Wie werden wir nach Corona wohnen und arbeiten?
Seite 3: Schleichende Privatisierung der Arbeit
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- Schleichende Privatisierung der Arbeit
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Der Home-Office-Insasse ist quasi schon Rentner, bevor er überhaupt in Rente ist. Im Gegensatz zu jenem aber, ist er per Dekret vom Sozialleben ausgeschlossen, welches sich vorher schon fast ausschließlich auf das Arbeitsumfeld beschränkte.
So wurden Millionen von Existenzen privatisiert, also vormals in Gesellschaft Arbeitende zu bloßen Privatexistenzen degradiert. Ihrer Arbeit wurde das wesentliche Element genommen: die Produktion innerhalb von Gesellschaft, der direkte Austausch mit den Kollegen.
Der Fluchtpunkt einer Entwicklung, in der die westlichen Monopole nicht mehr nur in Drittweltländern zu Dumpinglöhnen unsere Waren herstellen lassen, sondern auch in den kapitalistischen Zentren selbst eine Zerschlagung herkömmlicher Berufsbilder vollzieht, indem sie etwa ältere, gut ausgebildete, spezialisierte und entsprechend anständig entlohnte Arbeiter entlässt und durch eine Vielzahl an jungen, unerfahrenen, unausgebildeten und schlecht bezahlten ersetzt, der Wechsel vom Selbständigen zum Fahrradkurier, also vom Beruf zum Job, ist nichts anderes als eine Entberufung der Arbeit.
Die Arbeit, die Berufsfelder, ja die Inhalte der einzelnen Berufe selbst werden auf andere Art verteilt, neu zugeschnitten. So gibt es etwa den Ausbildungsberuf des Buchhändlers schon seit einigen Jahren nicht mehr, und bald dann auch keine Buchhandlungen, stattdessen nur noch Fahrradkuriere, IT-Manager im Homeoffice, Lagerarbeiter und Postboten – allesamt körperlich schädliche Berufe, die kein hohes Renteneintrittsalter ermöglichen und freilich bereits in jungen Jahren schlecht bezahlt und prekär, also befristet, wenn überhaupt vertraglich geregelt sind.
Die Blaupause des Homeoffice scheint die steinzeitliche Höhle zu sein, die nun nicht mehr verlassen werden muss. Die Höhleninsassen sind zurückgeworfen auf die Scholle, den Bereich der bloßen Familie und deren reaktionäre Werte, wie z.B. auf die alten bürgerlichen Geschlechter- und sonstige Rollen- sowie an diese gebundene Reproduktionsarbeitsteilungsvorstellungen, sind zunehmend beschränkt auf ihr jeweiliges Milieu, den Wohnblock, den Kiez, was freilich die weitergehende Privatisierung und damit Idiotisierung der Individuen zur Folge hat und sich somit bestens in die ohnehin vorherrschende Tendenz der Vereinzelung im Liberalismus fügt.
"Auf den ersten Blick", schrieb Achim Szepanski bereits 2015 (in "Digitale Arbeit und Dividuum"), "scheint die Arbeit am PC im positiven Sinne verwirrend, ist sie deshalb aber gegenüber der Arbeit am Fließband befreit? Vielleicht, aber besitzt der Arbeitende am PC auch die Macht, um im Kollektiv die Arbeit niederzulegen und etwa mit dem Management zu verhandeln? Dies natürlich nicht.
Denn die Arbeiter stehen sich heute in den dezentralisierten Produktionsräumen meistens nicht mehr in Angesicht zu Angesicht gegenüber, sie nehmen ihre Stimmen nicht wahr, höchstens vielleicht noch kennen sie ihre E-Mail-Adressen."
Das bürgerliche Wohnen war selbstverständlich schon immer ein anderes, luxuriöseres, als das proletarische, wie auch das Arbeiten: Der Bourgeois, auch der sich politisch links gebende, lebt in der weitläufigen Altbauwohnung im Stadtzentrum, angebunden an die Kulturwelt und ihre Zentren oder im eigenen Haus am Stadtrand. Ihm kann letztlich egal sein, von nun an zu Hause arbeiten zu müssen, vielleicht kommt es ihm sogar ganz recht. Die Privatbibliothek, der Swimmingpool im Garten, die Fitness-Geräte im Keller entbinden ihn von der Abhängigkeit von öffentlichen Einrichtungen dieser Art, welche in der Zeit der Maßnahmen geschlossen sind.
Das bourgeoise Wohnen trübt naturgemäß den Blick auf die realen Verhältnisse derer, denen das nicht vergönnt ist, also der Mehrheit. Der Arbeiter hat meistens nicht mal die Möglichkeit, einzelne Wohnbereiche wie Küche, Schlaf- und Wohnzimmer (geschweige denn Arbeitszimmer) voneinander zu trennen, lebt in beengten Verhältnissen kleiner Mietwohnungen in schlechter Lage, die er meistens noch mit vielen anderen zu teilen hat.
Die Verschärfung dieser Lage allerdings hat ihre primäre Ursache nicht, wie von allerlei Politikern und ihren Anhängern behauptet, in der "Pandemie", sondern in der Regierungspolitik während der Pandemie.
Dass das Wohnen als solches innerhalb der letzten 100 Jahre mehr und mehr zum Fetisch wurde, also, die eigene Familienhöhle vorrangig als Rationalisierung der Vereinzelung, als Ersatz für kollektive Bestrebungen diente, mag eine These sein, der man nicht unbedingt wird widersprechen wollen.
Wiederum ist vom sogenannten "Recht auf Wohnen" vor allem bei Linken so häufig die Rede wie von dem aufs Nichtarbeitenmüssen. Nicht zu interessieren scheint sie dagegen ein Recht aufs Nichtwohnenmüssen – womit nicht an Obdachlosigkeit gedacht ist, sondern an die Zurückweisung von nahezu überall zur Selbstverständlichkeit gewordene Häuslichkeit, dem Privatheitsterror, Ikea-Grauen und gemütistischer Innerlichkeit des heimeligem Schollenwesen und was die Instrumente sonst sind, mit denen sich die bürgerliche Herrschaft heute im Privaten durchsetzt.
"Bitte nicht nach Hause schicken", hieß ein Werk des monomanischen Künstlers Martin Kippenberger, der sein Leben nahezu ausschließlich in Cafés, Hotels, Clubs und Kneipen verbrachte, also auch in seinem sogenannten Privatleben so öffentlich sein wollte, wie irgend möglich.
Das Recht auf ein solches, das Privatisieren vermeidende Leben, müsste genauso garantiert sein wie das auf Einsiedelei. Denn beide, der Einsiedler wie der öffentlich Lebende, haben gemeinsam, dass sie das Leben als Praxis und – wo sie Künstler oder Arbeiter sind – Teil des Werks ernst nehmen und nicht aufs bloße Wohnen zurückgeworfen sein wollen: Die dem Privaten entsagende Existenz "wohnt" nicht, weil sie ihren Lebensmittelpunkt aufs Zwischenmenschliche der Öffentlichkeit verlegt.
Und auch der Einsiedler wohnt nicht einfach, sondern geht komplett auf im Wohnen, überwindet dieses also: das Sich-selbst-Beherbergen wird ihm zum Lebenselement schlechthin, anders ist Arbeit, Praxis bei ihm gar nicht vorstellbar. Er hebt damit das Ausgeliefertsein an die Maßgaben des Öffentlichen in ebenso nachdrücklicher Weise auf, wie die öffentliche Existenz das Ausgeliefertsein ans gemütliche Hausen in der eigenen Innerlichkeit aufhebt.
Adornos Sentenz vom Wohnen müsste also ergänzt werden: Nur, wer nicht zu wohnen gezwungen ist, kann wirklich arbeiten, und nur, wer wirklich arbeiten kann, ist nicht aufs Wohnen zurückgeworfen: In beidem steckt die Möglichkeit zu dem, was Adorno "im Falschen" für unmöglich hielt: richtiges Leben.