Wie reden wir miteinander in Zeiten der Polarisierung?

Diskursethik in "tief gespaltenen" Gesellschaften: Ein Kernaspekt für die Zukunft der Demokratie

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Ein Kernaspekt der Diskussion um die Zukunft liberaler Demokratie ist, wie wir miteinander reden. Viele beklagen heute, dass das politische Gespräch immer schwieriger wird. Das hat im wesentlichen drei Gründe.

Erstens sind es populistische Rhetoriken, die eine "Wir-gegen-sie"-Logik salonfähiger machen. Sie schließen nicht nur andere Arten der Vernunft durch ihre Argumentation aus, sondern fordern auch ausdrücklich und aktiv zum Auschluss auf.

Zweitens ist es die Verunsicherung durch den Trend zu Meinungsmedien und die "Blaseninformation" sozialer Medien. Beide blasen gefilterte Teilinformationen mittels grosser Zahl einseitiger Meldungen, Texte und Medien zur einzigen Wahrheit auf, neben der Pluralität verblasst und alles Nicht-Identische Misstrauen erweckt und Abgrenzung erfahren muss. Differenz wird hier zur Andersheit, der das Merkmal des Fremdartigen und Unverständlichen anhaftet.

Der dritte Grund ist der steigende Einfluss politischer Korrektheit in der öffentlichen Rationalität sowie in Medien, Bildung und Eliten. Politische Korrektheit ist im Gegensatz zu den direkten, ja brachialen populistischen Rhetoriken, aber ähnlich wie die Blaseninformation sozialer Medien ein "Verdünnungselement" indirekter und unterschwelliger Art, das subtiler, aber deshalb nicht weniger effizient wirkt.

Politische Korrektheit führt zu Ausschlussmechanismen aus dem gemeinsamen öffentlichen Gespräch, die unterschwellig funktionieren, indem sie Moral und Humanität einseitig als "menschliche" Überlegenheit für sich vereinnahmen. Dieser Überlegenheit ist durch gegenteilige Argumentation in Sachfragen nicht beizukommen, da sie - meist unbewusst, manchmal auch bewusst - ein Metaelement darstellt, das implizit absolut funktioniert und daher durch andere unhintergehbar ist.

Diese drei Gründe wirken seit einigen Jahren immer stärker zusammen und verstärken sich gegenseitig.

Krise des demokratischen Gesprächs

Populistische Rhetoriken rebellieren in ihrer Argumentation gegen die angeblich universale politische Korrektheit der Medien, der Bildungseinrichtungen und der Eliten. Sie scheren sich wenig um den vernünftigen Dialog, wie ihn Jahrhunderte europäischer Ideen- und Geistesgeschichte zäh und unter vielen Opfern hervorgebracht haben, weil sie - zu Unrecht - den Dialog in offenen Gesellschaften prinzipiell als vereinnahmt und tendenziös brandmarken. Damit diskreditieren sie, vielleicht auch nur teilweise oder nicht bewusst, das Prinzip des Dialogs an sich - mit unabsehbaren Folgen.

Politische Korrektheit dagegen sorgt sich im Gegenzug eben mit Hinweis auf populistische Narrative und Diskurse um Benehmen, Argumentationslogik und Sprache. Sie schüttet dabei aber das Kind mit dem Bade aus: sie kämpft mit moralisch erhobenem Zeigefinger und einem wiederauflebendem Betroffenheitskult nicht nur gegen die Populisten, sondern auch gegen traditionelle Akteure offener Gesellschaften. Dabei bewegt sie sich hart an der Grenze zur "Sprachpolizei", die offenen Gesellschaften an sich fremd sein sollte.

Und die Blasenlogik sozialer Medien füttert beide, indem sie beide bedient und sich gleichzeitig von beiden abzugrenzen sucht - bislang mit wenig Erfolg.

Gemeinsam haben diese drei Kräfte das demokratische Gespräch, das der Idee nach und im Prinzip offen, universal einschließend, verschiedene Sprachen und Sprachspiele berücksichtigend, Sprache verleihend statt Sprache nehmend und konstruktiv sein sollte (was "konstruktive Dekonstruktion" einschließt) in eine ernsthafte Krise gestürzt.

Re-Ideologisierung offener Gesellschaft

Intellektuelle und Gelehrte wie der schottische Historiker Niall Ferguson oder der Direktor des Instituts für Europastudien der Oxford Universität, Timothy Garton Ash, klagen deshalb über die immer stärkere Verengung des Gesprächs in offenen Gesellschaften, was Demokratie in ihren Grundideen auszuhebeln droht.

Garton Ash sieht "Populisten" und "Politisch Korrekte" gleichermaßen auf dem Weg zum Ausschluss des anderen. Das ist ein Problem sowohl für die Linke wie für die Rechte, keineswegs nur für eines der beiden politischen Lager (die ohnehin längst nur mehr typologisch existieren, sich in der Realität aber zusehends in Kleingruppen aufsplittern, zwischen denen der Dialog ebenfalls immer schwieriger wird - wie die grossen Volksparteien lehren).

Rechte bedienen sich zwar eher populistischer Rhetoriken, Linke eher politischer Korrektheit - jedoch mit ähnlichen Effekten auf die Güte des Dialogs. Deshalb müsse, so Garton Ash, im Gegenzug zum heutigen Trend das allermeiste im Dialog zugelassen und auch noch die anstößigste Meinung diskutiert - und der Diskussion aktiv für wert befunden werden. Dazu brauche es jedoch eine neue Streitkultur für das "Shitstorm-Zeitalter", weil heute der Streit in anonymen Massen-Foren so geführt werden kann, dass informeller Druck ausgeübt und "Entrüstung" so geschürt wird, dass politische Korrektheit andere Elemente überlagern und zu vorauseilender Selbstzensur führen kann.

Populismus, neue soziale Medien und politische Korrektheit stellten, so Garton Ash, letztlich immer stärker das Prinzip der Redefreiheit in Frage. Wir bräuchten ein "dickeres Fell", um mit dieser neuen Gefährdung umzugehen - sowohl individuell wir kollektiv. Damit spricht Garton Ash nicht zuletzt die individuelle Courage an, sich zu Themen im demokratischen Spektrum zu äussern wenn nötig auch gegen den Mainstream und gegen den Druck von Gruppen und Kollektivüberzeugungen. Er fordert damit letztlich die Wiederbelebung des Bürgers und Intellektuellen.

Ferguson geht noch darüber hinaus und meint sogar, der anerkannte gebildete und aufgeklärte Diskurs europäischer offener Gesellschaften sei längst zugunsten eines ideologischen Lagers aus dem Gleichgewicht geraten, ohne dass dies ausdrücklich bewusst gemacht wird. An Universitäten etwa, die in offenen Gesellschaften vielleicht am besten die Diskursmitte und -qualität messen, repräsentieren und erhalten, indem sie sie nach innen beispielgebend vormachen und nach außen generational weitergeben, sei man laut Ferguson heute "als Rechter ein potentieller Nazi, als Kommunist hingegen ein moralisch einwandfreier Sozialdemokrat".

Nicht nur sei das Paradigma (also: das unbewusst erkenntnisleitende kollektive Vorurteil) der höheren Bildungseinrichtungen und der von ihr hervorgebrachten Eliten stark in eine politische Richtung abgedriftet, sodass sogar der Begriff "konservativ" heute bereits "links-liberal" bedeute. Sondern auch die politische Korrektheit der meisten europäischen Medien habe sich stark zugunsten "linker" Denkmuster verschoben und drohe, die meisten konservativen und teilweise sogar viele Mitte-Meinungen als bereits "rechts-verdächtig" zu brandmarken, weil sie nicht links sind.

Diese Entwicklung sei unter anderem im Gefolge der Migrationskrise und der damit verbundenen Re-Moralisierung von Politik in Gang gekommen, die im Zuge zunehmender Verschärfung einen Drall weg von den Volksparteien der Mitte an die Ränder auch im Wahlverhalten ausgelöst habe. Sie greife nun von der Migrationsfrage auf immer mehr Felder aus. Re-Moralisierung von Politik durch Populisten und Politisch Korrekte, undifferenziert befördert von sozialen Medien, führe letztlich zur Re-Ideologisierung offener Gesellschaft. Und damit zu deren zunehmender Spaltung. Wo es immer weniger Mitte gibt, gibt es auch immer weniger Kompromisse - und letztlich auch immer weniger ernsthaftes Gespräch, das tatsächlich mit dem irreduziblen Wert des "Anderen" rechnet.

Dass die politische Korrektheit stark linkslastige Züge angenommen hat und dabei sogar von ehemals mitte-konservativen Parteien versorgt wird, weil diese deren Vorherrschaft fürchten und sich ihren Diskursnormen immer stärker angeschlossen haben, darunter vor allem im Gefolge der Migrationskrise in Deutschland, stellt die Forderung in den Raum, das gesamte Spektrum der Demokratie zu schützen, und nicht nur einen Teil davon als legitim zu behaupten. Demokratie lebt eben genau davon, dass es das gesamte Spektrum zwischen links und rechts im Rahmen gewisser Spielregeln gibt und dass das gesamte Spektrum legitim einbezogen wird. Wenn das nicht der Fall ist, geht Demokratie zugrunde beziehungsweise ist es keine Demokratie mehr. Das hat im Juni 2019 sogar der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hervorgehoben:

Gauck für "mehr Toleranz nach rechts". Der frühere Bundespräsident Deutschlands Gauck hat sich eine "erweiterte Toleranz in Richtung rechts" ausgesprochen. Toleranz fordere, "nicht jeden, der schwer konservativ ist, für eine Gefahr für die Demokratie zu halten und aus dem demokratischen Spiel am liebsten hinauszudrängen", sagt Gauck dem Magazin Spiegel. Man müsse zwischen rechts - im Sinne von konservativ - und rechtsextremistisch oder rechtsradikal unterscheiden. Gauck forderte in diesem Zusammenhang die CDU auf, sie solle für Konservative "wieder Heimat werden". Das Thema Flüchtlinge habe die Regierung "nicht ausreichend versorgt".

Die Welt

In ähnlicher Absicht sprach der ehemalige Bundestagspräsiden Lammert ebenfalls im Juni 2019 davon, dass Parteien rechts der Mitte eine "legitime Konkurrenz" seien:

Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat die AfD als "legitime Konkurrenz" zu seiner Partei bezeichnet. "Dass ein beachtlicher Teil der Wählerinnen und Wähler sich nicht einmalig, sondern in einer Abfolge von Wahlen so entscheidet, wie sie sich entschieden haben, ist ein Signal, das man besser nicht überhören sollte", mahnte Lammert im ZDF.

ZDF

Man muss diese Ansichten nicht teilen, um jenseits parteipolitischer und ideologischer Inklinationen das Grundsätzliche zu erkennen, um das es beiden, Gauck und Lammert, geht: Einschluss statt Ausschluss aus dem demokratischen Gespräch - weil genau darin eben Demokratie fundamental besteht. Und weil sie leidet oder gar ernsthaft Schaden nimmt, wenn das Gespräch nicht mehr das gesamte politische Spektrum umfasst, das nicht ausdrücklich vom Verfassungsschutz ausgeschlossen wird, sondern mittels politischer Korrektheit eine Seite deutlich bevorzugt.

Emotionalisierung des Gesprächs

Viele andere teilen diese Sicht auf die Notwendigkeit der Zurückdrängung politischer Korrektheit, wenn auch manche in weniger explizit politischer Weise. So sieht der italienische Philosoph Massimo Cacciari wegen der Emotionalisierung des offenen Gesprächs die Grundfesten der Demokratie an sich bereits in ernsthafter Gefahr. Laut Cacciari stellt Demokratie mehr als andere Gesellschaftsformen einen politischen Kampf dar, der sie im Unterschied zu geschlossenen Gesellschaften geradezu definiert, und den sie daher ständig dialogisch und offen zu führen hat. Doch dieser Kampf droht heute zur Konfrontation zwischen "absoluten" Lagern zu werden. Diese hören sich gegenseitig nur mehr der Form nach zu, sind aber in Wirklichkeit nicht am Argument des anderen interessiert, sondern vielmehr zentral an seiner De-Legitimation. Dies, weil sie - bewusst und vor allem unbewusst - immer stärker "Wahrheit" für sich ausschließend beanspruchen, je stärker die Emotionen hochschwappen und "Entrüstung" zum politischen Stilmittel wird.

Doch "Entrüstung" sollte ein Mittel des Kampfes von Dissidenten in geschlossenen Gesellschaften sein, nicht ein Instrument des politischen Kampfes in offenen Gesellschaften. Wegen der Universalisierung von De-Legitimationsmechanismen, die ohnehin den Kern der ständigen Selbstkritik von Demokratie ausmachen, drohe laut Cacciari der Demokratie heute ausgerechnet ihr einziges und wichtigstes Energiereservoir ausgehen, über das sie im Unterschied zu geschlossenen und autoritären Gesellschaften verfügt: nämlich das aufeinander zugehende Gespräch unter "fundamental andersartigen", ja "inkommensurablen" Sprachspielen als unaufhebbarer, unverzichtbarer und nicht auf seine einzelnen Elementen und Akteure reduzierbarer Prozess. Für diesen Prozess sei, so Cacciari, eine politische Kultur ausschlaggebend, die heute abhanden zu kommen droht. Die bisherige liberale Ordnung könnte damit schon bald zu Ende gehen - und Demokratie ihr Antlitz wandeln.

Nimmt man diese Aspekte zusammen, wird verständlich, warum die bereits sprichwörtliche "Krise der Demokratie" und ihrer offenen Gesellschaft zu einem Kernthema aktueller Diskurstheorie in den politischen und sozialen Wissenschaften geworden ist. Wie wir miteinander reden betrifft - weitergehend als Einzelaspekte spezifischer Problemstellungen und Themen - die veritablen Grundlagen des Selbstverständnisses demokratischer Gemeinschaftsbildung.

Die Mitte droht, abhanden zu kommen

Es strahlt in alle Bereiche offener Gesellschaften aus. Und es betrifft insbesondere auch die Zukunftsfähigkeit jener "Schneeflockengeneration" (snowflake generation) der Jugend offener Gesellschaften, die viele Schlüsselthemen - auch aufgrund des Pluralismus - als zu vielgestaltig, ambivalent und daher als unentscheidbar und emotional zu belastend erfährt, um sie mitzudiskutieren und mitzuentscheiden. Deshalb zieht sie sich eher von ihnen zurück, statt am öffentlichen Gespräch teilzunehmen. Die Stichworte sind Entpolitisierung, Verlagerung auf Blaseninformation durch soziale Netzwerke statt Rundfunk und Fernsehen, sowie Zeitfresser interaktives E-Entertainment.

Ergebnisse sind unter anderem Brexit, der maßgeblich durch die Nichtbeteiligung der Jugend entschieden wurde. Ähnliches gilt für den Aufstieg des Populismus etwa in den USA. Doch während in Europa wegen niedriger Geburtenraten die Jugend ein immer kleinerer Teil der Gesellschaft ist, liegt es in den USA wie in Großbritannien eher an der mangelnden Mobilisierungsfähigkeit der jüngeren Generation, die den Älteren das Feld überlässt.

Sicher ist bei alledem eines. Den - auch wegen Überkomplexität und Tiefenambivalenz - zunehmend emotionalisierten und deshalb "tief gespaltenen" demokratischen Gesellschaften droht bei weiterem Voranschreiten verschiedener Spielarten des Populismus, der Politischen Korrektheit und der Blaseninformation die Mitte abhanden zu kommen. Aber gerade in der Mitte wurde seit Beginn der Moderne und damit der ausdifferenzierten Gesellschaftsform (Aufklärung und Humanismus) stets die Vernunft verortet. Die Mitte kommt abhanden, weil sich (unter anderem) Volksparteien zu "Bewegungsparteien" und Fakten- zu Meinungseliten wandeln - und damit insgesamt gegenseitige Ausschlussbereitschaft aus dem demokratischen Gespräch eher zu- als abnimmt.

Einschließen und ausschließen

Daher stellt sich die fundamentale Frage, wie wir heute und künftig überhaupt miteinander reden wollen, wenn die offene Gesellschaft erhalten werden soll. Wo liegen die Grenzen der Ein- und Ausschlussfähigkeit "richtiger" und "falscher", "legitimer" und "illegitimer" oder "angemessener" und "nicht-angemessener" Diskurse? Welche Narrative sind unter welchen Prämissen von Kontext, Vergangenheit und Zukunft brauchbar? Und wie, unter welchen Umständen und von wem können sie demokratisch legitimiert werden?

Ein Beispiel: Sollen politisch "Rechte" an Universitäten legitim (also per - geschriebenem oder ungeschriebenem, politisch legitimierten oder kontextpolitisch sanktioniertem - Gesetz) sprechen dürfen oder nicht (Daniel Kehlmann)? Heißt pluralistische Kontextpolitik auch politische Korrektheit in der Rhetorik? Und wenn ja: bis zu welchem Maß wäre eine "Sprachpolizei", wie sie heute vor allem im deutschen Sprachraum um sich greift und sogar von Gemeinschaftseinrichtungen wie der "Bundeszentrale für politische Bildung" oder Stiftungen indirekt durch zahlreiche Publikationen gefördert wird, demokratietheoretisch, demokratielegitimatorisch und demokratiepragmatisch sinnvoll und praktizierbar?

Wollen und sollen die Vertreter offener Gesellschaften mit jenen reden, die radikal anderer Meinung sind und sogar die Demokratie in Teilaspekten oder als Ganze ablehnen - und wenn ja, bis zu welchem Grad? Oder gilt es in Zeiten der Bedrohung offener Gesellschaft durch die wachsende globale Zahl nicht-demokratischer Staaten und die Wende zum Autoritarismus das Gespräch nun zumindest temporär - nämlich bis zur Konsolidierung der "Neuen Multipolaren Weltordnung" - eher "intern" unter Gleichgesinnten zu führen?

Welche Medien sind für die verschiedenen Varianten "angemessen" und "salonfähig", welche nicht? Soll es politische oder institutionelle Prozesse oder gar Institutionen zur normativen Bestimmung politisch korrekter und inkorrekter Begriffe - und damit der moralischen und ethischen Valenz von Begriffen - geben oder nicht? Wenn ja, wie müssten sie aussehen? Und wie könnten sie in Zeiten kapillar zunehmender Delegitimierungs-Mechanismen (soziale Medien, politische Kulturen) legitimiert werden - und von wem?

Ein Beispiel: Ist der - im Deutschen gewiss schwierige - Begriff der "Kulturkreiskompatibilität" im Hinblick auf globale Massen-Migration angebracht oder verwerflich? Und ist der, der ihn gebraucht, sofort kein Humanist mehr und aus dem Gespräch mittels "Entrüstung" auszuschliessen? Diese Frage stellt sich etwa angesichts der Tatsache, dass Umfragen wie die der wichtigsten britischen Denkfabrik "Chatham House" von 2017 ergeben, dass eine Mehrheit von Europäern weitere islamische Immigration ablehnt, weil sie sie für inkompatibel mit dem Lebensstil offener Gesellschaften hält. Wie immer man dazu steht: sollte man nun den Begriff bekämpfen und "das Volk erziehen" (wie es die Mehrheit der Linken mit guten Argumenten fordert)? Oder sollte man im Gegenteil das Begriffsspektrum öffnen und die politische Korrektheit zurückfahren, gerade um ein weiteres Abdriften von Teilen der Bevölkerung in die innere Emigration und in den Anti-Elitismus zu verhindern (wie es die Mehrheit der Konservativen mit ebenso guten Argumenten fordert)?

Ein weiteres Beispiel: Hat der Auschwitz-Überlebende Arik Brauer Recht oder Unrecht, wenn er anlässlich des Ausschlusses rechts-konservativer Parteien von den Holocaust-Gedenkfeiern 2018 meinte, man dürfe nicht der politischen Korrektheit das Feld des Dialogs überlassen? Man müsse im Gegenteil gerade mit jenen politisch ausdrücklich "Rechten" reden, die die offene Gesellschaft ablehnen und die es - seiner Meinung nach - also von ihr zu überzeugen gilt, statt sie vom demokratischen Gespräch eben wegen ihrer Grundhaltung gegen die offene Gesellschaft auszuschliessen, wie es in Zeiten wachsender Unsicherheit und Volatilität verständlicherweise verstärkt geschieht?

Wie bei vielen anderen Problemstellungen in der aktuellen Zeitkonstellation wachsender VUCA - Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität - sowohl der internationalen Ordnung im Ganzen wie der offenen Gesellschaften im Besonderen, also in Zeiten des (angeblichen) "Rückzugs der Demokratie" sowohl in ihren Kerngebieten nach innen (Trump, Erdogan, Populismus) wie in der globalen Ordnung nach außen (Bertelsmann Transformationsindex 2018: Demokratie scheint als Gesellschaftsmodell international in der Defensive und auf dem Rückzug; sie könnte zur Minderheit in der neuen "Multipolaren Weltordnung" werden) handelt es sich dabei um eine prinzipiell "unlösbare" Thematik, die der verstärkten Information und auch Theorieinfusion bedarf, um zu "Gangbarkeiten" zu gelangen. Bei all dem ist die - im engeren traditionellen Sinn - ethische Dimension jenseits paradigmatisch und neo-ideologisch festgefahrener Muster noch gar nicht berührt.

Die Frage, wie wir miteinander reden, ist auch deshalb so wichtig, weil sich ethische Modelle derzeit auch innerhalb offener Gesellschaften eher auseinander- als aufeinander zu entwickeln. In der Demokratietheorie sprechen wir für die Globalisierungsphase seit den 1990er Jahren von der wachsenden Dichotomie zwischen Befreiungsethik und Diskursethik. Befreiungsethik ist direkt politisch, Diskursethik indirekt. Wie sollen sich beide in einer Welt, in der die Demokratie im Rahmen "wettbewerbender Modernitäten" (competing modernities, Martin Jacques) nicht mehr das einzige und vielleicht in absehbarer Zeit auch nicht mehr das international dominierende Modell ist, zueinander verhalten? Welche Rolle kann das Beispiel der offenen Gesellschaft Europas dabei spielen, wenn Europa mit seinen 5-7% Weltbevölkerung um 2050 nur noch einer der kleineren Spieler ist, der möglicherweise der Welt nicht mehr eine Zivilordnung geben und für sie erhalten kann, weil diese sowohl von Westen wie von Osten her eher unterminiert und in Konflikten eher verhärtet als konsolidiert und weiterentwickelt wird?

Dass das keine theoretischen, sondern eminent praktische Fragen sind, zeigt die Realität.

Freie Rede in Gefahr

So wird inzwischen die "freie Rede" auch wegen des Populismus, vor allem aber aufgrund politischer Korrektheit sogar in den Wissenschaftseinrichtungen und in der akademischen Welt von manchen in Gefahr gesehen.

Aufsehenerregende Fälle an der Schnittstelle zwischen Politik, Gesellschaftsnarrativen, Medien und Redefreiheit häufen sich aber vor allem in der Praxis. Darunter ist nicht nur die Debatte um den Einfluss sozialer Medien auf die Politik und ihre - angebliche oder reale - Verzerrung bisheriger Gesprächskulturen. Sondern darunter sind auch unüblich direkte Warnungen von führend Beteiligten an der Demokratie-Verzerrungsdebatte, darunter von Facebook-Chef Mark Zuckerberg. Der Fall Zuckerberg konzentriert sogar das gesamte demokratische Gesprächs-Dilemma wie in einer Nussschale, weil er die Widersprüche in sich vereint. Zuckerberg forderte - unter anderem bei seinem Besuch des Europaparlaments im Mai 2018 von den EU-Autoritäten - eine stärkere Regulierung sozialer Netzwerke, arbeitete aber gleichzeitig an der Einführung einer eigenen Facebook-Kryptowährung, um sein soziales Netzwerk noch stärker zu einem transnationalen "Staat im Staate" zu etablieren.

Vor allem aber vereint Zuckerberg - stellvertretend auch für andere Netzwerke und Informationsmechanismen - die Widersprüche betreffend Gesprächskultur und ihre Grenzen. So sollen

laut Facebook-Chef Holocaustleugner in dem sozialen Netzwerk nicht gesperrt werden. Er finde die Leugnung des Völkermords an Juden im Zweiten Weltkrieg zwar "tief beleidigend", Inhalte sollten aber nur verboten werden, wenn sie für Angriffe auf jemanden verwendet würden oder Schaden erzeugten, sagte Zuckerberg dem Technikblog ‚Recode‘. Es gebe Dinge, die unterschiedliche Leute falsch verstehen würden, ohne aber die Absicht dazu zu haben, so Zuckerberg.

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Zuckerbergs "stark liberale" Haltung beruht allerdings wenigstens zum Teil auf vorhergehenden Vorwürfen der US-Rechtsrepublikaner, er würde sie systematisch ausschließen und sogar bekämpfen, und ist bis zu einem gewissen Grad als Gegenreaktion darauf anzusehen.

Auf der anderen Seite häufen sich in besorgniserregender Weise Phänomene der Intoleranz, die unter dem Deckmantel der "Diskurspolizei" politische Korrektheit in offenen Gesellschaften so auszulegen versuchen, dass sie eine bestimmte Gruppe gegen andere durchdrücken. Sie wollen erreichen, dass es Toleranz gegenüber Intoleranz und Freiheit für die Gegner der Freiheit geben soll.

Ihre Akteure wollen mittels selbsterklärter Sprachpolizei die freie Rede so einschränken, in vielen Fällen sogar ganz ausschalten, indem sie mittlerweile sogar universitäre Debatten zu verhindern suchen, dass damit die Feinde der offenen Gesellschaft gestärkt werden. Unter den jüngsten Beispielen, die sich vor allem in Deutschland mit seiner überzogenen Toleranz als Kompensation der Geschichte des 20. Jahrhunderts besorgniserregend häufen, ist der Fall der "Kopftuchdebatte":: an der Universität Frankfurt am Main im Mai 2019:

Vor einer am 8. Mai stattfindenden Konferenz mit dem Titel "Das islamische Kopftuch. Symbol der Würde oder der Unterdrückung?" ist an der Goethe-Universität Frankfurt eine Debatte über Redefreiheit ausgebrochen. Eine Gruppe forderte online, die Organisatorin der Veranstaltung, die Ethnologie-Professorin Susanne Schröter, ihres Amtes zu entheben und die Konferenz abzusagen. Die Konferenz wird ausgerichtet vom Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam (FFGI), dessen Leiterin Schröter ist. Auf der Rednerliste finden sich unter anderem "Emma"-Gründerin Alice Schwarzer, die deutsch-türkische Frauenrechtlerin und Soziologin Necla Kelek als Vorstandsfrau von "Terre des Femmes" und die Journalistin Khola Maryam Hübsch, die sich gegen ein Kopftuchverbot ausspricht. Die Veranstaltung steht unter der Schirmherrschaft des Hessischen Ministers für Soziales und Integration.

Die Gegner der Konferenz, die sich als Studierende der Uni Frankfurt ausgeben, schrieben unter dem Namen "Uni gegen AMR - kein Platz für Anti-Muslimischen Rassimus" via Instagram unter dem Schlagwort "#schroeter_raus": "Gerade heute mit der steigenden Salonfähigkeit von Rechtspopulismus , werden in Deutschland Menschen, die das Kopftuch tragen, Opfer von rechter Gewalt und Rassismus. Diese Rechtspopulisten würden durch die Konferenz Zuspruch erhalten." Der Account ist mittlerweile nicht mehr zugänglich.

In einem Statement reagiert die Präsidentin der Goethe-Uni, Birgitta Wolff: "Im Rahmen der Wissenschaftsfreiheit steht es den Fachbereichen, Instituten und Professuren der Goethe-Universität nicht nur frei, Veranstaltungen in eigener Regie und mit eigener thematischer Ausrichtung zu gestalten. Es ist vielmehr ausdrücklich Teil ihrer Aufgaben." Wolff betont die "unterschiedlichen Stimmen" der Konferenz, die sich mit der genannten Fragestellung beschäftigen. In diese könne und wolle sich das Präsidium nicht einmischen. "Das Präsidium ist keine Diskurspolizei", schreibt Wolff. "Auch Versuche mancher Kreise, sich selbst zur Diskurspolizei zu ernennen, weisen wir mit größtem Nachdruck zurück." Social-Media-Plattformen stünden jeder Gruppe zur freien Meinungsäußerung zur Verfügung, Äußerungen wie "schroeter_raus hätten hingegen nichts mit einem wissenschaftlichen oder demokratischen Diskurs zu tun und seien "unwürdig". Auch der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) distanzierte sich von der Aktion.

Der Spiegel

Die Verurteilungen des Versuchs, Diskussions- und Dialogfreiheit an Universitäten einzuschränken, waren insgesamt jedoch deutlich zu halbherzig. Das kann so nicht sein, weil hier nicht nur mittels klarer Intoleranz religiöser Gruppen gegen die offene, säkulare Gesellschaft Kulturkonflikte heraufbeschworen werden, die die Fundamente offener Gesellschaft an sich in Frage stellen und in Gefahr bringen. Sondern auch deshalb, weil hier auch neue ideologische Konflikte lauern, die Gegenreaktion heraufbeschwören und zur weiteren Entkräftung von Dialog und Gesellschaft führen könnten. Das kann so nicht sein, weil mit solchen Fundamental-Angriffen auf die Redefreiheit unter dem Deckmantel der Religion die Grundlagen offener Gesellschaft angegriffen und faktisch auch bereits aufgelöst werden. Wer dies auch nur indirekt zulässt, lässt den konkreten Beginn der Auflösung des Gesprächs an sich, und damit die Zerstörung von Demokratie zu.

Das Gesamtbild ist für viele zunehmend unüberschaubar und verwirrend. Was also bedeutet das alles? Und wo liegt die fundamentale Herausforderung?

Die Rolle des Intellektuellen und der Widerstreit als positiver Prozess

Insgesamt gilt meines Erachtens: Was wir nun brauchen, ist eine viel umfassendere, ausgewogenere und vertieftere Debatte darüber, wie wir vernünftig miteinander reden - und wer überhaupt mitreden darf. Das wird zum zentralen Bestandteil jeder Zukunftsdiskussion - und für die neue politische Generation vielleicht sogar zur wichtigsten Herausforderung ihrer Zeit.

Dazu werden Reformen und neue Regeln für den öffentliche Diskurs, einschliesslich die sozialen Medien, unerlässlich sein. Und dazu wird auch die bewusstere Beschäftigung mit der Versöhnbarkeit radikaler Pluralität mit gesellschaftlicher Vernunft als Magnet der Mitte viel umfassender stattfinden müssen als bisher. Die Volksparteien sind aufgerufen, sich dieser Herausforderung anzunehmen - im eigenen Interesse einer "Rückkehr" ins Zentrum der politischen Geschehnisse, und zur Vermeidung ihres weiteren Absturzes in die Bedeutungslosigkeit.

Für eine Erneuerung des Gesprächs brauchen wir aber auch die Wiederbelebung von Gesprächs-Theorien, die auf die Praxis zielen und einschließen, nicht ausschließen.

Vor allem zwei Ansätze sind es, die es dazu meines Erachtens wieder aufzufrischen gilt, weil sie in den vergangenen Jahrzehnten - als die Gemüter noch weniger erhitzt waren - die Debatte inspiriert und informiert haben. Einer stammt aus den 1980er Jahren, also aus einer Zeit der internen Debatte offener Gesellschaften vor der globalen Demokratisierungseuphorie der 1990er und 2000er Jahre. Die andere stammt aus der Phase danach: der Ernüchterung über die fehlende oder zumindest unvollständige Verwirklichung dieser Hoffnung. Beide verbinden die Kommunikationstheorie mit einer Theorie des post-modernen Politischen und überführen sie zugleich in die Demokratietheorie - ja machen damit beide Dimensionen essentiell (und vielleicht sogar existentiell) ganz bewusst voneinander abhängig. Es sind

1. der Ansatz von Jürgen Habermas: Die Rolle des modernen Intellektuellen in tief gespaltenen Gesellschaften1 aus dem Jahr 2006. Und

2. der von Jean-Francois Lyotard: Der Widerstreit als positiver Prozess aus dem Jahr 1983 (deutsch 1989).2 Wie kann Demokratie erhalten und sogar besonders fruchtbar gemacht werden, wenn es fundamental inkommensurable Sprachspiele der Realitätskonstruktion und -deutung gibt, die weder Konsens noch Kompromiss erzielen und auch keine Aussicht darauf haben?

Habermas geht das Problem von der Verteilung gesellschaftlicher Rollen in einer funktionierenden pluralistischen Gesellschaft an. Seine "klassische" Position ist, dass es - neben Legitimationsmechanismen und Bausteinen wie Verfassungspatriotismus statt Nationalismus oder Ethnozentrismus - mehr denn je die Figur des unabhängigen öffentlichen Intellektuellen braucht, der im Prinzip keiner Paradigmengruppe zugehört, um Europas Demokratie zu erhalten und zu beleben.

Dieser Intellektuelle gehört im Prinzip keiner Paradigmengruppe zu. Er ist weder Teil des Populismus noch der politischen Korrektheit noch der Blaseninformation. Der Intellektuelle sollte sich mit einer Portion Provokation, einschliesslich einem Spiel mit der politischen Inkorrektheit, das manchmal gefährlich an die Grenze zu populistischer Rhetorik reichen kann, diese aber nicht überschreiten darf, im Sinn der Vorwegnahme möglicher Gefährdungen des Gemeinwesens antizipativ in den Diskurs einschalten. Dazu benötigt er Fingerspitzengefühl und einen "avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen", deren wirkliche Relevanz er allerding erst im Prozess herausfinden und erweisen kann.

Die Position dieses "Freisprechers" ist mit Risiko verbunden, aber auch mit einem bewussten Aufbrechen von Stereotypen vor allem und gerade auch sprachlich. Die Hinterfragung von politisch korrekten Begriffen, aber auch der Produktion von Fakten und Relevanzen durch quantitative und qualitative Verfahren sehr unterschiedliche Akteure gehören zu seinen Kernaufgaben.

Gefordert ist vor allem eine kritische Rolle in der Wahrnehmung und Bewertung von Zahlen und Fakten. Wer produziert sie wie, warum und mit welcher Absicht? Zahlen sind nicht nur einfach Zahlen, und Zahlen sind nicht einfach sofort Fakten. Sieht man zum Beispiel den heutigen "Krieg um Fakten" etwa zwischen Akteuren wie Eurobarometer und dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, die sich seit 2015 gegenseitig die verzerrende und politisch tendenziöse Kunstproduktion von Zahlen vorwerfen, erweist sich die hohe Relevanz von Habermas‘ Ideen. Dass Habermas Theorie des Intellektuellen eben wegen seiner Forderung, der Intellektuelle auf der Höhe der Zeit müsse den Mut haben, eine Art Kassandra (aber nicht nur) zu sein, um mögliche Zukünfte sowohl spielerisch und provokativ wie warnend zu antizipieren, von manchen Linkstheoretikern aus heutiger Sicht ins Lager der Populisten gerückt wird, die ihrer Ansicht nach ähnliche Verfahrensweisen praktizieren, um mit Angst vor dem Möglichen Politik im Bestehenden zu machen, ist eine der großen Absurditäten unserer aktuellen Gesellschaftsdebatte.

Doch ebensowenig wie Nation automatisch Nationalismus bedeutet, wie unter anderem Aleida Assmann gegen Robert Menasse geltend gemacht hat, bedeutet Antizipation sofort Populismus, oder Szenarienentwicklung sofort Angstmache. Das Zusammenwerfen dieser verschiedenen Aspekte in ein und dasselbe war eine Entdifferenzierung, die vor allem die - in Zentraleuropa im Gefolge von 1968 bis heute öffentlich führende - intellektuelle Linke in ihrem hyper-moralischem Impetus der vergangenen Jahre vorgenommen hat und deren Verführungen auf vereinfachende Wirksamkeit sie erlegen ist, wofür sie umgekehrt allerdings auch einen hohen Preis gezahlt hat. Dazu gehört auch das Abdriften von Teilen ihrer internationalen Vertreter in die Idee, gegen Rechtspopulismen einen neuen Linkspopulismus zu etablieren nach dem Vorbild Gramscis. Doch wenn die Perspektive "Populismus gegen Populismus" lautet, um den gewiss schwierigen, komplexen und oft wenig populären Anforderungen der Begriffsdifferenzierung zu entgehen, kann nur Regression von Demokratie die Folge sein.

Der Ansatz von Habermas' Zeitgenosse Jean-Francois Lyotard dagegen geht darüber hinaus noch viel detaillierter und prinzipieller auf die Verwendung von Sprache, Diskurs und Sprachspiel auf der Meso- und Mikroebene ein. Lyotard geht davon aus, dass Widerstreit im Prinzip etwas Gutes ist und in offenen Gesellschaften niemals abgeschlossen oder an ein "eindeutiges Ende" gebracht werden sollte, wenn alle Sprachspiele gleichermaßen gehört werden. Das schliesst ein, auch die unbedeutendsten Narrative, Sprachen, Argumentationsmuster, Deutungsweisen und Andeutungen der Realitätslektüre und -erzeugung mittels Diskurs gleichermassen ins Gespräch einzubeziehen - sogar und ausdrücklich auch solche, die politisch inkorrekt sind.

Der militante Kommunist Lyotard, Gründungs-Mitglied der Gruppe "Sozialismus oder Barbarei", war - wie heute Zuckerberg - ein Verteidiger des Rechts von Holocaust-Leugnern, ihre Position öffentlich und an den Universitäten darzustellen, um sie dann Schritt für Schritt im Dialog zu dekonstruieren und zu berichtigen. Aus seiner Sicht darf niemand aus dem Gespräch ausgeschlossen werden - andernfalls leidet die Demokratie. Um dies zu erreichen, müssen denen, die keine eigene Sprache haben, also mangels Alternative Diskurse und Begriffe benutzen müssen, in denen sie sich nicht wiederfinden, sogar aktiv darin unterstützt werden, ihre eigene Sprache zu finden - auch wenn dies dem Mainstream oder der Vernunft widerspricht. Aus Sicht Lyotard darf es neben Marktschreiern, Angstmachern und Verführern eines am wenigsten geben: eine politische Korrektheit, die zur Sprachpolizei ausartet. Das würde den "freien Widerstreit" der Diskursarten unterminieren - und eine Art "Diktatur mit anderen Mitteln" errichten, die Gegenreaktionen wie etwa den Populismus hervorrufen, die der Anfang vom Ende der Demokratie sein würden.

Das bedeutet nicht, dass politische Korrektheit die Ursache für den Populismus ist. Ebensowenig, wie dass sie nur eine Reaktion darauf ist. Vielmehr gilt es, beide zu verhindern, um die Diskursfreiheit radikal offen zu halten, weil darin laut Lyotard Demokratie besteht, und zwar viel mehr als in im engeren Sinne politischen und institutionellen Prozessen. Dazu gilt es nicht zuletzt, die Blaseninformation in ihrer Mitte auszutrocknen und deren Institutionen detaillierter zu regeln.

Habermas und Lyotard sind sich, trotz unterschiedlicher politischer Herkunftskulturen, Geschichtskontexte und Ausrichtungen, in einem zentralen Punkt einig: Im Prinzip sollten im Diskurs einer offenen Gesellschaft alle mitreden dürfen, auch noch die unbequemsten Positionen, sofern sie formal noch im politischen Spektrum der Demokratie liegen (also nicht vom Verfassungsschutz für undemokratisch erklärt sind). Auch die dazu verwendeten Begriffe und Sprachspiele sollten breitestmöglich erhalten und in ihrer Diversität, einschliesslich gewisser provokativer und unkonventioneller Kräfte, sogar aktiv geschützt werden. Alle Ausschlussmechanismen sollten auf das Minimum reduziert werden, seien sie nun explizit oder implizit, offen oder verborgen.

Kein Zweifel: Beide Positionen, die von Habermas und von Lyotard, erfordern von allen heute im Spiel befindlichen Seiten Selbstüberwindung, Selbstkritik und Selbstbeschränkung. Das wird weder für Populisten noch für Politisch Korrekte, weder für Konservative noch Progressive in der heute diskursiv und paradigmatisch verfahrenen Situation einfach. Es ist aber unabdingbar notwendig, wenn wir die Demokratie und ihre fundamentale, paradigmatische Offenheit für die kommenden Generationen erhalten wollen. Und wenn wir sie in der entstehenden multipolaren Welt als vielleicht nicht mehr belehrendes, aber lebendiges Beispiel für andere, geschlossenere Gesellschaften bewahren wollen.

Die gute Nachricht: Praktische Umsetzungsversuche zu einer neuen Gesprächskultur häufen sich - teilweise bewusst, noch öfters aber auch mehr aus dem Gefühl heraus. Darunter ist zum Beispiel der Ansatz zu einem Start-up namens "Change my view"("Ändere meine Sichtweise") des jungen Schotten Kai Turnbull. Er versucht im Internet das zu verwirklichen, was Garton Ash als "Streitkultur für das Shitstorm-Zeitalter" einfordert - ohne darauf ausdrücklich Bezug zu nehmen, mehr aus dem Instinkt heraus. Zugleich ist das Startup ein Ansatz, vor allem die Blaseninformation aufzubrechen, um von da aus sowohl dem Populismus auf der einen Seite wie der politischen Korrektheit auf der anderen die Luft abzulassen:

"Die Idee eines Teenagers aus den Highlands hat weltweite Beachtung gefunden und ist nun, sechs Jahre später, die Grundlage für ein Start-up. Im Kern geht es um die einfache Frage: Wie können wir die oft hässliche Welt der Online-Debatten in den Griff kriegen? Change My View war anfangs gar nicht dazu gedacht, die Welt aufzurütteln. Es war einfach ein Internetprojekt eines neugierigen Teenagers, der in der schottischen Provinz aufwuchs. "Mir war klar, dass ich in einer Kleinstadt-Blase lebte."

In seiner ersten Form war - und ist - Change My View durchaus einfach: Die User posten eine Meinung, die sie ehrlich glauben, und zwar alles: von politisch Provokativem ("Der Fall Reparationszahlungen an Afro-Amerikaner hat starke Argumente", "Frauen haben bereits Gleichheit") bis zum relativ Unwichtigen (Der Film "Avengers: Endgame" hatte überhaupt keinen Sinn). Die Posts decken ein breites Spektrum an Themen und politischen Perspektiven ab. Und sobald sie live sind, werden andere User aktiv dazu aufgefordert, gegen diese Sichtweise zu argumentieren. Die Regeln dabei? Einige wenige, grundsätzliche: erkläre deine Überlegungen, fordere die Vorgabe heraus, aber verhalte dich nicht brutal, unhöflich oder feindlich. Die Original-Poster wurden umgekehrt dazu verpflichtet, sich mit den Gegenargumenten auseinanderzusetzen und sie ernst zu nehmen. Die Initiative hob schnell ab, von 100.000 Mitgliedern innerhalb eines Jahres zu mehr als 700.000 heute."

Der Gründer gibt zu, dass diese und ähnliche Initiativen zwar auf den ersten Blick wie ein Tropfen auf den heißen Stein wirken - und dass möglicherweise, wie Elon Musk zur Initiative anmerkte, gerade diejenigen, die es am nötigsten hätten, nicht dieser Homepage beitreten. Trotzdem ist er überzeugt davon, dass sich durch solche Foren indirekt nach und nach die gesamte öffentliche Debatte verändern wird - weil unterschwellig die Art und Weise des Spiels beeinflusst und nach und nach ein besserer Umgang gelernt wird, was auf das Ganze ausstrahlt.

Ob dies nun der Fall sein wird oder nicht: Dass diese und ähnliche Initiativen eine längst überfällige Notwendigkeit darstellen, wenn wir das offene Gespräch überhaupt retten wollen, hat - unter vielen anderen - vor kurzem niemand geringerer als einer der Erfinder des Internet, Tim Berners-Lee, hervorgehoben:

Viele von uns stimmen heute darin überein, dass die Qualität der meisten Online-Konversationen austrocknet. Facebook und Twitter sind voll von zornigem Schreien oder Zustimmung ohne Nachdenken, Menschen gehen aufeinander los, reden aneinander vorbei, argumentieren unlogisch und belügen einander. Und das ist erst die Ebene vor den Trollen, der Propaganda, den fake news und der Desinformation. User werden in Filterblasen und Echo-Kammern gefangen gehalten, die sie nur verlassen, um ihre angeblichen Gegner zu beschimpfen und schlecht bepunktete Schlachten gegen ihre wahrgenommenen Feinde zu beginnen. Das meiste, was heute [im Internet] als politischer Diskurs durchgeht, ist entweder Gruppendenken-Abkommen oder hinterhältiges Zielschießen. Tim Berners-Lee meinte dazu vor kurzem: "Die Menschheit, die durch Technologie im Web verbunden ist, funktioniert in einer dystopischen Weise." In einem offenen Brief beklagte Berners-Lee den ‚zornigen und polarisierenden Ton und die Qualität des Online-Diskurses".

BBC

Fazit?

Um das heutige Gesprächsdilemma in offenen Gesellschaften zu überwinden, sollten wir neben einer Verstärkung der gesellschaftlichen Metadebatte über das Gespräch selbst die zwei richtungweisenden Leit-Ansätze von Habermas und Lyotard in grundsätzlicher Hinsicht widerentdecken - und ihre Brauchbarkeit für die gegenwärtige Situation anhand konkreter Fälle diskutieren. Das könnte sich als fruchtbarer erweisen als viele "groß" gemeinte politische Reden, die sich derzeit allzu oft in Geist, Verantwortung für das gemeinsame Ganze und Perspektive als eher "klein" erweisen.

Roland Benedikter ist Forschungsprofessor für Multidisziplinäre Politikanalyse in residence am Willy Brandt Zentrum der Universität Wroclaw-Breslau und Co-Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research Bozen. Kontakt: roland.benedikter@eurac.edu.