Selensky erreichbar.
Oder, um es in den Worten der Stiftung Wissenschaft und Politik3 (SWP) auszudrücken:
Nur so können deutsche und europäische Akteure fundierte Entscheidungen darüber treffen, wie sich die Ukraine auf ihrem Weg zu rechtsstaatlichen Strukturen wirksamer als bisher unterstützen lässt.
SWP
Zu den Unterstützern zählen natürlich auch der Internationale Währungsfonds (IWF) und die US-Regierung, die sich nicht erst durch Zbigniew Brzezinski sagen lassen musste, dass die Ukraine der geostrategische Schlüssel zur Vorherrschaft gegen Russland auf dem eurasischen Kontinent ist.4
Auf dem Rule-of-Law-Index des World-Justice-Projekts rangiert Polen im Jahr 2019 bei der Bewertung der Rechtsstaatlichkeit von 126 Ländern auf Platz 27 – nicht schlecht, noch vor Italien (Platz 28), Griechenland (36) und Russland (88). Die Ukraine hingegen liegt auf Platz 77 von 126 Staaten und auf dem siebten Platz von 13 Staaten Osteuropas und Zentralasiens.
Aus der atlantischen Sicht des World-Justice.Projects ist das zweifellos verbesserbar und ein wirksamer Hebel, die Regierung unter Druck zu setzen (Polen) oder in ihren "Reformanstrengungen" zu ermuntern (Ukraine). Sieht man aber die Beschränkung und Kontrolle der Regierenden als ein wesentliches Merkmal des Rechtsstaats, könnte in Polen der Druck auf die Regierung wahrscheinlich nützen. Aber für die Ukraine? Hier verlangt die EU von der Regierung das, was sie in Polen kritisiert.
Die Venedig-Kommission hat zwar die totalitären Anwandlungen Selenskyis kritisiert, die EU unterstützt aber gleichzeitig die Ersetzung des Verfassungsgerichts mit seinen alten Richtern aus der Zeit Janukowitschs, es muss nur im gesetzlichen Rahmen bleiben. Denn Rechtsstaat ist nicht gleich Rechtsstaat, es kommt eben auf den politischen Blickwinkel und eine gewisse Flexibiliät an.