Wie wir die Kontrolle über die Corona-Technokratie verloren haben

Seite 3: Zweifel werden moralisch disqualifiziert

Die Politik handelt gegenwartsorientiert und hält mit dem Argument der Überlastung des Gesundheitssystems jede Kritik nieder. Wer Zweifel anmeldet, wird moralisch disqualifiziert. Die Frage, ob man die Pandemie ohne größere Einschränkungen hätte laufen lassen sollen, stellte sich faktisch nie – so wie bei früheren Pandemien niemand auf die Idee gekommen wäre, das Leben ganzer Nationen herunterzufahren und man die Opfer als unvermeidlich hingenommen hätte.

Einfach auch schon deshalb, weil kein Staat durch Corona in seiner Existenz bedroht ist (die normale jährliche Todesrate liegt in Deutschland zurzeit bei 1,1 Prozent; Coronatote werden bezogen auf die Gesamtbevölkerung ein Promille zu beklagen sein). Entscheidend ist das gesellschaftliche Umfeld: Vor der Digitalisierung hätte man die Überlastung des Gesundheitssystems mit allen seinen hässlichen Erscheinungen hingenommen.

Der Kritiker von Einschränkungen sieht, dass die Corona-Politik nicht Folge einer besonders schweren Krankheit ist, sieht, wie sich die Risikogesellschaft selbst gefährdet, kann dem berechtigten Einwand, tausende oder hunderttausende zusätzliche Tote in Kauf zu nehmen, in der jetzigen Situation aber wenig entgegensetzen. Der Verteidiger der Corona-Politik übersieht hingegen, dass sich die Frage in einem anderen gesellschaftlichen Kontext anders stellen würde.

Eine zukunfts- oder an den Interessen jüngerer Generationen orientierte Gesellschaft würde die Opfer der Lockdowns miteinbeziehen: den Rückschlag im Kampf gegen die Armut und gegen andere Krankheiten (die häufigste Infektionskrankheit der Welt bleibt Malaria mit über 200 Millionen Fällen pro Jahr, fast alle in Afrika, und über 400.000 Todesfällen jährlich); die sozialen und gesundheitlichen Folgen wie Vereinsamung, Frustration, Schlafstörungen, Depressionen, Angst, Suizidalität, Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt, verschobene Operationen und Arzttermine (mit mehr Herzinfarkten, Hirnschlägen, Krebstoten), Krawalle; die Folgen für Recht (das kurzfristige Hin und Her bei den rechtlichen Regelungen verunmöglicht stabile Erwartungen, die Uneinsichtigkeit vieler Maßnahmen führt zu Verstößen mit bestem Gewissen und untergräbt das allgemeine Rechtsbewusstsein), Bildung (sinkendes Niveau, "abgehängte" Schüler, schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt), Wirtschaft (Arbeitslosigkeit, Pleiten, Schulden).

Grundsätzlich gälte es, das gute gegen das bloße Leben abzuwägen - also etwa zu fragen, was die in Alters-, Pflegeheimen vermiedenen Opfer durch die zusätzliche Lebenszeit qualitativ gewinnen. Zu solchen Überlegungen sind Gesellschaft und Politik zurzeit nicht bereit.

Die Gesellschaft hat sich eine alternativlose, gegenwartsorientierte, für viele gesellschaftliche Bereiche hochriskante Politik verordnet. Das gilt auch für die Politik selbst, genauer: für die liberale Demokratie und ihre gesellschaftlichen Freiheiten. Denn auf die Probleme der Corona-Politik kann wiederum nur die Politik reagieren. Statt einem Rückzug der Politik aus der Gesellschaft ist so ihre weitere Politisierung zu befürchten.

Stehen dann, nachdem die Digitalisierung schon die Corona-Politik technisch ermöglicht hatte, neue Versuche technokratischer Steuerung und Überwachung mithilfe digitaler Techniken an? Ist der autoritäre Staat das Modell der Zukunft? Oder überzeugt der vermeintliche Sachzwang nur im Falle von Corona (und im Kampf gegen terroristische Gefahren)? Warum nicht ebenso beim Klima? Wird sich gegen fortgesetzte Freiheitseinschränkungen ernsthafter politischer Widerstand rühren? Bleibt Corona eine Ausnahme?

Sigbert Gebert, Dr. phil., Dipl.-Volksw., geboren 1959, studierte Philosophie, Politik, Soziologie und Volkswirtschaft in Freiburg (Brsg.) und Basel. Lebt als Privatgelehrter in Freiburg und Zürich. Veröffentlichungen u.a. "Sinn - Liebe - Tod" (2003), "Die Grundprobleme der ökologischen Herausforderung" (2005), "Philosophie vor dem Nichts" (2010), zahlreiche Aufsätze/Essays zu philosophischen, psychologischen, soziologischen, politischen Fragen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.