Wie rechtsextrem sind die Thüringer wirklich?
Ist die Mitte der Gesellschaft rechtsextrem? So begründet man die Abschirmung demokratischer Institutionen vom Bürger. Ein Gastbeitrag zum Fallbeispiel Thüringen.
Dem aktuellen Thüringen-Monitor zufolge haben in Thüringen rechtsextreme Einstellungen im Vergleich zu den Vorjahren deutlich zugenommen. Laut der Studie habe inzwischen ein Fünftel der Thüringer Bürger rechtsextreme Ansichten. 2022 waren es zwölf Prozent gewesen, im Jahr davor sogar nur elf Prozent.
Wenige Monate vor der Landtagswahl in Thüringen, so kommentiert beispielsweise die FAZ, sei "dieses Umfrageergebnis ernüchternd und erschreckend zugleich". Die zugrundeliegende Langzeitstudie zeige "eine Entwicklung in den Einstellungen und Stimmungen seiner Bewohner auf, der [sic] mit dem Aufstieg der dort nicht nur in Teilen rechtsextremen AfD korrespondiert."
Die dem Studienergebnis des Demokratie-Monitors zufolge von einer vermeintlich zunehmend rechtsextremen bürgerlichen Mitte ausgehende Bedrohung für die Demokratie wird durch Wahlprognosen untermauert. Denn ein noch weit größerer Teil der Thüringer Bürger wird wohl bei den Landtagswahlen am 1. September AfD wählen, obwohl sie vom Thüringer Amt für Verfassungsschutz seit März 2021 als "erwiesen rechtsextreme Bestrebung" eingestuft wird.
Aktuellen Meinungsumfragen zufolge würden die Thüringer die AfD mit 29 Prozent der Stimmen (zuvor sogar 34 Prozent) mit deutlichem Abstand zur stärksten Partei machen, obwohl offenbar viele bisherige AfD-Wähler zum neugegründeten BSW wechseln würden, das auf Anhieb 15 Prozent der Stimmen erreichen würde.
Dieser Entwicklung zum Trotz warnen die Thüringer Verfassungsschützer ihre Bürger, dass sich die AfD "in ziel- und zweckgerichteter Weise gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung" richte.
Nicht nur vertrete der Landesverband "seit Jahren Positionen, die sich gegen die Menschenwürde, gegen das Demokratie- und gegen das Rechtsstaatsprinzip richten", so der Verfassungsschutzbericht 2022, obendrein muss sich der AfD-Landeschef und Bewerber für das Amt des thüringischen Ministerpräsidenten Björn Höcke gegenwärtig vor Gericht verantworten.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, mit dem Ausspruch "Alles für Deutschland" bewusst eine SA-Parole verwendet zu haben.
Erschreckende Mitte
Der seit 2000 im Auftrag der thüringischen Landesregierung von der Universität Jena erstellte Thüringen-Monitor>, lässt sich – wie auch die alle zwei Jahre von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung für ganz Deutschland erstellte Mitte-Studie – so interpretieren, dass rechtsextreme Einstellungen in die Mitte der Gesellschaft vordringen.
Zur Messung dieser Einstellungen wird hier, wie in den meisten Erhebungen in Deutschland und entsprechend der wissenschaftlich etablierten Konsensdefinition, darauf abgehoben, ob die Überzeugung "von der unterschiedlichen Wertigkeit der Menschen in Abhängigkeit von zugeschriebenen Merkmalen, wie Nationalität, Hautfarbe oder ethnischer Herkunft, sowie ein auf diesen Ungleichwertigkeitsvorstellungen aufbauendes Gesellschaftsbild" vorliegt.
Im Ergebnis zeigt die Studie, dass die Thüringer im Jahr 2023 im Vergleich zu 2021 deutlich stärker zu ethnozentristischen Auffassungen neigen, denn innerhalb dieser beiden Jahre stieg deren Quote von 29 auf 41 Prozent der Bevölkerung.
Der Anstieg dieser Auffassungen ist ausschlaggebend dafür, dass laut Studie der Anteil der Bürger mit rechtsextremistischen Einstellungen im gleichen Zeitraum von 11 auf 19 Prozent gewachsen ist, was in den Medien zur Verunglimpfung der Thüringer Wähler genutzt wurde, denn ihnen konnte man bescheinigen, dass deren "rechtsextreme Einstellungen stark gestiegen seien", wie beispielsweise das ZDF warnte und die FAZ – wie bereits erwähnt – dazu bewog, über "erschreckende" Umfrageergebnisse zu fabulieren.
Thüringer lieben die Demokratie
Ohne die allgemein gängige Vorverurteilung vieler Wähler als rechtsextrem sowie eine weniger oberflächliche Befassung mit den Ergebnissen des Thüringen-Monitors hätte die Studie in den Medien jedoch völlig anders aufgenommen werden müssen.
Denn dann wäre berichtet worden, dass der Studie zufolge rechtsextreme Einstellungen in Thüringen bereits im langfristigen Trend seit Anfang der 2000er Jahre rückläufig sind – sogar sehr deutlich.
Damals identifizierte die Studie noch bei knapp einem Drittel der Thüringer rechtsextreme Einstellungen. Mit elf bzw. zwölf Prozent erreichten rechtsextremistische Einstellungen in den Jahren 2021 und 2022 die niedrigsten jemals gemessenen Werte.
Trotz des Anstiegs im vergangenen Jahr auf 19 Prozent befinden sich rechtsextreme Auffassungen in Thüringen der Studie zufolge im Niedergang. Hinzu kommt, dass neo-nationalsozialistische Einstellungen in Thüringen praktisch keine Rolle mehr spielen, denn seit 2021 vertreten stabil nur etwa 3 Prozent der Thüringer diese Ansichten, während sie Anfang der 2000er Jahre von noch mehr als 10 Prozent der Bürger geteilt wurden.
Die Studienautoren liefern zudem den wichtigen Hinweis, dass ihre Repräsentativerhebung zu Ergebnisverzerrungen führt, die den Thüringer eine stärker rechtsextreme Gesinnung unterschieben können, als tatsächlich vorhanden.
Die Zustimmung zu den gestellten Fragen beruhe nämlich in manchen Fällen gar nicht notwendigerweise auf einer stabilen rechtsextremen Einstellung. Stattdessen unterliege die Beantwortung "auch kurzfristig wirkenden Einflüssen, weil die Aussagen […] oft auch andere Aspekte, sogenannte Fremddimensionen, messen."
So sei beispielsweise die Haltung zu der in der Studie gestellten Frage nach dem harten Durchsetzen deutscher Interessen "auch durch Aversionen gegenüber den Entscheidungsprozessen innerhalb der Europäischen Union beeinflusst".
So wird Bürgern mit einer kritischen oder sogar ablehnenden Haltung gegenüber den demokratisch bestenfalls schwach fundierten EU-Entscheidungsorganen eine rechtsextreme Auffassung angedichtet.
Wegen der sehr selektiven öffentlichen Wahrnehmung der Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2023 fallen die von den Wissenschaftlern gelieferten, sehr wertvollen Hinweise darauf, was die Thüringer tatsächlich bewegt und wo der Schuh drückt, vollkommen unter den Tisch. Denn die Zustimmung zur Demokratie wird unter den Thüringern offenbar bis weit an den politisch rechten Rand geteilt.
Aktuell sagen 88 Prozent der Bürger, die Demokratie sei "die beste aller Staatsideen". Obendrein ist die Zustimmung zur Demokratie seit den 2000er-Jahren deutlich und kontinuierlich gestiegen von damals noch etwas unter 80 auf seit einigen Jahren fast 90 Prozent.
Aber offenbar sind die Thüringer nicht mehr damit einverstanden, wie diese Demokratie praktiziert wird, denn so die Studienautoren in ihrer Zusammenfassung: "Gegenwärtig geben weniger als ein Fünftel (17 Prozent) der Befragten an, dass sie der Bundesregierung ihr Vertrauen schenken."
Auch die Bewertung der "politischen Selbstwirksamkeit" gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass die Thüringer zwar zur Demokratie stehen, sich selbst seit den 2010er-Jahren (mit dem aufkommenden Populismus) zunehmend als politisch informiert und urteilsfähig einschätzen – zu derzeit 80 Prozent.
Seit Anfang der 2000er-Jahre sagen jedoch stabil mehr als zwei Drittel der Thüringer, sie hätten "so oder so keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut."
Die Thüringer Bürger befürworten daher offenbar eine direktere und weniger repräsentative Demokratie, denn 78 Prozent stimmen der Aussage zu: "Das Volk, und nicht die Politiker, sollte die wichtigsten Entscheidungen treffen."
Politische Erstarrung
Obwohl also der Thüringen-Monitor nicht nur zeigt, dass sich rechtsextreme Einstellungen im Niedergang befinden, neo-nazistisches Gedankengut praktisch keine Rolle spielt, die Thüringer zur Demokratie stehen und mehr demokratische Mitsprache einfordern, gelten sie allein aufgrund einer selektiven bis hin zu gezielt verunglimpfenden Interpretation dieser Ergebnisse als antidemokratisch und rechtsextremistisch.
Der Thüringen-Monitor liefert den eindeutigen Befund, dass die Thüringer klar demokratisch orientiert sind, sich jedoch aus dem demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess weitgehend herausgedrängt fühlen und ihre politischen Vorstellungen kaum repräsentiert sehen.
Da es in Deutschland inzwischen weitgehend gelungen ist, ein öffentliches Meinungsbild aufzubauen, demzufolge rechtsextreme Einstellungen, die eine existenzielle Gefahr für die Demokratie darstellen, bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen, wird auch die offensichtliche Forderung der Thüringer nach mehr demokratischem Einfluss faktisch delegitimiert.
Vielmehr scheint es in Politik und staatlichen Institutionen als legitim, ja sogar dringend geboten, das ohnehin nur schwach demokratisch fundierte repräsentative System in Deutschland vor dem politischen Einfluss der als rechtsextrem diffamierten Bürger noch weiter abzuschirmen und wichtige Entscheidungen auf möglichst demokratieferne Institutionen zu verlagern.
Diese Limitierung der Demokratie ist bereits seit Jahrzehnten ein Trend und zeigt sich darin, dass nicht durch demokratische Wahlen legitimierte Organe wie die EU-Kommission, Zentralbanken, Expertenkommissionen und Verfassungsgerichte immer mehr Macht zugeschoben bekommen oder ihren Einfluss – geduldet von den politisch dominierenden Kreisen – erweitern.
Der seit den 2010er-Jahren zunehmend aufkommende Populismus, der bei vielen Themen gegen etablierte Auffassungen opponiert, hat diesen Trend deutlich beschleunigt.
Nun hat Bundesinnenminister Nancy Faeser (SPD) in ihren kürzlich vorgestellten 13 Maßnahmen gegen Rechtsextremismus angekündigt, dass sie die Demokratie widerstandsfähiger machen will, indem sie "Justiz, die freie Presse und die demokratischen Institutionen", vor allem aber "das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als wichtigsten Hüter der Verfassung" vor Angriffen autoritärer und rechtsextremistischer Kräfte schützen will.
Geplant ist nun, "die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts stärker gegen die Einflussnahme demokratiefeindlicher Kräfte abzusichern", indem "die zentralen Regelungen zu Organisation und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts in das Grundgesetz aufgenommen werden".
Faktisch sollen also nicht mehr wie bisher einfache Mehrheiten für derartige Änderungen ausreichen, sondern verfassungsgebende Zweidrittel-Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat würden dazu erforderlich.
Im Zuge des aufkommenden Populismus werden das Grundgesetz und die Verfassungen der Bundesländer politisch aufgeladen. Dies geschieht auf Grundlage der seit 1949 sukzessiv hinzugefügten politischen Staatsziele, die den Staat verpflichten, diese nach seinen Kräften anzustreben und sein Handeln danach auszurichten.
Hierzu gehören zum Beispiel die Verwirklichung eines vereinten Europas (Art. 23 Abs. 1 GG) oder der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sowie Tierschutz in Verantwortung für die künftigen Generationen (Art. 20a GG).
Diese Staatsziele beinhalten politische Zielsetzungen, die über die reinen Strukturprinzipien des Grundgesetzes, also die Festlegung auf eine Republik sowie das Demokratie-, Sozialstaat- Bundesstaat- und Rechtsstaatprinzip hinausgehen.
Aktuell wollen SPD, Grüne und FDP gemäß ihrem Koalitionsvertrag "Kultur in ihrer Vielfalt als Staatsziel verankern" im Grundgesetz verankern und "treten für Barrierefreiheit, Diversität, Geschlechtergerechtigkeit und Nachhaltigkeit ein".
Staatsziele sind handlungsleitend und können über die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte ausgedehnt werden, wie beispielsweise durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 geschehen, mit dem das Gericht eine Verpflichtung Deutschlands zur Klimaneutralität in das Grundgesetz hineingelesen hat.
Dadurch erhalten sogar gesetzliche Bestimmungen, die nur eine einfache Mehrheit erfordern – wie im Fall des Klimaschutzgesetzes.
So kommt es zu einer voranschreitenden Entpolitisierung der Politik und im direkten Gegenzug zu einer wachsenden Politisierung des Grundgesetzes und der Länderverfassungen sowie staatlicher Institutionen ganz generell.
Offenbar gerade in einer Situation, in der der politische Zuspruch der Bürger schwindet, setzen einflussreiche Kreise auf die Politisierung staatlicher Institutionen, um einen von Mehrheiten getragenen politischen Wechsel zu vereiteln.
Die jedoch führt zu einer verheerenden Erstarrung des politischen Prozesses, der davon lebt, dass die Bürger auf die politische Entwicklung Einfluss haben und über Mehrheiten politische Veränderungen herbeiführen.
Der virulente Abwehrkampf gegen die vermeintlich immer rechtsextremeren Bürger, die ihrerseits gegen die zunehmenden Beschränkungen der Demokratie opponieren, hat einen offen antidemokratischen Charakter, selbst wenn immer gebetsmühlenartig erklärt wird, all dies geschehe nur zum Schutz der Demokratie.
Mehr von Alexander Horn lesen Sie in den Büchern "Experimente statt Experten – Plädoyer für eine Wiederbelebung der Demokratie" und "Sag, was Du denkst! – Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture".