Hinter der Schnittstelle
Über das Buch "Das Flammenschwert" des Chaosforschers Otto Rösslers
Alles ist nur Schein. Die Welt ist den Menschen bis hinunter zu den paradoxen Phänomenen der Quantenebene entzogen. Die Menschen mit ihrer Wissenschaft sind im Gefängnis der unhintergehbaren Schnittstelle eingesperrt. Gibt es eine Welt hinter den schnittstellenabhängigen Erscheinungen? Können wir den Vorhang vor der Exo-Welt lüften? Der Chaosforscher Otto Rössler glaubt, Ansatzpunkte für einen Weg aus dem Gefängnis gefunden zu haben.
Otto Rössler, ein Multitalent, Mediziner, Biologe, Chemiker, Physiker und Chaoswissenschaftler, fasziniert stets, wenn er einen Vortrag hält, seine Zuhörer. Unsicher und freundlich lächelnd steht er dann zunächst vor dem Publikum, weiß nicht, wo er beginnen soll, erweckt den Eindruck, er sei nicht ganz von dieser Welt, setzt dann meist stockend bei Descartes ein und verbindet dann wie ein Zauberer die Situation der eigenen Existenz und seine Hoffnung auf das Gute im Menschen mit Philosophie, Chaostheorie, Quantenmechanik und Virtueller Realität. Er führt einen durch einen Irrgarten schwer nachvollziehbarer Gedankenexperimente, die einerseits auf die Lösung von Problemen der Teilchenphysik zielen und andererseits überraschend immer von ethischen Überlegungen grundiert werden.
Für Rössler ist wie für Einstein die Zufälligkeit, die mit der Quantenmechanik in die Wissenschaft eingezogen ist, ein Skandal. Sie liefert die Menschen dem Zugriff einer Macht aus, die trotz aller Stabilität niemals verständlich ist, bei der er ein Opfer des bösen cartesianischen Dämons bleibt. Wissenschaft aber steht und fällt mit einer Welt, die unter Gesetzen steht, welche auch ein Gott oder ein böser Programmierer nicht willkürlich verändern kann. Wenn man schon in einem Gefängnis mit seinem Leib und seinem Geist steckt, dann wenigstens nicht als willkürlich manipulierbares Opfer eines Wärters, sondern als jemand, der weiß, daß auch alle anderen sich darin in der gleichen Situation befinden, daß alle Maschinen sind. Wissenschaft basiert darauf, daß die Welt und alles in ihr eine Maschine ist, die, auch wenn sie höchst komplex sind, unter Regeln steht, die mithin determiniert ist. Das eben sei der Einsatz von Descartes mit seinem Zweifelsexperiment gewesen: ein Wette gegen den Zufall oder die Willkürlichkeit durch die falsifizierbare Hypothese einer durchgängigen Konsistenz. Daher muß die Quantenmechanik unterlaufen werden. Wenn die Welt auch bis ins Kleinste hinein konsistent wäre, können die Phänomene der Quantenmechanik nur ein Schein sein, notwendig hervorgerufen durch den Beobachter, aber sie sind nicht die letzte Wirklichkeit. Einstein suchte deswegen nach sogenannten Hintergrundvariablen, Rössler baut an einer Endophysik, die hinter dem Vorhang der Erscheinungen zumindest nachprüfbare Hinweise auf eine objektive und konsistente Welt geben soll.
Jetzt hat Rössler nach vielen populärwissenschaftlichen und sehr theoretischen Aufsätzen ein Buch verfaßt, das seinen Ansatz umfassend und für jeden nachvollziehbar darstellen und begründen soll. Das ist ihm sicher nicht gelungen, und das ist auch wahrscheinlich gar nicht möglich, weil die Welt der theoretischen Physik, mit der er souverän spielt, nur wenigen Eingeweihten wirklich zugänglich ist. Ähnlich wie Rössler theoretisch und mit Gedankenexperimenten nach Zeichen für eine beobachterunabhängige Wirklichkeit fahndet, kann der Leser des Flammenschwertes daraus bestenfalls Hinweise auf diese zugleich kontraintuitiv konstruktivistische und dem Realismus verpflichtete abenteuerliche Theorie erkennen, die in der Tat höchst faszinierend ist. Sie begreift das Unternehmen Wissenschaft insgesamt wesentlich als Suche nach einer Ethik und stellt zugleich eine Art Metaphysik der interaktiven Medien dar.
"Die Welt ist nicht der Ort, wo man zu sein glaubt", liest man am Beginn des Buches, "sondern der Ort der Schnittstelle. Die Schnittstelle enthält meinen Körper, mein Gehirn, mein Jetzt." Das leuchtet, konstruktivistisch, relativistisch oder idealistisch geschult und an Virtuelle Realität denkend, sofort ein. Auch der nächste Schritt ist unschwer zu vollziehen, diesen Einschluß als Gefängnis zu verstehen, als eine Hülle, die man mit sich schleppt und die alles verzerrt, was sich jenseits ihrer, in der Exo-Welt, befindet. Am Ort der Schnittstelle befinden sich nach der Rösslerschen Hypothese auch die Gesetze der Welt, die beobachterabhängig sind. Wenn dies so wäre, dann sind sie nur die Gesetze der Endo-Welt. Könnte man die Schnittstelle selbst manipulieren, käme man möglicherweise zu einer ganz neuen Wissenschaft und Technologie, zu einer Weltveränderungstechnologie, durch die vieles, für Rössler "beinahe alles" möglich sein könnte.
Alle bisherigen Denkansätze einer Endo-Erkenntnis waren nicht radikal genug, wollen nur die Unhintergehbarkeit des Subjektiven auf der kognitiven Ebene begründen, nicht aber auf einer physikalischen, die in den Quantenbereich hineinwirkt. Eine von der Schnittstelle bedingte Realität ist Schein, der solange undurchdringlich bleibt, solange man keinen Standpunkt außerhalb einnehmen oder auch nur annehmen kann. Wir kennen zwar aus unserer Erfahrung viele Phänomene, die uns den Gedanken einsichtig machen, daß es eine Endo-Welt und eine von ihr verschiedene Exo-Welt gibt, die vom Subjekt aus bestimmten Gründen nur verzerrt wahrgenommen wird. Intuitiv versuchen wir andauernd, eine Trennung zwischen beiden zu vollziehen, angelegt in der Unterscheidung Selbst- und Fremdwahrnehmung. Und die moderne Wissenschaft mit ihrem "Blick von Nirgendwo" ist gerade der Versuch, die Exo-Welt von spezifischen, verzerrenden Einwirkungen nicht verallgemeinerbarer Verzerrungen zu reinigen. Andererseits ließe sich sagen, daß schon der Gedanke, es gäbe eine Exo-Welt, das Gefängnis der Endo-Welt durchbricht. Doch Rössler erklärt selbst die Quantenwelt und die sehr genauen, nicht von spezifischen Bedingungen des Beobachters abhängigen Messungen zum Schein.
Um die Endo-Perspektive endophysikalisch zu begründen, müßte man daher in die Mikroebene hineingehen und Gedankenexperimente oder Simulationen müssen die Relativitätstheorie, die Komplementarität und Unbestimmtheit der Quantentheorie und die transfinite, also unendlich feine Rationalität des deterministischen Chaos verbinden. Es müßte gezeigt werden, daß mikroskopische Feinbewegungen im Beobachter genügen, um eine Verzerrung zu bewirken, die den paradoxen Ergebnissen der Quantenmechanik ebenso entspricht wie den Naturgesetzen. Rössler schlägt zur Überprüfung der These etwa die molekular-dynamische Simulation eines Billardkugel-Universums in einem Computer vor, wobei die Billiardkugeln Elektronen entsprechen und man von einer Schnittstelle eines Elektrons oder mehrerer ausgeht, aus der heraus die Welt "gesehen" wird. Physikalisch sei, so Rössler, das Jetzt nicht definiert und daher Ansatzpunkt, um eine fundamentale Mikrorelativität zu zeigen.
Wenn beispielsweise alle Komponenten eines Zeituniversums eine Zeitumkehr erfahren, dann ist dies von innen für einen Beobachter wegen der Kovarianz, also dem Fehlen eines äußeren Vergleichspunktes, nicht feststellbar. Umgekehrt, so schließt Rössler, würde für einen Beobachter eine Zeitumkehr des Restes der Welt bewirkt werden, wenn sich nur alle seine Komponenten umkehren. Gibt es in diesem Sinn solche feinen, sich verändernden und auf der Ebene der Mikrophysik sich ereignenden Oszillationen im Beobachter, die zu einer Verzerrung der Welt führen, aber für diesen als minimale energetische Veränderungen nicht erkennbar sind, weil sie nur dann wahrnehmbar werden, wenn sie eine gewisse Schwelle, das "thermische Rauschen", überschreiten? Schließlich ist unsere Welt auf der Makroebene trotz aller Quantenstörungen oder wegen ihnen auch sehr stabil. Jedenfalls scheint es aber so, daß Quantenmessungen nicht spezifisch beobachterabhängig und daher, wenn man im Modell bleibt, Resultat einer allgemeinen, nicht direkt überbrückbaren Schnittstelle sind. Die Exo-Welt ließe sich dann nur indirekt "beweisen".
Rössler schlägt Experimente mit einer künftig vielleicht möglichen Technik der Mikropsychophysik beisepeilsweise durch Kernresonanztomographen oder mit einer Mikroschnittstelle zwischen dem Gehirn und einer simulierten physikalischen Welt im Computer vor, die sich durch die Interaktion mit dem Beobachter verzerrt, wobei diese Verzerrungen aber deswegen von außen ablesbar wären, weil man ja nachträglich nachschauen könnte, wie etwa vom Computer aus ein Objekt dargestellt wird. Hätte man die Welt der "Dinge an sich" nachgewiesen, könnte man durch die Manipulation der Schnittstelle auch die Endo-Welt manipulieren. Und weil dies die ganze, uns direkt zugängliche ist, wäre dies eine Weltveränderungstechnologie.
Rösslers Denken neigt zum Großen. Weniger als das Ganze ist nicht interessant. Er kündigt mit der Mikropsychophysik eine Science-Fiction-Technik, mit der Mikrorelativität eine wissenschaftliche Metaphysik, mit dem Schnittstellenparadigma die Grundlage einer neuen "Synthese" und überdies die Hoffnung an, daß die Menschen irgendwie aus dieser Erkenntnis heraus gut werden und anstatt Höllenmaschinen - wie im bekannten Gedankenexperiment "Schrödingers Katze" - Paradiesesmaschinen bauen. All das scheint übertriebene Spekulation zu sein, doch Träume treiben die Geschichte voran.
Einen solchen Traum stellt Rössler noch am Schluß des Buches vor: das Projekt Lampsacus. Er schlägt vor, ganz im Sinne der Cyberkultur-Utopien, eine virtuelle und sonntägliche "Heimatstadt aller Erdbewohner" einzurichten, in der alle "informationellen Bedürfnisse" kostenlos und frei ihren Ausdruck finden sollen und die auf einer Kultur des Geschenkes basieren soll. Auch irgendwo auf der Erde soll sie real gegründet werden, denn das erwünschte Disneyland, an dem man mit Händen begreifen kann, was sonst nur im virtuellen Raum vorhanden ist, genügt nicht, weil man zu einem Zuhause auch fahren können müsse. "In Lampsacus soll es keine Tränen geben. Deshalb hat jeder Bürger eine 'Blaue Karte' in der Tasche. Sie zu zeihen heißt: 'Stop, meine Menschenrechte werden verletzt.' Alle Interaktionen, die dazu beitragen, müssen sofort gestoppt werden - so nett sind die Bewohner." So schön könnte die Welt sein.
Otto E. Rössler Das Flammenschwert. oder Wie hermetisch ist die Schnittstelle des Mikrokonstruktivismus?. Benteli Verlag Bern, 1996. 146 Seiten. DM 38.-