"Wie verrückt ist das denn?"
Erfahrungen während des digitalen Sommers
Es gibt immer wieder einmal Situationen, die uns in Erstaunen versetzen können. Aussprüche wie "Das gibt es doch nicht!" oder "Wer kommt denn auf eine solche Idee?" entfahren uns, wenn wir unerwartet an Gedanken oder Ereignissen beteiligt werden, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen.
Als ich vor einigen Jahren das Erstlingswerk "Americana" des US-amerikanischen Schriftstellers Don DeLillo las, stellte ich mich auf eine ungewöhnliche Reise durch die Vereinigten Staaten von Amerika ein. Als ich dann die folgende Geschichte lesen durfte, habe ich mich sofort gefragt: Wie kommt ein Autor in den 1970er Jahren auf die Idee, einen solchen Plot zu entwerfen?
Die irritierende, aber eben auch aufschlussreiche Geschichte besteht aus der Vision eines alten weisen Heiligen, erzählt in einer Mondnacht:
Er hat gesagt, alle neuen Universitäten würden nur noch aus einem kleinen Raum bestehen. Das würde folgendermaßen funktionieren: Zu Beginn eines jeden Semesters würde die gesamte Studentenschaft - die mindestens fünfhunderttausend betragen müsste, damit die Computer genug zu tun hätten - sich auf einem großen freien Platz vor einer Fernsehkamera versammeln. Sie würden auf Videoband aufgenommen. In einer getrennten Aktion würde man dann auch, einzeln, das Lehrpersonal auf Video aufnehmen. Anschließend würden die beiden Monitore in den einen Raum gestellt werden, der die Universität darstellt. […]
Am ersten Unterrichtstag um neun Uhr morgens würde ein Computer die beiden Geräte einschalten, die sich gegenüberständen. Das Videoband der Studenten würde sich dann das Videoband des Lehrpersonals ansehen. Das System könnte schließlich so verfeinert werden, dass es im ganzen Land nur noch eine einzige Universität gäbe.
Don DeLillo
Daraufhin meinte der Zuhörer, dass dieser Beobachter doch nicht ganz auf der Höhe der Zeit sei. Auf der Höhe der Zeit? Wir müssten eigentlich erstaunt sein, was über die Zukunft der Bildung schon alles gedacht wurde. In einem Essay-Wettbewerb über die Zukunft des Studierens hätte eine solche Geschichte im Jahr 2020 vielleicht gute Gewinnchancen gehabt. Nehmen wir nur wenige Elemente heraus:
"Damit die Computer genug zu tun hätten" - Was haben wir in den letzten Wochen alles lesen dürfen über Wartezeiten bei Streaming-Diensten für Vorlesungsaufzeichnungen, über dringend erforderliche Ausweitungen des Speicherplatzes pro Studierende, über Hochleistungsrechner, die Lernplattformen zu Geschwindigkeit verhelfen.
"… die gesamte Studentenschaft, nur noch eine einzige Universität" - An Mutmaßungen darüber, wie sich trotz der Wahrnehmung von Vielfalt innerhalb der Studierendenschaft das gesamte System der Lehre rationalisieren ließe, fehlt es auch nicht.
"Monitore" - Dass wir die Welt vermehrt durch diese meist rechteckige Form wahrnehmen und wir uns selbst nun auf einem "Fenster" eines Webkonferenzsystems präsentieren, wird zu den markanten Erinnerungen an dieses Ausnahmejahr 2020 gehören.
DeLillos verrückte Geschichte ist - wenn der Phantasie etwas Raum gelassen wird - also gar nicht so weit von unserem aktuellen Alltag entfernt, der, je länger er anhält, immer weniger außergewöhnlich erscheint. Aber rückblickend waren es schon "verrückte" Tage, die uns auch daran erinnern, dass in außergewöhnlichen Situationen es auch kluge Worte und Weisheiten schwer haben.
Campusatmosphäre gegen Wallpaper-Impressionen
Als die Corona-Pandemie die Gemüter besonders belastete, nämlich während des Osterfests, erinnerten die Vereinigten Staaten, und natürlich auch das Fernsehen, an die besonderen Herausforderungen der Apollo 13-Mission. Wer den Namen Jim Lovell hört, denkt in diesem Zusammenhang gerne an einen Ausspruch, der für Innovationsseminare bestens geeignet scheint. Er lautet wie folgt: "There are three kinds of people in the world: those who make things happen, those who watch things happen and those who wonder what happened."
Wer ehrlich zu sich selbst ist, muss aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Wochen zu dem Ergebnis kommen: "Ich kann mich allen angesprochenen Zielgruppen zuordnen." Denn es sind auch die Maßstäbe, die sich im Laufe dieser Krise verrückt haben. Die Ausnahme wurde zur Regel, das Digitale ersetzte das Analoge, die Anwesenheitsinstitution Universität (Rudolf Stichweh) mutierte zu einem weitgehend verwaisten Ort, der allenfalls noch als Kommunikationszentrale an ein disperses Publikum diente. Letzteres musste die Campusatmosphäre gegen Wallpaper-Impressionen eintauschen, die als Zufallsprodukt kleinere oder größere Bildschirme füllten.
Jedenfalls aber schuf die akademische Improvisation mehr als eine "Automatic Professor Machine". Es war der US-amerikanische Politikwissenschaftler Langdon Winner, der vor gut 20 Jahren mit dieser Persiflage auf frühe Formen des Teleteaching den Warencharakter von Vorlesungen pointiert hervorheben wollte. Die APM-Machine steht für ubiquitäre Verfügbarkeit, der flexible Abruf für eine Taylorisierung des Lernens. Damals war der Campus so groß wie eine Diskette. Die heutigen Lernplattformen und Präsentationssysteme haben sich auch in dramaturgischer Hinsicht weiterentwickelt.
Wo genau dieser "Ausweg" aus der Krise hinführen wird? Stanislaw Lem, ein Meister des Zukunftsromans, meinte einmal, dass visionäre Abenteuer angesichts der Rasanz paralleler Entwicklungen ihren Reiz verloren haben. Zugleich wiederholen sich aber auch die Argumentationen. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit zeigt das: Als die Debatte über Massive Open Online Courses anfangs des vergangenen Jahrzehnts die öffentliche Meinung erreichte, sahen darin einige den umfassenden Zugriff auf akademische Lehrprogramme, eine Kampfansage an das herkömmliche Vorlesungsformat.
Wenig später erfolgte von prominenter Stelle eine Korrektur: "Der Glaube, dass Bildung durch ein Computerprogramm ersetzt werden kann, ist ein Mythos. Der menschliche Kontakt und das Mentoring machen den entscheidenden Unterschied bei den Lernergebnissen aus", so Sebastian Thrun im Jahr 2013. Auch in der aktuellen Debatte dominiert die Präferenz für Präsenz. Das wird auch niemand ernsthaft bestreiten wollen. Aber angemessen wäre auch, den jetzigen Systemen ihre Beteiligungs- und Mitwirkungsoptionen nicht einfach abzusprechen. Es kann auch in einer Webkonferenz sehr lebendig zugehen.
Akademische Solidarität
Im Zuge der Zuspitzung der Corona-Krise beschäftigte uns aber zunächst die Frage, was es eigentlich bedeutet, eine Universität gegebenenfalls zu schließen. In wenigen Tagen entwickelte sich eine Vorstellung von Notbetrieb - getrieben durch äußere Anlässe und innere Einsichten -, die in der Summe auch vergleichsweise wenige Reibungen erzeugte. Es war und ist ein Teamgeist spürbar, der auch durchaus jene erfasste, die aufgrund ihres Arbeitsspektrums im Home Office de facto nur sehr eingeschränkt ihre Dienstleistungen erbringen konnten.
Es war dann auch die Nicht-Semester-Debatte, die das Ziel nach Erreichen des Notbetriebs noch deutlicher vor Augen führte: ein weitgehend digital organisiertes Semester. Eine unkomplizierte Zusammenarbeit in Verbindung mit flachen Hierarchien hat möglich gemacht, dass nur wenige Veranstaltungen verschoben werden mussten, und das Anfangscredo, gegebenenfalls auch mit niedrigschwelligen Angeboten operieren zu können, weitgehend verdrängt wurde. Es dominierte der Ansporn, es doch schaffen zu können.
Irgendwann in diesem Prozess erinnerte ich mich an die Zwei-Faktoren-Theorie von Frederick Herzberg: Das erste Faktorenbündel sorgt dafür, dass man nicht unzufrieden ist, das zweite dafür, dass die Zufriedenheit steigt. Es geht um die Hygiene, das Umfeld, die Rahmenbedingungen, zu denen auch die Entlohnung gehört. Der zweite Bereich, die sogenannten Motivatoren, aber umfasst Felder wie Anerkennung und Verantwortung, selbstverständlich auch Phänomene wie Aufstieg und Erfolg.
Alle, die diese Erfahrung teilen, werden auch den Wunsch äußern, dieses Engagement würdigen zu können. Es wäre keine verrückte Idee, auch darüber die Identifikation mit einer Institution zu stärken. Denn Teamgeist steht in der Regel nicht an erster Stelle, wenn über die Prinzipien einer Universität nachgedacht wird. Die beteiligten Soft- und Hardwarekomponenten wurden auf eine harte Probe gestellt. Gelegentlich machte sich auch eine Anspruchsmentalität breit, die der Gesamtsituation nicht angemessen war
Den Schwung nutzen
Digitalstrategien lösen schon seit langem keine Begeisterungsstürme mehr aus. Vielleicht liegt es an dem eher langsamen Format und den ständigen Wiederholungen, gepaart mit einer Vorliebe für Verlust-Metaphern, die die Notwendigkeit, endlich zu handeln, betonen. Diese Wahrnehmung spiegelt sich auch in der folgenden Beobachtung: "Denn 'Digitalisierung' selbst kennt die Zukunft nur als ständig drängendes Update einer sich in ihr stets wiederholenden Gegenwart." (Claus Pias)
Unter dem Dach großer Forderungen leben viele weiterhin von Tag zu Tag. Trotzdem: Es wird Zeit für ein dauerhaftes, also nachhaltiges Investitionsprogramm in zentrale Felder der IT-Versorgung und die Anpassung der entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen. Es beginnt mit dem Campus-Management, das noch zu viele Medienbrüche aufweist. Es geht weiter bei der Basisausstattung der Büroarbeitsplätze an den Hochschulstandorten, setzt sich fort bei der Gewährleistung guter Gelegenheitsstrukturen (z. B. Home Office, mobiles Arbeiten).
Die ungleichen Bedingungen des Netzzugangs müssen auf absehbare Zeit der Vergangenheit angehören, Speicherprobleme sollten im 21. Jahrhundert nicht mehr auftreten. Die IT-Sicherheit muss personell und strukturell verankert werden, die Lehre und die Forschung benötigen virtuelle Umgebungen, die den Lehrenden und den Studierenden gute Bedingungen für Wissenschaft und den sich daran anschließenden Austausch gewährleisten.
Das unerwartet eingetretene kollektive Selbstlernprogramm im Bereich der Digitalisierung wäre ein guter Einstieg in den systematischen Aufbau von Weiterbildungsangeboten, die auch virtuell verschiedenen Zielgruppen zugänglich sein können. Auch für das Studierendenmarketing, das Schnupperstudium, für Brückenkurse usw. - kurzum, für alle Themen, die seit langem vorwiegend debattiert wurden, sollten nun bald die Praxiserfahrungen dominieren.
Die Didaktik aus der Ecke holen
Lehrpreise für die digitale Lehre haben eine erst junge Tradition. Vieles spricht dafür, zukünftig die Wertschätzung nicht alleine an das digitale Element zu knüpfen, sondern gute und innovative Lehre zu prämieren. Zentrale Einheiten für die Lehrunterstützung und Lehrentwicklung sind bereits ins Leben gerufen worden. Sie haben während dieses digitalen Semesters vielerorts ein Beratungs- und Serviceangebot aufgebaut, das manche Dozentin und Dozent als willkommenes Navigationssystem in unbekanntem Gelände schätzen gelernt haben.
Didaktik hat sich in der Vergangenheit häufig auf Seitenwegen austoben dürfen, sie wird in den kommenden Jahren stärker in das Zentrum der akademischen Lehre gerückt. Dabei wird ein guter Mix aus analogen und digitalen Inhalten ein wichtiges Markenzeichen sein.
Die Wiedergeburt der Bibliothek
Manche Debatte über die Zukunft der wissenschaftlichen Bibliothek war von dem Gedanken getragen, dass diese gigantischen Bücherregalspeicher von diversen Formen des digitalen Zugriffs verdrängt werden. Die "Abwesenheits"-Universität hat uns nicht nur vor Augen geführt, wie wichtig eine Campusatmosphäre ist. Sie hat insbesondere Engpässe in der Informationsversorgung offenbart.
Für studentische und wissenschaftliche Qualifikationsprozesse ist diese Zeit eine besondere Herausforderung. Wissenschaftliches Arbeiten hatte durchaus komfortable Elemente. Nun stand man zunächst vor verschlossenen Türen. Archivreisen, Tagungen, Kolloquien und Workshops fielen aus. Viele fühlten sich auf sich selbst verwiesen und mussten für dieses reduzierte Handlungsspektrum einen Rhythmus und Fahrplan entwickeln.
Die hektischen Tage vor dem verspäteten Semesterbeginn drehten sich um sehr banale Fragen: Wie erreiche ich die Studierenden? Machen Stundenpläne jetzt eigentlich Sinn? Geht das alles von zuhause? usw.
Schnell wurden E-Book-Pakete geschnürt, damit die digitale Lehre nicht vorwiegend zunächst vor Scannern verbracht werden musste. Digitale Semesterapparate sind komfortabel, aber sie müssen erstellt, geprüft und gepflegt werden, auch unter Urheberrechtsgesichtspunkten. Aber nicht nur das: Die digitale Welt rühmt gerne ihre Offenheit, die gelegentlich aber sehr teuer daherkommt. E-Book-Pakete und Datenbanken strapazieren die Bibliothekshaushalte der Hochschulen. Mühsame Urheberrechtsdebatten verhindern den uneingeschränkten Zugang und die Verwertung des vorhandenen Wissens.
Das Akronym DEAL steht sinnbildlich für die Gesamtsituation. Unter diesem Namen führt die Hochschulrektorenkonferenz mit großen Wissenschaftsverlagen Verhandlungen über den Zugriff auf Inhalte, die sie, die Wissenschaft, selbst erarbeitet hat - das ist in gewisser Weise auch etwas verrückt.
Die Pandemie hat somit an dieser Stelle an überfällige Reformen erinnert. Das beginnt bei pragmatischen Erwägungen, die die Mittelverteilung in Bibliotheksetats betreffen. Wer vorschlägt, die Mittel von analogen zu digitalen Medien umzuschichten, stellt verwundert fest, dass es keinen signifikanten Rückgang bei den klassischen Buchbestellungen zu geben scheint. Aber trotzdem geht es nicht um eine digitale Zweitwelt. Die Bibliothek erlebt in ihren Mauern eine Veränderung des Umfelds. Das Buch wird nicht zum Beiprodukt, das sich nur noch in den vielen Bildschirmen der Nutzerinnen und Nutzer spiegelt. Es erlebt eine positive Form der Koexistenz mit anderen Medien.
Zugleich ist das, was in einer Bibliothek gefunden und genutzt werden kann, mit einem aktiven Speicher vergleichbar: Medienkompositionen werden verwaltet und geöffnet, Texte werden zu Suchräumen, die intelligent vernetzt sind, Daten in einem weiteren Sinne werden lesbar gemacht.
Die Bibliothek wirkt vermehrt durch ihre Atmosphäre und gewinnt an Zuspruch durch die Gewährleistung einer Arbeitsumgebung, die eine hohe Informationsqualität sicherstellt. Diese war einmal bestimmt von Büchern, Fachzeitschriften und opulenten Quellensammlungen. Die Techniken wissenschaftlichen Arbeitens führen heute seltener zwischen imposante Regalwände. Aber sie vermitteln unvermindert eine Aura, die ein PC-Pool oder der heimische Schreibtisch nicht erzeugen können. Form und Inhalt gehören auch hier zusammen. Regale werden verrückt, aber nicht der Wert der Institution.
Die fragilen Strukturen
Während dieses raschen Strukturwandels stand in der Regel zumeist ein "Wir brauchen…" im Vordergrund. Es ging um rechtliche Absicherungen, um das Vermeiden von Benachteiligungen, um die Bewältigung ungeahnter Mengenabfragen, um die Gewährleistung von Zugängen, um die Datensicherheit von unbekannten Softwareprodukten, um Speicherlösungen, um Handreichungen für Aufzeichnungstools usw. Mit diesem rechtlichen und technischen Installationsmarathon verschoben sich aber auch schnell spürbar die Diskussionen von reinen Implementationsfragen hin zu qualitativen Überlegungen.
Natürlich hatte man auch einen Systemzusammenbruch vor Augen oder - eher unausgesprochen - die Abhängigkeit von einer neuen Monokultur, die eben nicht mehr aus eigener Kraft am Leben gehalten werden kann. Die systemischen Abhängigkeiten werden besonders deutlich, wenn nahezu alles auf die Zwischenschaltung von Technik angewiesen ist. Die Fälle vorübergehend lahmgelegter Institutionen nehmen erkennbar zu. Auf Dauer steigert das die Vulnerabilität. Hier liegen Zukunftsaufgaben für die IT-Allianzen, die sich mittlerweile bundesweit etabliert haben.
Im Falle des Datenschutzes sind nahezu alle Einrichtungen in den letzten Wochen auf Sicht gefahren, auch getragen von Berichten, die Sicherheitslücken und andere Gefährdungslagen, die im Umgang mit bestimmten Softwareprodukten auftreten können, aufdeckten. In dieser Gemengelage ist eine Vielzahl sehr pragmatischer Entscheidungen getroffen worden, damit bestimmte Plattformen überhaupt zur Verfügung standen.
Die meisten Entscheidungen fielen dezentral. Die erforderliche IT-Umwelt wurde weitgehend in Eigenregie aufgebaut. Die IT-Welt, die uns doch stets das Grenzenlose vor Augen führt, schrumpft auf Schollenlösungen zusammen. DeLillos Idee der einen Universität scheint auch auf dieser Ebene gar nicht gewollt zu sein.
Gremien und Termine
Unter den Statussymbolen des modernen Menschen erscheint Zeitknappheit eine besondere Symbolkraft zu haben. Vor Jahren hieß es dazu einmal: "Wer Zeit hat, macht sich verdächtig." Nun nehmen Äußerungen zu, die das flexible Arrangement von kurzen Zusammentreffen loben und den Zeitgewinn durch Mobilitätsverzicht zu schätzen lernen. Auch wichtige Besprechungen, denen vormals lange Terminabstimmungsrunden vorausgingen, sind rascher arrangiert.
Das Hochschulwesen wird getrieben von Terminen. Gremien und Kommissionen, Ausschüsse und Arbeitsgruppen sind wichtige Steuerungs- und Diskussionsorte. Viele Regelungen, insbesondere solche, die die Entscheidungsfindung und das Abstimmen über Vorschläge betreffen, rühren noch aus einer Zeit, in der es allenfalls erste Vorstellungen von digitalen Alternativen gegeben hat. Die Präsenzveranstaltung sollte nach wie vor die erste Lösung sein, aber das Debattieren, Austauschen, Präsentieren usw. geht in virtuellen Umgebungen mittlerweile häufig auch sehr komfortabel.
Es wäre nicht verrückt, aber ein Rückschritt, wenn die Flexibilität, die jetzt geschaffen wurde, als eine Episode des akademischen Organisationswesens zu den Akten gelegt würde. Insofern sind es nicht nur Satzungen, die in dieser Hinsicht einer Revision bedürfen, sondern auch übergeordnete Regelwerke, beispielsweise Hochschulgesetze. Hier benötigen wir die erforderliche Flexibilität nicht um der Flexibilität willen, sondern um zukünftig auf vergleichbare Situationen ohne lange und wiederkehrende Grundsatzdebatten reagieren zu müssen. Niemand äußert diesen Wunsch, um Grundrechte außer Kraft setzen zu dürfen.
Das schnelle Home Office
Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war Home Office angesichts des relativ schnell erfolgten Notbetriebs fast alternativlos. Der Fokus lag auch nicht so sehr auf der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern als fast ebenso alternativlose Lösung auf unterschiedlich ausgeprägten Präsenzpflichten zuhause, die aus dem weitgehenden Stillstand aller Funktionssysteme unserer Gesellschaft resultierten.
Für die Arbeits- und Ablauforganisation kam dies völlig unvorbereitet. Aus den Erfahrungen dieses forcierten Zuhause-Arbeitens haben wir eher unverhofft gelernt, was unter schwierigen Bedingungen alles geht, was aber auch keineswegs auf Dauer gestellt werden darf. Zugleich traten Ungleichheiten zu Tage, die den fast schon vergessenen Digital Divide in der Belegschaft deutlich machte. Wenn die Arbeitsorganisation zukünftig weiter flexibilisiert werden soll, bedarf es hier deutlich weitreichender Investitionen, vor allem für das private Umfeld. Aber auch für die Büroausstattung vor Ort kann man aus dieser Krise lernen. Keine Kamera, kein Headset, der Browser blockiert, "Das wird bei mir nicht angezeigt" - die Liste der Defizite klingt angesichts der "Monitor"-Vision von DeLillo ebenfalls verrückt.
Internationale Leere
Zu den Verlierern der Pandemie gehören in der akademischen Welt des Jahres 2020 Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler, Austauschstudierende und Stipendiatinnen und Stipendiaten, die einen Teil ihrer Studienjahre oder ein komplettes Studium an einem von ihnen präferierten Ort verbringen wollten. Auch internationale Forschungsaktivitäten, der Austausch auf internationalen Tagungen, die Austragung gemeinsamer Konferenzen usw. - diese besonderen Elemente des wissenschaftlichen Arbeitens vermissen gegenwärtig viele.
Natürlich lässt sich unter diesen Bedingungen auch weiter forschen, aber ein Jahr nach dem Jubiläumsjahr Alexander von Humboldts spürt man, wie klein die Welt auf einmal, zumindest vorübergehend, wieder sein kann. Die Wertschätzung für das Internationale wird dadurch gewinnen. Aber in der aktuellen Situation muss der Blick auch auf alle gerichtet sein, die ihr Studium nicht außerhalb ihrer Heimatuniversität fortsetzen können. Das gilt für Incomings und Outgoings gleichermaßen.
Kooperation und Eigenständigkeit
Kooperation und Eigenständigkeit müssen sich nicht ausschließen. Die Situation der letzten Wochen hat mehrfach gezeigt, dass es gut ist zu kooperieren, aber ebenso ist gezeigt worden, dass es gelegentlich gut ist, eigenständig handeln zu können. Der Zwang der Verhältnisse hat beides erforderlich gemacht. Viele Reaktionen waren ähnlich, manche haben leider zu unnötigen Vergleichen geführt und es lokal erschwert, bestimmte Entscheidungen konsequent durchzuhalten.
Auch die digitale Lehre selbst ist ein gutes Beispiel für das Zusammenfallen von Gemeinsamem und Individuellem: Ohne Arbeitsgruppen für Digitale Lehre und das von dort aufgebaute Beratungsumfeld und -angebot wären einige nicht in der Lage gewesen, eigenständig weiterarbeiten zu können. Ohne den Erfahrungsaustausch in den digitalen Kursen selbst, also zwischen Lehrenden und Lernenden, wären manche kreativen Vorschläge wohl auch auf der Strecke geblieben. Insofern ist die fehlende Präsenzlehre nicht durch ein anonymes Technik-Setting ersetzt worden. Nicht der Monitor sprach zum Monitor, sondern Mitglieder einer temporären virtuellen Gemeinschaft, die auch den Alltag des Seminarraums kennen. Es wird am Ende auch interessant sein, wie dieser Vergleich ausfallen wird.
Vielleicht …
Vielleicht werden wir die Wahrnehmung unserer Außenwelt über einen geteilten Bildschirm, die vielen Office-Eindrücke und Wallpaper-Präferenzen bald vermissen. Vielleicht werden aber auch die guten Mischungen analoger und digitaler Elemente an Bedeutung gewinnen.
Ob sich Technologie als Treiber für didaktische Neuerungen erweist, wird ebenfalls die Praxis zeigen. Webkonferenzen, virtuelle Seminarräume, das große Spektrum der neuen "Tools" - wir werden sehen, ob das immer die zweitbesten Lösungen sind. Vielleicht werden wir noch lange darüber schmunzeln, was alles als digitale Lehre durchging. Ein "Kommunismus der Genialität" (Markus Orths) könnte es auch gewesen sein, zumindest fiel gelegentlich der Begriff "surreal".
Aber die Herausforderung selbst war schlicht sehr real und wurde auch mehrheitlich angenommen. Der plötzliche Stillstand schuf Raum für Kreativität. Vielleicht werden wir zukünftig besser erklären können, was Statik und Dynamik unterscheidet. Und wer sich an den März und April 2020 zurückerinnert, der wird doch irgendwann sagen: "Das war doch verrückt, oder?"
Prof. Dr. Michael Jäckel ist Soziologe, Präsident der Universität Trier und derzeit Präsident der Landeshochschulpräsidentenkonferenz Rheinland-Pfalz, Mitglied des Hochschulforum Digitalisierung und Mitglied des Rats für Informationsinfrastrukturen.