Wie wahrscheinlich ist eine chinesische Invasion in Taiwan?
Seite 3: Es besteht keine Eile
Es kommt noch ein weiterer Faktor hinzu. Chinas Führung scheint zu dem Schluss gekommen zu sein, dass die Zeit für sie arbeitet – dass das taiwanesische Volk sich schließlich freiwillig für eine Vereinigung mit dem Festland entscheiden wird. Dieser Ansatz wird in Beijings jüngstem Weißbuch "The Taiwan Question and China's Reunification in the New Era" (Die Taiwan-Frage und die Wiedervereinigung Chinas in der neuen Ära) dargelegt, das im vergangenen August vom Büro für Taiwan-Angelegenheiten des Staatsrats der VR China veröffentlicht wurde.
Mit dem zunehmenden Wohlstand in China, so das Papier, werden die Taiwaner – insbesondere die jungen – immer größere Vorteile in der Wiedervereinigung sehen, was die Attraktivität der Unabhängigkeit oder eines "Separatismus" schwinden lässt.
Chinas Entwicklung und Fortschritt, insbesondere die stetige Zunahme seiner Wirtschaftskraft, technologischen Stärke und nationalen Verteidigungsfähigkeiten, sind ein wirksamer Hemmschuh für separatistische Aktivitäten,
… heißt es in dem Papier.
Da immer mehr taiwanesische Landsleute, vor allem junge Menschen, studieren, Unternehmen gründen, Arbeit suchen oder auf dem Festland leben, vertiefen sich die wirtschaftlichen und persönlichen Bindungen zwischen den Menschen auf beiden Seiten, was die Beziehungen über die Meerenge hinweg in Richtung Wiedervereinigung führt.
Man sollte bedenken, dass das kein kurzfristiger Ausblick ist, sondern eine Strategie, die Jahre – sogar Jahrzehnte – brauchen wird, um erfolgreich zu sein. Gleichwohl ist der größte Teil des Weißbuchs nicht den militärischen Bedrohungen gewidmet – die einzigen Teile des Papiers, über die im Westen berichtet wurde –, sondern der Stärkung des bilateralen Handels und der Steigerung der wirtschaftlichen Attraktivität Chinas für junge Taiwaner.
Auf dem Weg eines chinesischen Sozialismus hat das Festland seine Regierungsführung verbessert und ein langfristiges Wirtschaftswachstum aufrechterhalten können,
... heißt es dort.
Infolgedessen werden die Gesamtstärke und der internationale Einfluss des chinesischen Festlandes weiter zunehmen, und damit sein Einfluss auf die taiwanesische Gesellschaft und seine Anziehungskraft.
Hinter einem solchen "Take-It-Slow"-Ansatz steckt sicherlich die Erkenntnis, dass eine Militäraktion gegen Taiwan eine Katastrophe für China bedeuten könnte. Doch was auch immer die Gründe für die Planung sind, es scheint, dass die chinesische Führung bereit ist, enorme Ressourcen zu investieren, um die Taiwaner davon zu überzeugen, dass eine Wiedervereinigung in ihrem besten Interesse ist.
Ob eine solche Strategie Erfolg haben wird, ist nicht vorhersagbar. Es ist sicherlich möglich, dass die taiwanesische Präferenz für politische Autonomie das Interesse an Geschäftsmöglichkeiten auf dem Festland überwiegt, aber da Beijing darauf die Zukunft ausrichtet, scheint ein militärischer Angriff weit weniger wahrscheinlich. Und das ist etwas, was man heutzutage in einem immer kriegerischer werdenden Washington nicht zu hören bekommt.
Abwägung der Alternativen
Für Außenstehende – geschweige denn für die meisten Chinesen – ist es schwer herauszufinden, was in den geschlossenen Führungsgremien der KPCh in Beijing vor sich geht, und von allen Staatsgeheimnissen sind die Berechnungen der Führung über eine mögliche Invasion Taiwans wahrscheinlich die am besten gehüteten.
Mit anderen Worten: Es ist durchaus möglich, dass Xi und seine Top-Leute bereit sind, bei den ersten Anzeichen eines Unabhängigkeitsbestrebens der taiwanesischen Führung einzumarschieren, wie viele US-Beamte behaupten. In der Öffentlichkeit gibt es jedoch keine Beweise für eine solche Einschätzung, und alle praktischen militärischen Analysen deuten darauf hin, dass sich ein solches Unterfangen als selbstmörderisch erweisen würde.
Mit anderen Worten: Die Schlussfolgerung, dass eine Invasion unter den gegenwärtigen Umständen unwahrscheinlich ist, ist absolut vernünftig – auch wenn man das in der heutigen hektischen Atmosphäre in Washington nicht vermuten würde.
In der Annahme, dass Beijing auf eine Invasion vorbereitet ist, versorgen die Vereinigten Staaten Taiwan bereits mit modernen Waffen im Wert vieler Milliarden Dollar und stärken gleichzeitig ihre eigenen Kapazitäten, um China in einem möglichen Konflikt zu besiegen.
Leider werden solche Planungen über einen künftigen Krieg im Pazifik wahrscheinlich einen immer größeren Teil der Steuergelder verschlingen, zu immer mehr militärischer Ausbildung und Planung im Pazifik führen und, wie der Abgeordnete Gallagher und der republikanische Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, Kevin McCarthy, kürzlich andeuteten, zu einer immer kriegerischeren Haltung gegenüber China führen.
Ist es angesichts der begründeten und wahrscheinlichen Annahme, dass sich die chinesische Führung zumindest in nächster Zukunft gegen eine Invasion entschieden hat, nicht sinnvoll, über eine alternative Politik nachzudenken, die uns alle weniger kostet und uns alle sicherer macht?
Stellen Sie sich vor, es würde eine weniger antagonistische Haltung gegenüber Beijing eingenommen und nach Verhandlungslösungen für einige der Probleme gesucht, die die Länder voneinander trennt, darunter Chinas Militarisierung der umstrittenen Inseln im Südchinesischen Meer und seine provokativen Luft- und Seemanöver um Taiwan. Eine Verringerung der Spannungen im westlichen Pazifik könnte es dann ermöglichen, massive Erhöhungen des Pentagon-Budgets zu vermeiden und so mehr Geld für inländische Prioritäten wie Gesundheit, Bildung und Klimaschutz auszugeben.
Wenn nur ...
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin TomDispatch. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Michael T. Klare ist emeritierter Professor für Friedens- und Weltsicherheitsstudien am Hampshire College und Senior Visiting Fellow bei der Arms Control Association. Er ist Autor von 15 Büchern, von denen das jüngste "All Hell Breaking Loose: The Pentagon's Perspective on Climate Change". Er ist Mitbegründer des Komitees für eine vernünftige U.S.-China-Politik.