Wie sich das Virus in alle Welt verbreitete
WHO und das deutsche Gesundheitsministerium: Der Zeitstrahl der Versäumnisse
Holpriger Dezember in Wuhan
Ende Dezember 2019 erreichte den Bundesnachrichtendienst eine E-Mail aus Wuhan. Es gäbe Gerüchte über einen neu aufgetretenen Virus. Der BND reichte die Nachricht weiter an das Bundes-Gesundheitsministerium und an das für Epidemien zuständige Robert-Koch-Institut. Erkundigungen bei deren Kollegen in China wurden nicht eingezogen. Diese erste Warnung aus China an die Bundesregierung verlief sich in den Weihnachtstagen in den Computern der zuständigen Behörden.
Bei den Gesundheitsbehörden in Wuhan allerdings war große Aufregung. Mitte Dezember hatte Li Wenliang, Augenarzt im Zentralkrankenhaus von Wuhan, Kollegen informiert, dass er bei mehreren Patienten einen vermutlich neuen Virus mit Lungensymptomen ähnlich SARS beobachtet habe. Die Behörde war nicht erfreut, bestellte den Arzt ein und wies ihn an, von jeder weiteren Information an Kollegen und die Öffentlichkeit abzusehen, bis Genaueres geklärt sei. Aber wenig geschah.
Am 26. Dezember berichtete dann der Arzt Dr. Zhang aus einem anderen Hospital, dass er ebenfalls bei vier Patienten - drei davon in der gleichen Familie - eine ungewöhnliche Pneumonie gefunden habe und sie als einen neuen Virus vom Typ SARS diagnostiziert habe.
Nun bricht Hektik aus. Wenige Tage später beginnt die aktive Suche nach Infizierten. Am 31. Dezember wird die nationale Gesundheitskommission informiert, die ihrerseits die chinesische Epidemiebehörde CDC einschaltet, die wiederum die WHO informiert. Die vorgeschriebene Informationskette funktioniert. Endlich, mit mehrwöchiger Verspätung, läuft die Maschinerie der chinesischen Seuchenbekämpfung an.
Nun wird der Huanan Seafood Market geschlossen, aus dem die Patienten kamen. Die chinesischen Virologen machen sich an die Identifizierung des Virus und berichten am 7. Januar, dass sie ihn identifiziert hätten. Wenige Tage später werden die gentechnischen Eigenschaften des Virus international weitergegeben. Und am 13. Januar waren die ersten Test-Kits verfügbar und systematische Studien begannen. Eine Woche später, am 20. Januar, wurde der Coronavirus nun als hochinfektiös und gefährlich eingestuft. Am 23. Januar riegelten die Behörden dann die Millionenstadt Wuhan ab und am folgenden Tag noch weitere 15 Städte. Flüge innerhalb Chinas waren von da an nicht mehr möglich. Die WHO wird informiert.
Volle Aufklärung und Shutdown innerhalb von drei Wochen. Das scheint beispielhaft, wenn da nicht die anfängliche Unterdrückung der ersten Beobachtungen gewesen wäre. Aber ein weiteres Versäumnis wiegt schwer. Denn man hatte zwar die WHO verständigt, aber nur die inländischen Flüge aus Wuhan gestrichen, von Maßnahmen im internationalen Flugverkehr aber sah man ab. Wuhan ist nicht nur eine Industriestadt, sondern auch ein Ausgangspunkt des Tourismus in das Innere Chinas. All die Touristen flogen ungehindert in ihre Heimatländer. Sie wurden nicht informiert, weder von der WHO noch von China. Entsprechend gab es keine Kontrollen oder gar Quarantäne für Ankömmlinge aus China und so schleppten sie die Viren in alle Welt.
Zwar relativiert der zügige Ablauf der Ereignisse nach erstem Zögern den westlichen Vorwurf, man habe Meinungen unterdrückt, aber die Versäumnisse in der internationalen Kooperation sind unverzeihlich. Und weitere Versäumnisse kamen reichlich.
Januar: die chinafreundliche WHO schläft
Taiwan hatte schon im Dezember von chinesischen Kollegen gehört, dass sieben Fälle ähnlich SARS für Unruhe sorgen und auch medizinisches Personal infiziert worden sei. Solche Ansteckungen gelten in Fachkreisen als besonders alarmierend, weil sie einen sehr infektiösen Virus andeuten. Wie Taiwan aufgrund der Vorwürfe von Präsident Trump gerade bekannt gab, sandte Taiwan eine entsprechende Information am 31. Dezember an die WHO. Aber China sieht Taiwan als "abtrünnige Provinz" und verweigert dessen Aufnahme in die WHO. Taiwan ist deshalb kein Mitglied im weltweiten Informationsfluss.
Die Financial Times zitierte in der Wochenendausgabe einen verärgerten taiwanesischen Regierungsbeamten: "Eine interne Internetseite der WHO steht als Plattform für alle Mitgliedsländer zur Verfügung, um Informationen über Epidemien und deren Ausbreitung zu teilen, aber keine der Informationen, die unser Gesundheitszentrum dorthin schickt, wird da hochgeladen." Mit diesmal bekanntlich verheerenden Folgen....
Von den chinesischen Kollegen gewarnt, ging Taiwan nun seinen eigenen Weg und ordnete bereits am 3. Januar für alle Flüge aus China Isolationspflicht an. Man war von den früheren Epidemien besonders getroffen worden und hatte nun eine höhere Sensibilität für Frühwarnungen und hatte eine straffe Organisation für neue Epidemiebedrohungen aufgebaut, die nun rasch reagieren konnte. In Taiwan blieb deshalb der Infektionsgrad gering. Die WHO aber negierte Taiwans enormem Erfahrungsschatz und berücksichtigte deren frühe Warnungen, Gefahrenanalysen und Handlungsempfehlungen nicht in ihren Entscheidungen. Mit verheerenden Folgen.
Zwar war auch von den chinesischen Behörden eine Warnung Anfang Januar eingegangen, aber erst am Ende des Monats, am 31. Januar, erklärte die WHO offiziell ein international beunruhigendes Epidemierisiko. Trotz der Verspätung war auch diese Warnung unvollständig. Versäumt wurde, dass Reisende aus Wuhan kontrolliert oder gar in Quarantäne gestellt werden sollten, ein de facto Offenhalten der Grenzen, möglicherweise auf Druck Chinas. Es dauerte noch zweieinhalb Monate bis Mitte März. Die meisten Länder - so auch Deutschland - verzichteten also auf Einreisekontrollen. Nur die USA stoppte Ende Januar alle Flüge aus China.
Die WHO ist keine kleine Organisation. Als die zuständige Agentur der UN hat sie ein Jahresbudget von mehr als einer Milliarde US-Dollar, derzeit unter dem Vorsitz eines Äthiopiers mit dem komplizierten Namen Tedros Ghebreyesus. Zwar ist er in England ausgebildeter Biologe und Immunologe, ging aber schon kurz nach dem Studium in die Politik. Er war acht Jahre Gesundheitsminister, durchaus mit großen Reformverdiensten, und dann vier Jahre Außenminister.
Offensichtlich hatte diese lange politische Laufbahn sein Gefühl für epidemiologische Risiken geschwächt oder er hatte den riesigen Apparat der WHO nicht auf rasche Reaktionen getrimmt. Jedenfalls unterblieben noch einen Monat lang die notwendigen Warnungen für den internationalen Flugverkehr trotz des in allen Zeitungen nachlesbaren Shutdown der Millionenstadt Wuhan und der Provinz Hubei.
So verbreitete sich der Virus in alle Welt. Auch eine Maskenempfehlung der WHO blieb aus. Dank dieser Gelassenheit nehmen die meisten Staaten im Januar die Gefahr noch nicht ernst, so auch die deutsche Bundesregierung.
Der Warnschuss Webasto verhallt
Wuhan ist ein Zentrum der Automobilindustrie und seiner Zulieferer, darunter der Münchner Firma Webasto. Für ein mehrtägiges Seminar war Mitte Januar eine der dortigen Mitarbeiterinnen nach München geholt worden. Sie war infiziert, fühlte sich aber nicht krank, nur sehr schwache Grippesymptome. Mehrere Mitarbeiter wurden infiziert. Nur bei einem Mitarbeiter setzte hohes Fieber ein, bei zwei weiteren blieben die Symptome gering.
Die Münchner Behörden und die Firma reagierten sofort und sperrten den Betrieb. Die Infektionsketten wurden zurückverfolgt und alle Personen isoliert. Eine Warnung seitens der deutschen Gesundheitsbehörden folgte daraus nicht, vielmehr machte man daraus Anfang Februar eine Erfolgsmeldung. Dies, obwohl inzwischen eine offizielle Warnung der WHO vorlag.
Sorglos im Februar
Aber das Gesundheitsministerium gab sich sorglos. Man verwies auf die hohen Standards des deutschen Gesundheitssystems. Bankkaufmann Spahn, der amtierende Gesundheitsminister, und der Tiermediziner Robert Wieler, Leiter des Robert Koch Instituts, beruhigten die Nation. Man wisse von dem Virus, aber ernsthafte vorbereitende Maßnahmen wurden versäumt. Masken als allgemeiner Schutz in der Öffentlichkeit wurden sogar abgelehnt, da sie nur die Ausbreitung der Viren von Infizierten behindern würden.
Die Tatsache, dass bei diesem Virus viele Patienten kaum Symptome haben, wie aus den Krankheitsfällen bei Webasto bekannt, und deshalb gar nicht bekannt ist, wer infiziert ist, wird negiert. Noch am 4. März meint Minister Spahn in einem Interview in der FAZ, dass dieser Virus für Deutschland keine unkontrollierte Gefahr darstellt. Naiv übersieht er, wie unerkannt und mit welcher Dunkelziffer eine solche Ausbreitung erfolgen kann.
Denn die Annahme, dass sich alle Infizierten melden würden, ist bei dem unterschiedlichen Verlauf der Krankheit nicht gegeben. Anfang März telefonierte ich mit einem Freund in der Schweiz. Er klagte über eine fiebrige Grippe. Meine Frage, ob er sich nicht testen lassen wolle, beantwortete er mit einem lakonischen: "Ich gehe doch nicht zwei Wochen in Quarantäne." Seine Schwiegermutter allerdings wurde infiziert, dann positiv getestet und schließlich gemeldet. Auch Privatpersonen versäumen also, ihre Pflichten wahrzunehmen. Es wird nicht das einzige Versagen von Privatpersonen bleiben.
Die Gier bestimmt den März
Volksfeste und Tourismus sind Geschäft. Da in Europa anfänglich keiner der Staaten ernsthafte Maßnahmen zur Eindämmung beschloss, fanden Karneval und Schi-Urlaub unverändert statt. Dass dabei im Mode-Skiort Ischgl ein infizierter Barkeeper zwei Wochen lang an der Bar stand, war dem Betreiber zwar bekannt, aber Weitermachen bis zum Saisonende ging vor.
Am 29. Februar war der Virus dann bei mehreren Teilnehmern einer Reisegruppe in Island festgestellt worden. Die isländische Landesregierung warnte wenige Tage später vor Reisen nach Tirol und insbesondere Ischgl. Aber auch jetzt dauerte es noch über zehn Tage, bis die Tiroler Landesregierung die Skisaison beendete. Dies geschah erst am 16. März, zeitgleich mit dem Shutdown in Bayern. An die 200 Gäste wurden infiziert und zerstreuten das Virus über Europa. Eine Isolierung der Infizierten wie beim Vorfall in der Firma Webasto und eine Rückverfolgung von Kontaktpersonen war nicht mehr möglich.
Nun war der Supergau unvermeidlich: Das öffentliche Leben musste europaweit weitestgehend eingestellt werden. Der Virus war außer Kontrolle. Am 20. März folgt die Bundesrepublik, zweieinhalb Monate nach der ersten Warnung aus China, sechs Wochen nach der (verspäteten) Warnung der WHO.
Bei uns rächen sich nun die Versäumnisse der Bundesregierung. Ein Hilferuf von Kliniken, Ärzten und Verbänden reiht sich an den anderen. Schutzkleidung fehlt, so auch Masken für die Bevölkerung.
Produziert wird Schutzkleidung bei uns nicht mehr. Deutschland hat zwar seine Mineralfirmen verpflichtet, ausreichend Treibstoffe und Heizöl zu bevorraten. Aber die Anordnung der Vorratshaltung von Schutzkleidung bei Herstellern und Lieferfirmen wurde versäumt, obwohl in Ostasien seit den großen Epidemien ein zentraler Punkt und immer wieder auch in den deutschen Epidemien-Plänen erwähnt. Kein Wunder, wenn man der Ärztin Ursula von der Leyen das Verteidigungsministerium überträgt und Bankkaufleuten und Rechtsanwälten das Gesundheitsministerium.
Regieren ohne Kompetenz beenden
Diese Missachtung der Kompetenz bei der Besetzung von Ministerien wird einmal mehr zur Ursache des großen Dilemmas. Wo Kompetenz fehlt, fehlt die Urteilskraft, frühe Warnsignale zu erkennen und Risiken fachgerecht einzuordnen. Man kann annehmen, dass all dies anders verlaufen wäre, wenn das Gesundheitsministerium mit einem Arzt oder einer Ärztin besetzt und der vom Ministerium ernannte Leiter des Robert Koch Instituts ein Epidemiologe oder Virologe gewesen wäre. Die begrenzte Kompetenz des Gesundheitsministeriums hat für Deutschland diese Epidemie dramatisch verschlimmert.
Dass in den Epidemieplänen der Behörden besonders auf den Bedarf von Schutzkleidung hingewiesen wurde, blieb deshalb dem geduldigen Papier überlassen, wie in einem früheren Beitrag Starker Virus - schwache Demokratie beschrieben. Wir sollten daraus lernen.
Die Welt werden wir nicht ändern können. Dass aber in der deutschen Demokratie die klassischen Berufspolitiker zurückgedrängt und Kompetenz wieder wichtiger wird als Parteibuch und Postengeschacher, diese Veränderung durchzusetzen, sollten wir nicht versäumen.
Dr. Peter H. Grassmann studierte Physik in München, promovierte dort bei Werner Heisenberg und ging ans MIT. Bei Siemens baute er die heute milliardenschwere Sparte der Bildgebenden Systeme auf. Als Vorsitzender von Carl Zeiss (bis 2001) sanierte er das Stiftungsunternehmen in Jena zusammen mit Lothar Späth. Er ist Kritiker einer radikalen Marktwirtschaft und fordert mehr Fairness und Nachhaltigkeit. Grassmann erhielt zahlreiche Auszeichnungen und engagiert sich bei der Münchner Umwelt-Akademie, bei "Mehr Demokratie e.V.", der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Gesellschaft und dem Senat der Wirtschaft.
Von Peter Grassmann ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Zähmt die Wirtschaft! Ohne bürgerliche Einmischung werden wir die Gier nicht stoppen".
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