Wie rechts ist der Protest gegen den Covid-Gesundheitspass?
Frankreich: Über 100.000 protestierten gestern in Paris und anderen Städten. Darunter Gelbwesten, "Antivax", Gewerkschafter und Rechtsextremisten
114.000 Menschen - laut amtlichen Zählungen - nahmen am Samstag in Frankreich an insgesamt 136 Protestdemonstrationen teil, in Paris waren es demnach 18.000.
Gegenstand ihres Protests waren die Ankündigungen von Staatspräsident Emmanuel Macron bei einem TV-Auftritt zu Wochenbeginn am 12. Juli. Zu dessen Ankündigungen zählen eine Impfpflicht für Gesundheitspersonal sowie eine Überprüfung des Impfstatuts respektive der Immunität mittels eines Impf- oder Genesungsnachweises ab August in Restaurants und anderen Stätten mit Publikumsverkehr (Macron: Gesundheitspass für (fast) alle und Impfpflicht für medizinisches Personal).
Drei getrennte Demonstrationen
Allerdings waren die Teilnehmenden in Paris auf drei getrennte Demonstrationen verteilt, deren jeweilige Veranstalter sich zum Teil untereinander nur mit der Kneifzange anfassen würden. Der Mitaufrufer bei einem der drei Protestzüge (dem zahlenmäßig stärksten der drei), der rechtsextreme Politiker Florian Philippot, bis September 2017 "Nummer Zwei" des damaligen Front National und heute Chef einer eigenen Kleinpartei unter dem Namen Les Patriotes, behauptete seinerseits beim Fernsehsender BFM TV, es seien allein bei der von ihm mitgetragenen Demonstrationen "150.000" Personen gewesen.
Andere Quellen gehen eher von rund 15.000 Menschen aus, die von der Verkehrsstation Port-Royal loszogen. Unter ihnen befanden sich auch Teile der 2018/19 entstandenen, politisch-ideologisch höchst heterogenen Protestbewegung der "Gelbwesten". Daneben demonstrierten ansonsten zwischen 1.500 und 3.000 Menschen auf Aufruf von anderen Teilen der "Gelbwesten" von der Jussieu-Universität aus durch den im Süden der Stadt gelegenen 13. Pariser Bezirk.
Dieser Teil der Protestierenden, der zum Teil als linksgerichtet und zum Teil als politisch undefinierbar einzuordnen ist, wollte nicht mit den Rechtsauslegern wie Florian Philippot oder dem Nationalkonservativen Nicolas Dupont-Aignan, die an der Spitze des anderen Protestzugs bei Port-Royal liefen, zusammen laufen. Eine niedrige dreistellige Zahl von Menschen fand sich ferner zu einer nicht genehmigten Versammlung auf der zentral gelegenen Place de la République zusammen.
Heterogenität der Zusammensetzung
Von Anfang an sticht die starke Heterogenität der Zusammensetzung und der Anliegen der Beteiligten ins Auge. Ein Vergleich kann hier zu den Anfängen der "Gelbwesten"-Bewegung im Herbst 2018 angestellt werden. Damals schoben zunächst eher rechtsgerichtete Kreise den Protest an, den eine geplante Erhöhung der Spritsteuer ausgelöst hatte (welche offiziell mit dem Ziel der Emissionsreduzierung gerechtfertigt wurde, jedoch einseitig die Verbraucherinnen und Verbraucher und vor allem überproportional die Geringverdiener unter ihnen belastete).
In ihren Augen ging es vor allem um einen Anti-Steuer-Protest, den man in Frankreich oft in die Tradition der mittelständisch und antisemitisch geprägten "Steuerrebellen"-Bewegung von Pierre Poujade in den 1950er-Jahren stellt. Die "Poujadisten" konnten bei der Parlamentswahl im Januar 1956 mit gut fünfzig Abgeordneten in die französische Nationalversammlung einziehen, ihr jüngster (mit 27 Jahren) war ein gewisser Jean-Marie Le Pen; in den darauffolgenden anderthalb Jahren brach die Bewegung jedoch auseinander.
Belastungsgrenzen....
Aber im Laufe einiger Wochen entwickelte sich der Gelbwesten-Protest im Winter 2018/19 von diesen Ursprüngen weg und änderte in manchen Städten seinen Charakter. Ursächlich dafür war unter anderem die Beteiligung von Gewerkschaften wie CGT, SUD und FSU, die vor allem in westfranzösischen Städten wie Rennes, Nantes und Toulouse stark ausfiel.
Diese Kräfte opponierten weder generell gegen eine Besteuerung noch gegen das Ziel der Reduzierung von Umweltbelastung und CO2-Ausstoß, machten sich jedoch dabei für "Lohn- und Steuergerechtigkeit" und eine andere Verteilung der Belastungen stark. In Reaktion auf diese Verschiebung im Protestfokus zogen sich rechte, vor allem rechtsextreme Kräfte bis Anfang 2019 jedenfalls in vielen Städten - nicht überall - aus dem "Gelbwesten"-Protest zurück.
Ähnlich ist auch dieses Mal zu beobachten, dass sich zum Teil unterschiedliche, weit auseinander liegende Kräfte mischen, und dass sich dies zum Teil wiederum in getrennten Protestzügen - wie in Paris zu verzeichnen - niederschlägt.
Nicht in der Hauptstadt, jedoch in anderen Bezirken wie etwa im Raum Orléans oder in Chartres, standen örtliche gewerkschaftliche Gruppen am Ausgang von Protesten. Auch in Angers erklärten sich etwa Mitgliedsgewerkschaften der Gewerkschaftsbünde CGT und FO gegen die Ankündigungen Macrons.
... und die Methode
In ihrem Fokus stand vor allem die Methode Macrons, weniger die gesundheitspolitischen Ziele, die mit seinen Ankündigungen verbunden sind. Dabei geht es um die Eindämmung der Pandemie und speziell ihres drohenden Wiederaufflammens durch die sogenannte Delta-Variante, die in den letzten Tagen etwa zur Verhängung eines neuen Lockdowns oder von Ausgangssperren in so unterschiedlichen Städten wie Sidney und Barcelona oder im ostafrikanischen Staat Rwanda führte.
Dieses Ziel als solches wird kaum infrage gestellt. Aber Emmanuel Macrons Vorgehen dabei steht in der Kritik.
Zum einen verknüpfte er seine Ankündigung neuer Maßnahmen gegen die Pandemie mit jener, dass er - sobald der Druck der gesundheitspolitischen Notlage nachlasse - die umstrittene "Rentenreform", gegen die im Winter 2019/2020 monatelang gestreikt und die aufgrund des Auftauchens der Krankheit Covid-19 abgebrochen wurde, wieder auflegen werde. Und dies, wenn möglich, sogar noch vor Ablauf seiner Amtszeit und der Präsidentschafts-Neuwahl vom 10. und 24. April 2022.
Auch soll die ebenso umstrittene und umkämpfte "Reform" der Arbeitslosenversicherung, die für viele erwerbslos werdende Beschäftigte zu einer drastischen Einschränkung ihrer Ansprüche führen wird, nun doch zum 1. Oktober 2021 in Kraft gesetzt werden.
Dadurch würde sich Macron direkt über ein jüngstes Urteil des "Staatsrats" (Conseil d’Etat, d.h. des höchsten Verwaltungsgerichts in Frankreich) hinwegsetzen. Dieser kassierte jüngst eine Vorlage für ebendiese "Reform", da diese in ihrer vorliegenden Form nicht mit den besonderen Belastungen in dieser Krisenperiode vereinbar sei.
Dass Emmanuel Macron diese so unterschiedlichen und nicht miteinander zusammenhängenden Aspekte - die Pandemiebekämpfung einerseits, Abbruchunternehmen für den Sozialstaat auf der anderen Seite - in derselben TV-Ansprache miteinander verknüpfte, facht Misstrauen und Kritik an.
Auch sind etwa linke Ärzte, die im Grundsatz durchaus mit Macrons Ankündigungen vergleichbare Beschlüsse speziell bei der Pandemiebekämpfung (nicht bei den antisozialen "Reformen") für erforderlich halten würden, über sein eigenes Vorgehen in ebendieser Sache empört.
Selbstkritik?
So hätte Macron deswegen, weil eine seiner jüngsten Äußerungen im Widerspruch zu eigenen früheren Stellungnahmen stehen (weil er etwa noch im Mai dieses Jahres feierlich verkündete, ein Impf- oder Genesungsnachweis werde künftig bei Großveranstaltungen wie Konzerten ab 1.000 Personen verlangt, aber "keinesfalls bei Alltagsvorgängen wie einem Restaurantbesuch"), mit einer Selbstkritik oder jedenfalls einer Erklärung beginnen müssen.
Es gibt ja durchaus eine veränderte objektive Situation, die darauf beruht, dass die so genannten Delta-Variante des Virus drei Mal so ansteckend ist wie die in China bekannt gewordene Ausgangsvariante vom Winter 2019/2020. Das Problem besteht unabhängig vom politischen Personal. So ist derzeit auf den Seychellen trotz hoher Impfquote ein heftiges Wiederaufflammen der Pandemie zu beobachten.
Nur hätte Macron einen Positionswechsel, eine Kehrtwende auch ausdrücklich als solche kennzeichnen müssen, um nicht den Eindruck zu erwecken, bewusst zu lügen etwas verheimlichen zu wollen - Verschwörungsgläubige sind in diesen Zeiten schnell bei der Sache, um angebliche lang gehegte Geheimpläne mit finstersten Absichten dahinter zu wittern.
Vertuschungsmanöver
Auch wäre Selbstkritik des politischen Spitzenpersonals bezüglich vergangenen Fehlentscheidungen und ihrer Vertuschung erforderlich, wollen sie beim Publikum nicht berechtigtes oder auch überzogenes, von Propheten und Demagogen ausgeweidetes Misstrauen gedeihen lassen.
Das bekannteste Beispiel für solche offenkundigen Vertuschungsmanöver betrifft in Frankreich die Vernichtung der ab 2010 angelegten Maskenvorräte - damals waren eine Milliarde Masken im Zusammenhang mit Befürchtungen wegen der Hühnergrippe und ihres Übergreifen auf Menschen deponiert worden, doch wurden diese bis 2019 restlos vernichtet; die Staatsführung war überzeugt, im Bedarfsfall könne man diese in China produzieren lassen… - und die durchsichtige Schutzbehauptung der damaligen Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye im Frühjahr 2020, der medizinische Nutzen von Masken gegen die Pandemie sei nicht erwiesen.
Auch ohne dümmliche Verschwörungsfantasien zu nähren, kann und muss man hier fundierte Kritik üben. Die Neigung dazu, dem politischen Personal von Anfang an dunkle Absichten zu unterstellen (auch wenn im Zusammenhang mit der Pandemie selbst im Falle, dass morgen eine Revolution stattfände, das Problem sich der Revolutionsregierung genau so wie dem jetzigen Staatspersonal stellen würde), wurde dadurch nur verstärkt.
Dass Macron vor diesem Hintergrund nicht demütig, sondern eher mit autoritärem Gestus auftritt, droht selbst noch die richtigsten oder notwendigsten Absichten im Zuge der Pandemiebekämpfung zu diskreditieren.
Impfzwang des Pflege- und Gesundheitspersonals
Ein Sonderproblem betrifft das Pflege- und Gesundheitspersonal. Ein Teil von ihm, bis zu 20 Prozent im Krankenhaus- und 40 Prozent im Altenheimpersonal, ist derzeit noch nicht geimpft. Die Ursachen dafür können vielfältig sein, etwa von der Anfälligkeit für Verschwörungspredigten bei einer kleinen Minderheit bis zur rationalen Furcht vor kurzzeitigem Arbeitsausfall im Falle von immer möglichen Allergiereaktionen bei einem unter Dauerstress stehenden Personal. Die Exekutive reagierte darauf mit der Drohung von Arbeitsverbot und Lohnstreichung ab dem 15. September dieses Jahres, wie sie in Italien existiert.
Dabei ist die Tatsache zu berücksichtigen, dass man eben diese Berufsgruppe im Frühjahr 2020 zu einer Zeit, als es noch keine oder nicht in ausreichender Zahl Masken und Hand-Gel gab, zum Teil unter gefährlichen Bedingungen "an die Front" der Pandemiebekämpfung schickte, während das Krankenhauswesen seit zwanzig Jahren das Opfer massiver Einsparpolitik aller aufeinanderfolgender Regierungen wurde.
Angesichts dieser Situation ist Misstrauen gegenüber den Regierungen in diesem Bereich grundsätzlich berechtigt, auch wenn es die Erforderlichkeit von Impfungen als solche nicht infrage stellt. Nur ist das Vorgehen Emmanuel Macrons mit dem Zeigefinger sicherlich das falsche.
Hemmungslose Demagogen
Ganz sicher nicht dadurch gerechtfertigt wird das Herangehen der rechtsgerichteten Kräfte und ihre hemmungslosen Demagogen im Zusammenhang mit der Kritik an Macrons Entschlüssen. Ähnlich wie auch auf gewissen Demonstrationen zur Covid-19-Problematik in Deutschland finden sich haufenweise aberwitzige Diktatur- und Apartheid-Vergleiche, explizit verharmlosende Anspielungen auf Nationalsozialismus, Judenverfolgung und Völkermord in Teilen des Protestspektrums.
Irgendwelche konstruktiven Vorschläge sind aus dieser Ecke ohnehin nicht zu erwarten. Auch aus dem heterogenen "Gelbwesten"-Spektrum demonstrierten am gestrigen Tag an der Seite der extremen Rechten die wahlweise irrsten oder skrupellosesten Figuren wie der Sänger Francis Lalanne, derselbe, der vor einigen Monaten einen Armeeputsch in Frankreich forderte.
Wenn von irgendwo her eine positive Veränderung zu erwarten ist, dann ganz bestimmt nicht von dieser Seite. Und die übrigen Protestierenden wären gut beraten, einige Kilometer Abstand zu bewahren, nicht nur, um eine Ansteckung zu vermeiden.