Wie eine Seuche
Digitale Videoüberwachung breitet sich aus
Der neue Trend im Bereich der Videoüberwachung sind komplett digitale Systeme, die eine Vielzahl von verschiedenen Anwendungen ermöglichen. Der Markt boomt sowohl in den USA wie in Europa.
Die Überwachung des öffentlichen Raumes mit Videokameras ist ein umstrittenes Thema. Nichtsdestoweniger boomt das Geschäft, die Angst ist immer wieder ein Garant für gute Umsätze. Weltweit wird diese Technologie immer öfter eingesetzt, das liegt auch an den fallenden Preisen und den zusätzlichen Möglichkeiten der digitalen Videoüberwachung. In den USA hat zudem der 11. September und die Furcht vor Terroristen der Branche enormen Auftrieb gegeben.
In Parkgaragen, vor potenziell gefährdeten Gebäuden wie Ministerien, Konsulaten, Polizeistationen oder Synagogen, aber auch in Shopping Malls, Einkaufspassagen und Kaufhäusern wird jeder unserer Schritte von den kleinen technischen Spionen beobachtet. Der Verkehr wird an der Bildschirmwand von Polizeibeamten überwacht und so mancher Angestellte von Sicherheitsfirmen verbringt seine Einsatzstunden vor allem damit, auf Monitore zu starren.
Der Verkauf von entsprechenden Videosystemen und dem dazu gehörenden Service erlebt in diesen Zeiten der Wirtschaftsflaute zweistellige Zuwachsraten. Einem Bericht des US-Marktforschungsinstitutes J. P. Freeman zufolge werden die Ausgaben für digitale Überwachungsprodukte bis Ende 2005 in den USA auf 8,5 Milliarden Dollar angestiegen sein. 2002 betrugen sie 5,7 Milliarden (vgl. The U.S. & Worldwide CCTV & Digital Video Surveillance Market Report - Die Studie kann gedruckt für $4 500 bestellt werden).
Dieses Big Business wollen sich die großen Konzerne natürlich nicht entgehen lassen. Panasonic, Sony und Sanyo sind ebenso dabei wie andere Kamera-Hersteller. Spezielle Anbieter für das Marktsegment sind seit mehr seit zehn Jahren CCS International und Pelco. Und die Computerindustrie fehlt auch nicht, allen voran IBM, das seit neuestem ein Packet aus Service und System-Design für digitale und Netzwerk basierte Videoüberwachung anbietet. Gegenüber der New York Times erklärte der Marketing-Vizepräsident von der Kommunikationssparte bei IBM, Michael Maas:
Konzerne müssen ihre Kosten reduzieren und effektiver werden. Die Digitalisierung von Sicherheit leistet genau das.
IBM bietet 3000 Berater an, die den Kunden helfen sollen, die neuen digitalen Überwachungssysteme in ihre existierende Informationsverarbeitung zu integrieren. Das ist nicht einfach, denn für die reale Sicherheit sind meist Wachdienste zuständig, die nicht darauf eingestellt sind, mit der neuen Technologie umzugehen. Und es ist auch fragwürdig, inwiefern sie in der schönen neuen Welt voller integrierter digitaler Überwachung noch gebraucht werden. Mosro-1, der erste Sicherheitsroboter und seine digitalen Sprösslinge werden wahrscheinlich ihre Funktionen weitgehend übernehmen.
Digitale Videoaufnahmen sind wesentlich einfacher in der Handhabung als die herkömmlichen analogen. Sie können platzsparend auf der Festplatte oder auf CDs gespeichert und sofort übermittelt werden, wenn ein Bild als Beweis gebraucht wird. Überwachung und Zugangskontrolle sind dann aus einem Guss, auch weitere Scans - wie etwa nach Waffen - sind als Teil des Systems denkbar. Noch steckt die Biometrie in den Kinderschuhen, aber auch sie könnte künftig ihren Beitrag leisten.
Verglichen damit sind analoge Videokameras mit ihren klassischen Recordern technische Dinosaurier. Der Preisverfall der digitalen Ausrüstung und ihr viel breiteres Anwendungsspektrum wird wohl dafür sorgen, dass sie bald ausgemustert werden.
In Großbritannien ist Big Brother längst an der Macht, nirgends gibt es mehr Kameras im öffentlichen Raum. National Car Parks, Betreiber von 580 Parkgaragen in Innenstädten und an Flughäfen hat seine digitalen Kameras vernetzt und überwacht sie zentral von London aus. Die Londoner haben in ihrer Innenstadt inzwischen zudem ein digitales Videoüberwachungssystem, welches das Mautsystem ergänzt und zusätzlich eine Gesichtserkennungs-Software verwendet (vgl. Terrorabwehr und Staureduktion).
Nicht nur in England ist die Sicherung von öffentlichen Plätzen und Gebäuden mit den digitalen Augen ein großes Geschäft. Die Unternehmensberatung Frost&Sullivan prognostiziert für den Markt von CCTV-Systeme (closed circuit television systems) eine internationale Wachstumsrate von 12,7 Prozent und einen Umsatz von 10,61 Milliarden Dollar im Jahr 2008. Für Europa sehen sie eine Wachstumsrate von 10,4 Prozent und für 2008 einen Umsatz von 3,82 Milliarden Dollar voraus.
Auch Frost&Sullivan setzen dabei auf eine voll digitale Zukunft:
Seitdem die Nachfrage größer und die Konkurrenz zahlreicher geworden ist, hat die Industrie immense technologische Fortschritte erzielen können. Mithilfe von Gesichtserkennung, digitaler Speicherung und intelligenter Software hat CCTV gegenüber anderen Sicherheitssystemen deutliche Vorteile aufzuweisen. Insbesondere der Umstieg von analogen auf digitale Systeme hat die Produkteigenschaften verbessert; so ermöglicht beispielsweise die Integration des Internets auf einfache Art die Überwachung aus der Distanz. Hersteller von Sicherheitslösungen bieten neuerdings Systeme mit mehreren Funktionen an: je nach Bedarf kann zwischen Zutritts-, Anwesenheitskontrolle und anderen Überwachungsmöglichkeiten gewählt werden.
In Österreich sind zurzeit 165 000 Kameras im Einsatz, 100 000 davon in öffentlichen Bereichen wie Sportstätten, Kaufhäusern, Gaststätten und Garagen, berichtete der Standard. In der Schweiz sollen mindestens 40'000 optische Spione in Sportstadien, auf Bahnhöfen und Ausfallstrassen, in Vorortszügen, vor Schulhäusern und an Abfallsammelstellen installiert sein. Die Neue Zürcher Zeitung zitierte den Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich, Bruno Baeriswyl, der meint, die Videoüberwachung verbreite sich in der Schweiz "wie eine Seuche".
Wie viele Kameras hierzulande im Einsatz sind, kann man nur ahnen. Auf jeden Fall boomt das Marktsegment auch hier. Nach den Daten der Unternehmensberatung Mario Fischer gab es im vergangene Jahr mehr als 10 Prozent Zuwachs für CCTV-Systeme in Deutschland (vgl. Videoüberwachung, CCTV. Jahr 2002/2003, Studie kann für 1450 Euro zzgl. MwSt. gedruckt bezogen werden). Der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) ist sehr engagiert, um diesen Bereich zum Nutzen seiner Mitglieder weiter auszubauen. Für das "massive Promoten von Videoüberwachung aus rein kommerziellen Gründen" kassierte er 2002 eine tadelnde Erwähnung beim Big Brother Award.
Im Sommer letzten Jahres soll es von der öffentlichen Hand nur 20 Überwachungsanlagen im öffentlichen Raum mit zusammen vielleicht 50 Kameras gegeben haben. Das scheint weit zu niedrig angesetzt zu sein, wenn man sich die Sammlung ansieht, die von DerGrosseBruder, einer Gruppe von kritischen Privatleuten im Internet, zusammen getragen wurde. Über ihr "Kartographierungsprojekte für Überwachungskameras im Öffentlichen Raum in Deutschland" sind sie auch mit Sammlern in anderen Teilen der Bundesrepublik verlinkt.
In Deutschland muss man private Geräte nicht anmelden, aber Läden müssen im Eingangsbereich davon aufmerksam machen, dass sie ihre Verkaufsräume mittels Video beobachten. Das Bundesdatenschutzgesetz regelt den gesetzlichen Rahmen:
Die Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mit optisch-elektronischen Einrichtungen (Videoüberwachung) ist nur zulässig, so weit sie zur Aufgabenerfüllung öffentlicher Stellen, zur Wahrnehmung des Hausrechts oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für konkret festgelegte Zwecke erforderlich ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen.
Noch gibt es in Deutschland bisher keine so breite kritische Öffentlichkeit zu dem Thema wie z.B. in den USA. Aber das könnte auch daran liegen, dass viele unterschätzen, wie viele Video-Augen uns überall aufzeichnen. Allerdings hat sich im vergangenen Jahr der Arbeitskreis Videoüberwachung und Bürgerrechte als Zusammenschluss von etwa 80 Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen, Künstlern, Berufstätigen aus Polizei, Justiz und Presse sowie Bürgerrechtler Berufstätige aus Polizei, Justiz und Presse, Bürgerrechtlern u.a. gebildet.
Sie wollen sich "hochgradig interdisziplinäre und vernetzt" mit dem Thema "Überwachung und Gesellschaft" auseinander setzen. Sie gehen davon aus, dass der Haupteffekt der Überwachung die Erzeugung von Misstrauen ist:
Videoüberwachung gilt als Wachstumsmarkt. ... So sehr die Videoüberwachung auf die Erzeugung sicherer oder auch Wiedergewinnung unsicherer Räume zielt und sich damit ihre Legitimation verschafft, sie erzeugt letztendlich eine Atmosphäre des Misstrauens, die sich räumlich durch die Asymmetrie von Sehen und Gesehenwerden ausdrückt und zeitlich durch die vollkommene Relativierung von Gegenwart durch die andauernde und lauernde Erwartung eines künftigen Ernstfalls beschreiben lässt.