Wiederkehr der Zwei Kulturen?
Wissenschaftskriege: Sokal-Affaire
Das Auseinandertriften der Zwei Kulturen hatte bereits vor geraumer Zeit von Snow thematisiert. Heute haben sich die Geistes- und Kulturwissenschaften wieder hinter wirren Theorien verschanzt und gefallen sich in der Verachtung gegenüber den Wissenschaftlern, die andererseits wieder nichts von den weichen Theoretikern halten. Timothy Druckrey kommentiert die "Sokal-Affaire", die sich an einem parodistischen Beitrag eines Physikers in einer sozialwissenschaftlichen Zeitung entzündete, und verweist auf den Rössler-Fall in Deutschland.
Wenn unsere autoritäre Technik einmal mit der Hilfe neuer Formen der Massenkontrolle, ihrem Spektrum von Tranquilizern, Sedativa und Aphrodisiaka ihre Macht konsolidiert, könnte dann die Demokratie in irgendeiner Form überleben?
Lewis Mumford
Es ist interessant, daß Mumford in der "großartigen Bestechung" der Technik die therapeutischen und illusorischen Narkotika sieht, die zwar zur Betäubung oder Stimulation dienen können, aber keine Opposition gegenüber der Autorität erlauben. Der Zwang zum Gebrauch diagnostischer, therapeutischer, disziplinarischer oder analytischer Zugänge zur elektronischen Kultur stellt mittlerweise eine komplexe Spannung zwischen den Wissenschaften im allgemeinen und den entstehenden Diskursen der Technowissenschaft dar. Einige aktuelle Ereignisse haben eine wechselseitige Anklage zwischen den Bereichen der Wissenschaft, Kunst, Psychoanalyse, Soziologie und Kulturwissenschaft gezeigt. Die Verweigerung, die klaren gesellschaftlichen Veränderungen am Ende des Jahrhunderts nicht nur als Symptome der Verunsicherung zu sehen, scheint allgemein zu sein. Selbst die Imagination, die vielgepriesene Verbindung zwischen dem Aufklärungspaar Kunst und Wissenschaft, geriet in den Verdacht, als deren reziproke Ziele ihr Privileg zerstörten, in Bezug auf Erkenntnis oder Kreativität selbstgenügsam zu sein.
Die Stützung der normativen Ideologie, in der diese Konflikte entstehen, scheint dem atemlosen Keuchen der Akademien, des Staates, der Sozial- und Naturwissenschaften und der Künste zu gleichen, mit dem sie in einem System nach Legitimität suchen, das durch seine oft regressive Rhetorik und durch die unübersteigbaren Herausforderungen der Technik zerfällt, die jede reflexive Kontrolle überschreitet. Anstatt einer totalitären Wissenschaft und Technik (in all ihren Verkleidungen) finden wir eine marktorientierte Technik, die planetarische Projekte entwickelt. Deren Effekte entziehen sich der materialistischen Analyse und widerstreiten den Utopien der Technophilen, die märchenhaften Illusionen gleichen.
Die Vermarktung des Netzes als einer Art anarchistischer Kollektivität hat sicher der Kommunikationsindustrie in die Hände gearbeitet, aber sie hat auch zu Widerstandsbewegungen in überzeugenden Formen geführt. Wir können sehen, daß die politische Macht der Zapatistas, die von der repressiven mexikanischen Regierung verfolgt wurden, oder die des studentischen Widerstands in Serbien, der von den Radiosendern B92 und Radio 101 ausging, in ihrer internationalen Wirkung wegen der sehr realen Macht des Netzwerks, die Nachrichtenkontrolle oder Zugangsbeschränkungen zu hintergehen, weit über die Verbreitungsmöglichkeiten durch eingeschränkte Reporter oder begrenzte Signale hinausreichte.
Obgleich diese Beispiele einen befreienden und unregulierten Aspekt der Cybermedien zu zeigen scheinen, befinden sich die sie umgebenden Systeme in einem Durcheinander, der von den postmodernen Theoretikern durchstöbert wird. Sie haben den Begriff der Autorität untergraben und fanden sich dann selbst in einem Zustand pathetischer Rechtssprechung wegen der Ausnutzung des freien Marktes durch die Fundamentalisten (von Christian Right und militanten Gruppen bis hin zum Wiederaufleben von Moslemsekten) und dem Schutz der freien Meinung auf dem Web, wegen der Dominanz von Unternehmen, deren "Autonomie" von der Politik einen der deutlichsten Hinweise auf die Ausdifferenzierung der Macht darstellt, oder der Vermarktung von Pseudowissenschaften als einem logischen Fortschritt von den Naturwissenschaften, welche die modernen Phantasmen der Naturbeherrschung begründet haben. Das ist die vernetzte Welt, in der "Being Digital" überzeugender ist als das "Sein und das Nichts", in der die Virtualisierung von Macht eine Zwei-Weg.Straße ist, die von Werbeleuten bevölkert ist, die "silicon snake oil" und globale Betriebssysteme verkaufen, in der die Epidemiologie der Künstlichkeit mit dem elektronischen Prozac befriedigender Allgegenwärtigkeit und der Szenevirtualität von geistlosen Managervisionären gestützt wird.
Aber der "stabile Zustand", der bei den elektronischen Disziplinen der Biologie, der Neurokognition, des Künstlichen Lebens und/oder Intelligenz, der Cyberdemokratie, der ortlosen Macht, der elektronischen Wirtschaft oder der um sich greifenden Überwachung vorherrscht, kann nicht über eine Wiedererfindung einer einfachen Dialektik oder durch seine Analyse innerhalb der traditionellen Diskurse der Soziologie, Psychoanalyse oder kritischen Theorie aufrechterhalten werden. Die provisorischen und schnell sich verändernden Quellen der Macht, die sich hinter den Metaphern der offenen Systeme, den technischen Protokolle und den Mystifikationen der Cyberdemokratie sowie einem hervorstechenden Mangel ernsthafter Theoriebildung verbergen, haben eine Art nomadisches Management entstehen lassen, das paradoxerweise durch die fehlende Zentralität und seine unmittelbare Anknüpfung an die technische Vernunft begründet ist. Die wenig profitablen Disziplinen der Kulturwissenschaften, die Psychoanalyse und die Soziologie, haben in den jetzt zwar finanziell beschnittenen akademischen Institutionen einen sicheren Unterschlupf oder ihre Selbstbezüglichkeit gefunden und scheinen nicht in der Lage zu sein, sich mit den sozialen, kulturellen und individuellen Veränderungen auseinanderzusetzen, welche die Grenzen zwischen Denken und Erfahrung, Identität und Singularität gesprengt haben. Unterstützt von Vorstellungen konstanter Unmittelbarkeit, sich verwandelnder und schizoider Selbstheit, den noosphärischen Illusionen oder zunehmend regressiveren "Öffentlichkeiten" der Cybersphäre besteht die Herausforderung für die Sozialwissenschaften darin, sich dem Wandel zu stellen, um träge, rhetorische und oft essentialistische beobachterzentrierte Modelle, deren Wirksamkeit immer geringer wird, zugunsten von adaptiven Systemen aufzugeben. Nur so können die sich verändernden politischen Felder, wie sie von der Technikindustrie umschrieben werden, die Subjektivitäten, die von den Kommunikations-, Neuro- und Kognitionstechnologien erweitert werden, oder die "Öffentlichkeiten", nachdem die Bereiche einer lokalen Kommunikation in Zonen sich bekämpfender Nationalismen zerfallen, als Zeichen für die Veränderung auftauchen, in der Instabilität selbst kontingent und stituationsbedingt ist.
Sich beschleunigende Systeme von Kommunikations-, Repräsentations-, Computer- und Medizintechnologien versorgen die Gezeitenwechsel mit Energie. Und während die zusammenbrechenden Grenzen zwischen diesen Bereichen jeden Versuch eines "vereinheitlichten Feldes" - wenn es dies jemals geben könnte - in Frage stellen, ist es entscheidend, die Verbindungen und Verschmelzungen zu erkennen, die den traditionellen Bewertungen trotzen. Deren Voraussetzungen können nicht erfassen, daß die Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht mit den Managementideologien der Gesellschaftstheorien verstanden werden können. Die Umweltkrise ist in den Tagesnachrichten genauso offensichtlich vorhanden wie der Versuch, eine gemeinsames Fundament für die Biogenetik und die Psychoanalyse, die Chaostheorie und die Kreativität, die Ökonomie und die gesellschaftliche Stabilität, die wissenschaftliche Forschung und Geisteswissenschaften oder für die Soziologie und den Cyberspace zu finden.
Die Sokal-Affaire
Im Frühjahr 1996 stellte Social Text eine Sonnernummer unter dem Titel "Science Wars" zusammen. Das Programm stand auf dem Umschlag: "Als Teil der Kampagne gegen 'political correctness" werden Geschichte und Theorie der Wissenschaften einer genauen Prüfung unterzogen. In diesem Sonderheft antworten viele der im Bereich der Gesellschafts- und Kulturtheorie der Wissenschaften führenden Forscher auf aktuelle Diskussionen." Das Heft "Science Wars" bestätigte sich selbst wahrscheinlich mehr als seine Herausgeber erwartet hatten. Es reflektierte nicht nur kulturelle Auswirkungen der Wissenschaft, sondern konzentrierte die Aufmerksamkeit auf die Probleme in einer Form, die noch immer Folgen zeigt. Unter den bekannten Autoren (Sandra Harding, Hilary Rose, Langdon Winner, Stanley Aronowith u.a.) fand sich auch Alan Sokel, ein Physikprofessor der New York University. Sein Text "Die Überschreitung der Grenze: eine transformative Hermeneutik der Quantengravitation" wurde in der Zeitschrift "Lingua Franca" vom Mai 1996 als Fälschung entlarvt, die, so Sokal", verfaßt wurde, "um einen gegenwärtig modischen postmodernen/poststrukturalistischen/gesellschaftskonstruktivistischen Diskurs und, allgemeiner, einen Hang zum Subjektivismus zu bekämpfen, die für die Werte der Linken von Nachteil sind."
Das ganze Heft war voll mit Diskussionen über die "scharfen Auseinandersetzungen" (Winner) und einem Portrait "der Wissenschaftstheoretiker als Wissenschaftszerstörer, unwissenden Warnern, verblendeten Ideologen, dogmatischen Feministinnen oder bestenfalls dummen, schrulligen, wirren, trübsinnigen, radikalen oder linken Denkern" (Dorothy Nelkin), das sich in einem Buch findet, an dem sich die Antworten der "Science War" Debatte ausrichten sollten: "Higher Superstition: The Academic Left and Its Quarrels with Science" von Paul Gross und Norman Levitt (John Hopkins University Press, 1994). Dieses Buch griff den "wirren" und "falschen" Diskurs der postmodernen Kritik an, weil er unfähig sei, die Widersprüche zwischen seinem antiwissenschaftlichen Programm und der Nützlichkeit des Verständnisses vom wissenschaftlichen Fortschritt zu lösen. Den Trugschlüssen des fanatischen und reaktionären Buches von Gross und Levitt sollte man sich innerhalb der akademischen Linken dringend zuwenden. In zu vielen Hinsichten war "Social Text" ein ideales Angriffsziel. Die "Sokal-Affaire", wie sie in einer Web-Site genannt wird, hat einem bereits deutlichen Konflikt neue Nahrung gegeben, in ihn einen noch tieferen Keil geschlagen und durch die Leichtgläubigkeit die Kluft zwischen Wissenschaft und Kulturtheorie verstärkt. Sokals Text ist angefüllt mit Beschreibungen, deren sophistische und parodistische Form schmerzlich deutlich ist:
"Aber tiefe begriffliche Veränderungen in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts haben diese cartesianisch-newtonianische Metaphysik untergraben; neue Untersuchungen in Geschichte und Philosophie der Wissenschaften haben an ihrer Glaubwürdigkeit weitere Zweifel erbracht, und seit kurzem haben feministische und poststrukturalistische Kritiken das hinter der Fassade von 'Objektivität' verborgene Wesen entmystifiziert. So wurde immer deutlicher, daß die materielle 'Realität' genauso wie die soziale 'Realität' schließlich ein soziales und linguistisches Konstrukt ist."
Im letzten Kapitel sagt Sokal, daß "Quantengravitation in dieser Hinsicht eine archetypische postmoderne Wissenschaft" sei, die "eine starke Widerlegung des in der traditionellen Wissenschaft immanenten Autoritären und Elitären darstellt." Hin- und herschweifend zwischen "Derrida und der Allgemeinen Relativität", "Irigaray und der Quantengravitation", der "Stringtheorie", "Lacan und der Topologie" ist sein Text so lächerlich, daß jede Verteidigung unmöglich zu sein scheint. Sokal schreibt in seiner Aufdeckung: "Nachdem ich die Realität als eine Bedingung der Wissenschaft abgeschafft habe, schlage ich vor (wiederum ohne Begründung), daß Wissenschaft, um "befreiend" zu sein, politischen Strategien untergeordnet werden müsse." Auf die Frage, warum er dies tat, antwortet er, daß dann, "wenn alles rhetorisch und ein 'Sprachspiel' ist, auch die innerliche logische Konsistenz überflüssig ist: eine Patina theoretischer Sophistik ist genauso gut. Unbegreiflichkeit wird zu einer Tugend; Anspielungen, Metaphern und Wortspiele ersetzen Evidenz und Logik."
Die Reaktion (und der weitere Nachhall) von Andrew Ross und Bruce Robbins, den Herausgebern von "Social Text" ist selbst faszinierend. Sie klagen Sokal auf verschiedene Weisen an: "eine emotionale Umwendung oder eine Kehrtwendung seines intellektuellen Vorsatzes", eine "Verletzung der Moral", und berichten von ihren anfänglichen Reaktionen: "Zunächst empfanden wir Sokals unaufgefordert eingesandten Beitrag als ein wenig unsinnig. Nicht jeden Tag erhalten wir eine dichte philosophische Abhandlung von einem Physiker ... Man kann darüber streiten, ob der Text von Sokal von einem prüfenden Physikkollegen als unter der Norm beurteilt worden wäre (er ist letztlich kein wissenschaftlicher Beitrag zur Disziplin der Physik), aber das ist für uns schließlich nicht wesentlich, zumindest nicht nach den Kriterien, die wir anwenden. ... Zusammenfassend stimmt die Annahme Sokals nicht, daß seine Parodie die wirren Herausgeber von Social Text während der Arbeit im Schlaf überrascht habe. Auch wenn es eine Parodie ist, dann ändert das unser Interesse an diesem Artikel als einem symptomatischen Dokument nicht wesentlich."
Das ist eine ziemlich wackelige Logik, die sicher den Skeptizismus erhöhen wird. Sie fördert die höhnischen Angriffe der Rechten auf die Gesellschaftskritik und schwächt die Bereitschaft der wissenschaftlichen Gemeinschaft, sich aktiv mit Kulturtheorien zu beschäftigen. Geht man zu sehr in die Defensive, dann verschlimmert man nur die Situation. So wurde eine defensive und abgedroschene "Widerlegung" eines hervorstechenden editorischen Fehlgriffs erst offenkundig. Das Heft "Science Wars" wurde später als eine Anthologie mit einigen zusätzlichen Aufsätzen veröffentlicht - aber ohne den Text Sokals! Während die Herausgeber von "Social Text" so eine Position verteidigen, die in "Higher Superstititional" als "unentschlossen und dünn" dargestellt wurden, nahmen sie, eingetaucht in Rechtfertigung, davon Abstand, die Glaubwürdigkeitsprobleme entschlossen anzugehen und den Text nicht nur als "symptomatisch" zu betrachten, sondern als entscheidenden Teil des Problems aufzugreifen. Den Aufsatz als eine "dichte philosophische Abhandlung" zu bezeichnen, scheint entweder unproduktiv witzig zu sein oder eine völlige Ignoranz gegenüber den Verbindungen zwischen Philosophie und Wissenschaft zu zeigen. Beide Wege führen nicht zum Sieg. Stattdessen betrachtet Ross den Text von Sokal ( in einer unnötigen Anmerkung am Ende der Einleitung zur Anthologie) als eine "falsche Version von Wissenschaftstheorien, die von vielen für bare Münze genommen worden ist, die nicht mehr als diesen Artikel und die Zeitungsberichte über ihn gelesen haben. Das Ergebnis war die Ablenkung der Aufmerksamkeit von den glaubwürdigen Stimmen in diesem Bereich ..." Eine dürftige Logik trifft auf eine pathetische Begründung.
(Anmerkung: Offenbar schlägt die Sokal-Affaire neuerdings auch in Frankreich ein, auch wenn sie Deutschland noch nicht erreicht hat. Frankreichs Intellektuelle und Philosophen waren ja auch die vornehmlich von Sokal wegen ihrer unsinnigen Sprache Angegriffenen. Die schicke, im modischen philosophischen Trend liegende Abschaffung jeder Art von Realität und deren Überführung in einen bloßen Diskurseffekt, vorgetragen im Jargon der Quantenphysik mit reichlich absurden Behauptungen und des Poststrukturalismus, wird von Sokal ironisch als Erfolg der Linken gefeiert. Man müsse ja nicht alles verstehen, was ein Experte so schreibt, versicherten die blamierten Herausgeber von Social Text. Man müsse auf die Ehrlichkeit also der Experten vertrauen. Das als Maxime zu nehmen, ist für die Wissenschaft natürlich ein Desaster. Der Wissenschaftsphilosoph Bruno Latour meinte lediglich, daß die Franzosen von der Tradition Gaston Bachelards beeinflußt wären und deshalb sowieso davon ausgingen, daß Fakten stets konstruiert seien. Ein französischer Soziologe sah in Sokals Parodie nur einen "anti-europäischen Nationalismus", den Versuch der Amerikaner, Europa und seine Kultur endgültig zu unterwerfen. Latour legte nach: "Eine Handvoll theoretischer Physiker" - gemeint ist damit unter anderem auch Steven Weinberg, der Sokals Attacke begrüßte - "denen die fetten Budgets aus Zeiten des Kalten Krieges abhanden gekommen sind, sucht sich einen neuen Feind, gegen den sie in heroischer Geste den Schutzwall ihres Geistes darbieten." Das ist dann doch wohl zu einfach und eher ein Indiz dafür, daß sich manche der Geistesakrobaten aus der Verpflichtung zur Vernunft, schließlich auch etwas, woran die Franzosen in der Neuzeit wesentlich beteiligt waren, und zur wissenschaftlichen Argumentation verabschiedet haben und meinen, sie müßten zur Selbstverteidigung einen Schauplatz inszenieren, in dem jetzt statt Argumenten ein relativistischer begründeter Kampf der Kulturen ausgetragen werden sollen.)
Der Fall Rössler
Die Scharmützel im Wissenschaftskrieg sind nicht jedoch nicht darauf beschränkt, die Untiefen der akademischen Kulturwissenschaften herauszustellen. In Tübingen sind Otto und Reimara Rössler seitens der Universität und der Regierung unter Beschuß geraten, weil sie sich "weigerten", sich offensichtlich unlogischen Forderungen nach Veränderung und Neuorientierung ihrer Forschung anzupassen.
Nach Berichten auf den The Chaos Network und einer Site von Gottfried Mayer-Kress kämpft "Otto Rössler, nachdem er den Kampf um das Lebenswerk seiner Frau verloren hat, gegenwärtig um die Bewahrung des Wenigen, was ihm von seinen Ersparnissen und seiner Position an der Universität von Tübingen in Deutschland übriggeblieben ist. Der deutsche Physiker, der zu einem Theoretischen Chemiker wurde, ist der Entdecker des Rössler-Attraktors, einen der zwei am meisten untersuchten Seltsamen Attraktoren der Chaostheorie. Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft organisieren sich um Rössler und erheben die Anklage, daß die Maßnahmen der Universität und der Regierung die akademische Freiheit verletzen und eine Vergeltung von Rösslers Versuchen darstellen, seine Frau zu verteidigen ... Die Universität verwandelte einseitig Rösslers Lehrberufung von der Theoretischen Chemie zur Chemie, einem Forschungsbereich außerhalb seiner Kompetenz. Nach Ottos Schilderung verbat ihm die Universität, nachdem er eine Frage im Seminar beantwortete, den Kurs weiter zu halten und legte ihm auf, einen Ersatzlehrer zu bezahlen. Zunächst unterrichtete Rössler weiter. Er wurde darauf nach seiner Schilderung drei Mal mit Gewalt aus dem Vorlesungsraum entfernt. Er begann, die Vorlesung in dem kalten Gang vor dem Raum zu halten, während der Ersatzlehrer in diesem lehrte. ... Ende April versuchte die Universität offensichtlich zu erzwingen, daß sich Otto einer psychiatrischen Untersuchungen unterzieht. In der ersten Maiwoche und nach einem großen Druck seitens der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft zog die Universität schließlich ihr Verlangen zurück."
Obgleich noch auf Deutschland beschränkt, läßt die Situation Rösslers vermuten, daß die Einschüchterung der wissenschaftlichen Arbeit ein Interesse der "Autoritäten" darstellt, was die Sokal-Affaire als Konkurrenzkampf zwischen zwei heruntergekommenen Disziplinen erscheinen läßt, die verächtlich jeden produktiven Dialog zurückweisen. Inzwischen fürchten die Rösslers in Deutschland, daß "die Regierung mit Gewalt in ihre Wohnung eindringt, um ihren Besitz als Zahlung" für die Rückerstattung von fünf Jahresgehältern von Reimaras "gesetzlosen" Forschungen einzubehalten.
In Telepolis finden Sie auch Beiträge von Otto Rössler zur Endophysik und zu Descartes sowie eine Rezension seines letzten Buches Das Flammenschwert.
Reaktionäre Modernisten versuchen, wissenschaftliche Privilegien und Polizeiübergriffe zu legitimieren. Das ist eine Kluft, die den verwirrenden Zustand der Dinge zeigt. Wirkliche Kritik und Theorie werden an den der Wahrheitsfeststellung dienenden Wiederholungen wissenschaftlicher Praxis anstatt an ihrer Nützlichkeit für ethische Antworten auf die wirklichen und oft unberechenbaren, deswegen aber nicht weniger gangbaren falschen Vorstellungen gemessen, die eine der Kritik gegenüber immune Wissenschaft unter dem Banner der Irrtümer des Fortschritts.
In letzter Zeit haben einige Konferenzen versucht, die Beziehungen zwischen der Wissenschaft und dem Körper und zwischen den Wissenschaften und den Künsten zu thematisieren. Die nächste Folge wird diskutieren, was es heißt, ein Mensch zu sein: Die technische Erweiterung der Grenzen des menschlichen Körpers.
Aus dem Englischen von Florian Rötzer