"Wie können Sie es wagen, weiter wegzuschauen?"

Bild: World Meteorological Organization

Die Energie- und Klimawochenschau: Von deutlichen Worten, Deutschland auf der Anklagebank, gewaltigen Protesten und den Karrieresprüngen eines CDU-Politikers

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Der Kaiser ist nackt. So deutlich wie Greta Thunberg am Montag in New York hatte es noch keine den Staats- und Regierungschefs gesagt. Ihre Sprache ließ an Klarheit nichts vermissen, was in Diplomatenkreisen für gewöhnlich als ziemlich unhöflich gilt.

Doch Nettsein bringt offensichtlich nichts. Die eindringlichen, aber noch recht brav vorgetragenen Appelle von Severn Cullis-Suzuki, einer Vorgängerin Greta Thunbergs, wurden seinerzeit 1992 auf dem UN-Gipfel für Umwelt und Entwicklung zwar wohlwollend aufgenommen, aber zugleich zu den Akten gelegt. Die Industriestaaten begannen ihr Versprechen auf Beschränkung der Treibhausgasemissionen zu brechen, kaum dass sie es gegeben hatten.

WMO-Bericht

27 Jahre und unzählige Verhandlungsrunden später wird die Zeit knapp, wie zuletzt ebenfalls am Montag der Dachverband der nationalen Wetterdienste, die WMO (World Meteorological Organization) in einem Bericht an den UN-Generalsekretär deutlich gemacht hatte. Die vergangene Fünfjahresperiode war die wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, die globale Durchschnittstemperatur lag 0,2 Grad Celsius höher als in den vorhergehenden fünf Jahren.

Die atmosphärische Konzentration des Treibhausgases CO2 steigt in Rekordtempo, die dadurch hervorgerufene Versauerung der Ozeane nimmt weiter zu und der Anstieg der Meere beschleunigt sich. In den 1990er Jahren lag er noch bei knapp drei Millimeter pro Jahr, in den letzten 12 Jahren waren es eher fünf Millimeter jährlich. Das entspricht schon einem Anstieg von einem halben Meter pro Jahrhundert.

Besonders erschreckend: Der Trend scheint nicht linear, sondern eher quadratisch zu sein. Oder in anderen Worten, der Anstieg wird sich vermutlich auch in den nächsten Jahren weiter beschleunigen. Dabei haben alle Komponenten zugelegt, die zum Meeresspiegelanstieg beitragen: die wärmebedingte Ausdehnung des Meereswasser (thermal expansion), das Abschmelzen auf Grönland (Greenland), in der Antarktis (Antarctic), der Gebirgsgletscher (glaciers) und der Abfluss von den Kontinenten (land water). Untenstehende Grafik macht das anschaulich. Näheres dazu steht im neuen IPCC-Bericht, der heute veröffentlicht wurde.

MSL-Anstieg. Erläuterung siehe Text. Bild: WMO

Da wundert die unterdrückte Verzweiflung nicht, mit der Greta Thunberg der UN-Vollversammlung die Leviten las.

Menschen leiden. Menschen sterben. Ganze Ökosysteme kollabieren. Wir stehen am Anfang eines großen Artensterbens und sie reden nur über Geld und erzählen einander das Märchen vom unendlichen ökonomischen Wachstum. Wie können Sie es wagen! Seit mehr als 30 Jahren ist die Wissenschaft kristallklar. Wie können Sie es wagen, weiter wegzuschauen und hierher kommend zu sagen, dass Sie genug unternehmen, während doch die notwendigen Politiken und Lösungen nirgendwo in Sicht sind?

Greta Thunberg vor der UN-Vollversammlung

Wie keine andere trifft Thunberg damit das Lebensgefühl einer ganzen Generation. In ihrer unnachahmlichen Art sprach sie ganz wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern aus, was alle im Raum sahen, aber keine(r) zu sagen sich traute: Der Kaiser ist nackt. Die Regierungen der Industriestaaten haben durch ihre Untätigkeit die Zukunft der jungen Generation verraten.

Der Hass und Hohn, mit dem sie dafür aus dem Lager der Konservativen, Liberalen, extremen Rechten und einiger strukturkonservativer Linker übergossen wird, legen Zeugnis von den kilometertiefen Klüften ab, die sich in der Gesellschaft - beileibe nicht nur hierzulande - inzwischen auftun. Sie sind zudem Ausdruck einer wachsenden Gewaltbereitschaft in den rechten, frauenfeindlichen und rassistischen Milieus, angesichts derer man sich schon hin und wieder fragen muss, ob sich da Leute mental auf einen Bürgerkrieg vorbereiten.

Beschwerde gegen Deutschland

Ebenfalls am Montag hatte Thunberg gemeinsam mit 15 anderen Kindern Beschwerde bei der UN gegen fünf Länder wegen Verstößen gegen die Konvention zum Schutz der Rechte der Kinder eingelegt.

Die Beschwerdeführer kommen aus Argentinien, Brasilien, den USA, Frankreich, Deutschland, Schweden, Tunesien, Nigeria, Indien sowie den pazifischen Inselstaaten Palau und den Marschall-Inseln. Sie werfen Argentinien, Brasilien Deutschland, Frankreich und der Türkei vor, "trotz jahrzehntelangen Wissens (…) durch das fortgesetzte Verursachen der Klimakrise und die Unterminierung der internationalen Zusammenarbeit ihre Menschenrechtsverpflichtungen" verletzt zu haben.

Kurzfristige egoistische Interessen haben die notwendige internationale Zusammenarbeit für Maßnahmen angesichts des Klimawandels verhindert, obwohl sich die Staaten in der Klimarahmenkonvention von 1992 zu dieser Kooperation verpflichtet hatten. Jedes Land zähle. Die Staaten müssten nicht nur zusammenarbeiten, sondern auch die eigenen Emissionen vermindern.

Auf Twitter erklärt Greta Thunberg, wie die Liste der fünf Staaten, gegen die Beschwerde geführt wird, zustandekam. Immerhin könnte man ja fragen, wieso ist die USA als viele Jahrzehnte größter Verursacher nicht dabei? Oder China, das vor etwas mehr als zehn Jahren den USA den ersten Platz abgenommen hat?

Es sind, erläutert die junge Heldin der Fridays-For-Future-Bewegung, einfach jene fünf Staaten, die erstens die Konvention ratifiziert haben, zweitens auch ein Zusatzprotokoll von 2014 akzeptieren, das Kinder ein formales Beschwerderecht bei Verstößen gegen die Konvention einräumt, und die drittens unter den Staaten, die diese Bedingungen erfüllen, die größten Emittenten sind.

Sollte die Beschwerde Erfolg haben, wäre damit völkerrechtlich etabliert, dass der Klimawandel eine Verletzung der Kinderrechte darstellt. Außerdem wären die Staaten dann verpflichtet, zusammen mit der Staatengemeinschaft für Abhilfe zu sorgen. Es entstünde also juristischer Druck, die ziemlich unverbindliche Pariser Klimaübereinkunft von 2015 (Paris Agreement) erheblich zu verschärfen. Dass dies nur mit weiter fortgesetztem erheblichen politischen Druck von der Straße der Fall sein wird, dürfte den Beschwerdeführern dabei bewusst sein.

Ratschläge vom Richtigen

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne), noch vor zehn Jahren als Baumeister von Kohlekraftwerken unterwegs, meinte ausgerechnet in der Bild-Zeitung, Greta Thunberg altväterliche Ratschläge mit auf den Weg geben zu müssen. Unter anderem brüstete er sich damit, dass es im 20. Jahrhundert über 100 Millionen in den letzten 20 Jahren aber weniger als zwei Millionen Kriegstote gegeben habe.

Was er irgendwie zu erwähnen vergaß, ist, dass seine Partei vor ziemlich genau 20 Jahren noch ein bisschen dazu beitrug: Im März 1999 begann der Angriff auf Jugoslawien, der von den seinerzeit mit der SPD regierenden Grünen mit voller Überzeugung und unsäglichen Vergleichen mitgetragen wurde. Ansonsten hat Franz-Josef Degenhardt eigentlich schon 1968 alles Wesentlich zu Boris Palmers Krieg gesungen.

Weltweite Proteste

Die vergangene Woche stand ganz ohne Zweifel völlig im Zeichen des internationalen Aktions- und Streiktages, der wahrhaft historische Ausmaße annahm. Über vier Millionen sollen es weltweit in weit über 150 Ländern gewesen sein. Aus Großbritannien wird zum Beispiel von 230 Demonstrationen mit 300.000 bis 350.000 Teilnehmern berichtet. Eine internationale Liste gibt einen gewissen, aber unvollständigen Überblick (oder hier im Guardian). Außerdem hatten wir bereits am Freitag berichtet.

Vergleichbar war die Mobilisierung wahrscheinlich nur mit jenem internationalen Aktionstag am 15. Februar 2003, als rund um den Globus neun bis zwölf Millionen Menschen gegen den seinerzeit kurz bevorstehenden Angriff der USA und ihrer Verbündeten auf den Irak protestierten.

In Deutschland seien es 1,4 Millionen in 575 Orten gewesen, schreiben die Organisatoren in einer Bilanz. Man sei "für konsequente Klimapolitik und die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels" auf die Straße gegangen. Der Tag sei "ein klares Signal an die Politik: Ihr werdet eurer Verantwortung den zukünftigen Generationen gegenüber nicht gerecht!".

Selbst in der Antarktis protestierten an der dortigen deutschen Forschungsstation Wissenschaftler gegen die Untätigkeit der Regierungen. Die Aktionen gehen allerdings noch bis zum 27. September weiter. In Kabul gab es zum Beispiel am vergangenen Wochenende eine Demonstration - auch dort übrigens junge Frauen und Mädchen an der Spitze des Zuges. Auch in Tokyo, Nepal und in Bangladesh wurde erst am Wochenende demonstriert.

Diverse Blockaden

Auch sonst tut sich in der laufenden Protestwoche hierzulande und andernorts noch eine ganze Menge. In Köln wird es zum Beispiel noch bis Freitag ein Klimaprotestcamp geben, in diversen deutschen Städten gab es am vergangenen Wochenende Verkehrsblockaden und auch in Österreich wurde am Sonntag, dem hierzulande wenig beachteten autofreien Tag, eine Autobahn besetzt. Mit der Aktion sollte gegen den belastenden LKW-Transitverkehr durch die Alpen und dessen Ausweitung protestiert werden.

In Brunsbüttel wurde schließlich am Montag eine große Düngemittelfabrik blockiert. Der Protest richtete sich gegen den hohen Energieverbrauch der Kunstdüngerproduktion und die Emissionen von Lachgas, die mit unsachgemäßem und übermäßigem Einsatz des Kunstdüngers verbunden sind. Lachgas ist ein hocheffektives Treibhausgas. Die Alternative wären mehr natürliche Kreisläufe, zum Beispiel indem, wie noch vor einigen Jahrzehnten üblich, wieder die Tierhaltung mit dem Feldanbau gekoppelt wird.

Kritisiert wurde von den Aktivisten außerdem, dass ein in Brunsbüttel geplantes Terminal für Flüssiggas (LNG) unter anderem der Versorgung des Düngemittelherstellers dient. Das Gas würde vermutlich hauptsächlich aus den USA geliefert, wo es mittels Fracking gewonnen wird und die Umwelt im besonderen Maße belastet, da bei der Förderung das Treibhausgas Methan entweicht.

Außerdem muss auch der Verbrauch von Erdgas im übernächsten Jahrzehnt beendet sein, um die Klimaschutzziele der Pariser Übereinkunft zu erfüllen. Jetzt noch getätigte Investitionen in diesem Bereich werden eine erhebliche Hürde auf diesem Weg sein. Als Alternative würde sich eine deutliche Steigerung der regenerativen Stromerzeugung und in der Folge mit Strom synthetisiertes Gas anbieten.

Kleine Geschenke am Rande

Ansonsten wäre noch über vieles andere zu berichten, wie etwa über die Klimawissenschaftler, denen die US-Regierung versucht, den Mund zu verbieten, oder vor allem über einen neuen UN-Menschenrechtsbericht, der diese Woche in Genf veröffentlicht werden soll. Darin wird aufgezeigt, dass die Klimakrise die globale Apartheid verstärkt und vor allem die Ärmsten hart trifft, die nichts zur Entstehung des Problems beigetragen haben.

Und dann hatten wir ja noch versprochen, das Eckpunkte-Papier "Merkels Klimapäckchen" einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Das alles muss aber wohl noch etwas warten.

Hier nur ganz kurz der Hinweis, dass entgegen des Geschreis des Boulevards die Absichten der Regierung, die ohnehin noch in Gesetze und Verordnungen gegossen werden müssen, nicht zu einer großartigen Belastung der Verbraucher führen. Der ab 2021 einzuführende CO2-Preis soll schrittweise bis 2025 von zehn auf 35 Euro pro Tonne erhöht werden. Für einen Liter Diesel oder Heizöl bedeutet dies eine Verteuerung von zunächst 2,64 auf schließlich 9,24 Cent.

Für den wohlhabenden Teil der Pendler gibt es dafür eine Erhöhung der Pendlerpauschale um fünf Euro pro hundert Kilometer, die diese künftig zusätzlich von ihrer Steuerschuld absetzen können. Eine durchaus unsoziale Regelung, denn sie benachteiligt die Niedrigverdiener unter den Pendlern, die keine oder wenig Steuern zahlen. Die Wohlhabenden bekommen hingegen ein Vielfaches ihrer Mehrausgaben durch die Verringerung ihrer Steuerschuld erstattet.

Eine Hand wäscht die andere

Erwähnt werden soll zum Schluss aber noch der Karrieresprung des ehemalige sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich von der CDU. Noch vor kurzem hatte er der Kohlekommission vorgesessen und dort satte Subventionen, Pardon Entschädigungen, für die Kohleindustrie auf den Weg gebracht.

Nun wird er dafür mit einem Aufsichtsratsposten beim Braunkohle-Buddler Mibrag belohnt. Dies ist einem Bericht des ostdeutschen Senders MDR zu entnehmen. Die Mibrag gehört zum gleichen undurchsichtigen tschechischen Firmengeflecht wie die LEAG, das von einer in Steueroasen beheimateten Holding kontrolliert wird. Näheres darüber im Schwarzbuch LEAG von Greenpeace.