Wiederwachen der "Weißen Stadt"

Tanger, das einstige El Dorado der Künstler, Schmuggler und Geheimagenten, wird wieder zu einer Kulturstadt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mehrere Jahrzehnte lang wurde Tanger vernachlässigt und lebte nur vom legendären Ruf alter Tage. Unter dem neuen König Mohammed VI wird die marokkanische Hafenstadt seit einigen Monaten rundum renoviert und restauriert. Viele marokkanische und europäische Künstler entdecken Tanger erneut als Domizil, in dem sich gut arbeiten, aber vor allen Dingen auch gut leben lässt. Die Stadt, die angeblich Herkules an Atlantik und Mittelmeer gründete, erwacht anscheinend aus seinem Dornröschenschlaf. Gerade ältere Bewohner hoffen, dass Tanger wie einst wieder in einem Atemzug mit Paris, London und New York genannt wird.

William S. Burroughs sagte einmal in einem Interview über Tanger: "Was für ein merkwürdiger Ort." Der amerikanische Autor hatte vier Jahre dort verbracht, während der "Goldenen Zeit" von Tanger. Damals in den 50er Jahren war die marokkanische Hafenstadt noch "Internationale Zone", ein El Dorado von Millionären, Schmugglern und Geheimagenten, wo jeden Tag in den Villen der Hautevolee ausschweifende Partys gefeiert wurden. Ein kosmopolitischer Ort der Dekadenz und Kreativität. William S. Burroughs saß meist allein in seinem Hotelzimmer unter dem Einfluss von Heroin oder Haschischmarmelade. Das Resultat war der Roman "Naked Lunch", von dem er sagte, er wisse gar nicht, wie er zustande gekommen sei. Heute ist das Buch ein Klassiker der modernen amerikanischen Literaturgeschichte.

Burroughs war nicht der einzige Künstler, den es damals nach Tanger zog. Die Liste bekannter Autoren, Maler und Musiker ist lang: Tennessee Williams, Truman Capote, Francis Bacon, Samuel Beckett, Jean Genet, Roland Barthes und nicht zu vergessen Paul Bowles, der bereits in den 40er Jahren nach Tanger gezogen war und den sein Marokko-Roman "Himmel über der Wüste" international bekannt machte.

Nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 ging es mit der "Libertinage" in den Kulissen orientalischer Exotik schnell zu Ende. Eine kleine Renaissance alter Tage gab es in den 70ern, als die "Hippies" in Scharen anreisten. Sie hatten "Das Nackte Brot", die Autobiographie Mohamed Choukris, und die "Haschisch-Erzählungen" Mohammed Mrabets gelesen, die Paul Bowles beide ins Englische übersetzte. Danach verwaiste die "weiße Stadt" zusehends zur kulturellen und politischen Bedeutungslosigkeit. Hasan II., der König von Marokko, hatte für Tanger wenig übrig, in seiner 37-jährigen Regentschaft besuchte er die Stadt kein einziges Mal. Trotz ihrer geopolitischen Lage an der Meerenge von Gibraltar, als Tor zu Afrika und Brücke zu Europa, ließ er Tanger administrativ und finanziell vernachlässigen.

Die prachtvollen Architektur des Kolonialismus und der Charme der traditionellen marokkanischen Bauten bröckelte buchstäblich Tag für Tag ein Stück mehr ab. Statt Millionäre und Exzentriker überquerten nur mehr Tagestouristen von der Costa del Sol mit kurzen Hosen, Hut und Turnschuhen die 14 Kilometer, die Europa und Afrika trennen. Mohammed Choukri und Paul Bowles verkamen zu Verwaltern einer längst vergangenen Epoche. Bis zu ihrem Tod (Bowles 1999, Choukri 2003) lebten sie vom Ruf ihrer literarischen und biographischen Legenden, versammelten um sich meist nur eine kleine Schar von Getreuen.

Wer heute jedoch nach 45-minütiger Fahrt mit dem Fähre in Tanger ankommt, wird überrascht sein. Die so lange vergammelten Fassaden der "Avenida Espana" am Hafen glänzen wieder in weißem Glanz, in einer neu angelegten Fußgängerzone kann man fern von Autoabgasen im Cafe sitzen und den Blick aufs Meer genießen. An der Strandpromenade wurden alle illegalen Gebäude abgerissen, die den Blick auf die See und Spanien verstellten. Bald werden auch die Kräne der Hafenanlagen verschwunden sein. 2007 will man nicht weit von Tetouan und der spanischen Enklave Ceuta den neuen, eine Milliarde Dolla teuren "MedPort" eröffnen. Als einer der größten Mittelmeerhäfen soll er 145.000 Arbeitsplätze schaffen. In Tanger wird es dann nur mehr einen Sport- und Yachthafen geben, der die Bedürfnisse des europäischen Tourismus bedienen soll. Die Abwässer werden in Zukunft, wie in anderen Städten des Mittelmeeres auch, weit hinaus geleitet, um die Wasserqualität der Strände auf ein gesundheitlich unbedenkliches Niveau zu bringen.

Der junge König Mohammed VI., der nach dem Tod seines Vaters 1999 den Thron bestieg, hat endlich das geopolitische und -ökonomische Potential des Nordens Marokkos erkannt. Im Gegensatz zu Hassan II. verbringt der neue Monarch so viel Zeit wie möglich in seinem Palast in Tanger. Er soll angeblich den Wassersport am Atlantik und am Mittelmeer besonders genießen. Im Sommer fährt er stets alleine im offenen Wagen durch die Stadt. Unter seiner Leitung wird die Hafenstadt komplett renoviert und restauriert. Plätze werden umgestaltet und Parks der Stadt neu bepflanzt. In der Bucht von Tanger entstehen Hotels, Strandbäder und große Touristenkomplexe, die mit Kapital aus dem Ausland, vorwiegend aus Spanien und Frankreich, finanziert werden. Wie sehr Tanger ein persönliches Projekt des Königs ist, wird am "Socco Grande" deutlich, der am Eingang zur Medina, der Altstadt von Tanger, liegt. Die Arbeiten zur Neugestaltung des Platzes waren fast abgeschlossen, aber nach einem Besuch des Königs musste alles wieder abgerissen werden. Es habe ihm nicht gefallen, sagte ein Beamter der Stadtverwaltung. Nun wird nach einem völlig neuen Entwurf umgebaut.

Die Modernität zieht in die Stadt ein

"Alles Veränderungen, die wichtig und gut sind", sagt Khalid Amine von der Universität Tetouan bei einem Gespräch im legendären "Cafe de Paris" in Tanger. "Selbst wenn es einigen nicht gefallen sollte, dass die Modernität Einzug hält." Man könne nicht immer an der Vergangenheit kleben und den alten exotischen Mythos von Tanger beschwören, fügt der Professor für postkoloniale Studien an. "Wer eine Wiederbelebung Tangers möchte, muss einsehen, dass dazu auch eine Wiederbelebung des öffentlichen Raumes gehört." Nostalgie sei nicht angebracht. "Eine Hybridisierung zwischen Tradition und Moderne muss stattfinden, das ist der Weg in die Zukunft." Nichts dürfe außer Balance geraten, wie etwa in anderen arabischen Ländern wie Dubai oder Kuwait, wo die Architektur eine Hymne an die Moderne oder Postmoderne ist und die Tradition vollkommen außer Acht gelassen wurde. "In Marokko sieht es sehr gut aus, die Projekte scheinen beide Seiten der Medaille gleich zu berücksichtigen."

Khalid Amine ist auch einer der Veranstalter der "Internationalen Tanger-Konferenz", die Ende Januar zum zweiten Mal unter dem Motto "Stimmen von Tanger" stattfand. Über 50 Akademiker und Autoren aus aller Welt nahmen daran teil. Ziel der alljährlichen Konferenz ist es, zu einer "kulturellen Revitalisierung Tangers" beizutragen, ohne "verklärende Nostalgie". "Die Namen von Mohammed Choukri, Paul Bowles und anderer Künstler sind überall in der Stadt eingraviert. In den Cafes und Bars, wo sie gesessen, geschrieben, Geschichten erzählt haben", erklärt Khalid Amine und nippt an seinem Minzetee. "Sie sind wie Geister, daran kann man nichts ändern, aber wir müssen weiter gehen, sie hinter uns lassen." Bei der Konferenz hörte man neue literarische "Stimmen" aus Marokko, Spanien und auch Deutschland. "Es wurde eine Brücke zwischen Ost und West geschlagen, die gerade in der heutigen Zeit sehr wichtig ist", meinte der Schweizer Florian Vetsch. Er war als Herausgeber des "Tanger Telegramms", der ersten umfassenden deutschsprachigen Tanger-Anthologie, eingeladen worden. Ein Buch, das tatsächlich eine Brücke zwischen dem alten und gegenwärtigen Tanger schlägt, westliche und marokkanische Autoren von damals und heute zusammenbringt.

Jeffrey Miller, ein Verleger aus den USA plädierte für einen internationalen Verlag, der gleichzeitig marokkanische und Autoren aus dem Westen publizieren sollte. "So würde man der kulturellen Vielfalt Tangers gerecht werden", meinte der Besitzer des "Cadmus" Verlages aus Kalifornien. "Tanger war schon immer eine internationale Stadt, wo verschiedene Kulturen, Sprachen und Religion friedlich koexistierten." Nächstes Jahr wird die Konferenz ("Picture-ing Tangiers") die "Bebilderung Tangers" zum Thema haben: Tanger im Film, in derr Musik, in der Malerei und in Büchern.

Kolonialistischer Lebensstil, mit Haushälterin und Chauffeur

Wir stehen auf der mit Pflanzen voll gestellten Dachterrasse von Baron Francisco Corcuera. Links der Blick hinunter auf Tanger, rechts die Häusersilhouette entlang der Mittelmeerküste und hinter uns die Mauern der Kasbah, der mittelalterlichen Schutzburg."Dort ist die Villa von Yves Saint Laurent", sagt der Baron und zeigt mit dem Finger auf einen kleinen blauen Punkt im Häusermeer. "Hier vorne das Haus von einem deutschen Fotografen und das hier hinten gehört einem französischem Schriftsteller." Beide seien erst vor kurzem eingezogen, ob zur Miete oder gekauft, wisse er nicht. Die guten Häuser, von denen man eine fabelhafte Aussicht auf die Meerenge von Gibraltar, auf die spanische Halbinsel habe, würden immer weniger, erklärt der Baron weiter. "Immer mehr Ausländer kommen nach Tanger, kaufen ihre Traum-Immobilien und die Preise steigen ins Unermessliche."

Francisco Corcuera musste nichts kaufen, als vor fünf Jahren nach Tanger umzog. Er hatte sein Häuschen geerbt, das er allerdings renovieren und umbauen musste. Zur Vergrößerung kaufte er das angrenzende Gebäude dazu und brach die Mauern durch. Nun hat er ein ansehnliches Palästchen, gut 250 Quadratmeter Wohnfläche auf zwei Etagen, die großzügige Dachterrasse, die zum Teil überdacht ist, nicht mit eingerechnet. Im zweiten Stock hat sich der Baron ein Studio eingerichtet, in dem er wieder seine großflächigen Bilder produziert. Er hat vor einigen Monaten Kontakt zu seiner alten Galerie in Italien aufgenommen, um seine Karriere zu reaktivieren, deren Glanzeit in den 70er Jahren lag. Dem Baron scheint das Geld langsam auszugehen. Nach außen hält er auf Chic, aber Hose und Jackett haben viel zu viele Jahre auf dem Buckel. Daran ändert auch nichts das bunte Seidentuch in der Brusttasche.

"In Tanger kann ich mir alles das leisten, was in Europa oder den USA unmöglich ist", sagt ein anderer Exilant der im Nordwesten Marokkos gelegenen Hafenstadt. Marc Schmidtke verbringt gut die Hälfte des Jahres in Tanger. "Hinzu kommt natürlich auch das warme Klima, das das Leben wesentlich angenehmer macht." Den Rest, von Mai bis August, pflanzt und erntet er auf seiner Farm in Wisconsin Kartoffeln, um seinen Aufenthalt in Marokko zu finanzieren. Aber das soll bald anders werden, Marc möchte ganz nach Tanger ziehen. Die Einsamkeit einer Farm auf dem weiten Land und die provinziellen Nachbarn sind auf Dauer einfach nichts. "In Tanger pflege ich einen kolonialistischen Lebensstil, mit Haushälterin und Chauffeur." Außerdem gäbe es jede Menge Partys, Cocktails, Einladungen zum Dinner oder Lunch. "Manchmal muss ich einige Tage Pause machen", sagt der US-Amerikaner, "sonst erliege ich dem Party-Stress." Früher lebte der 52-Jährige deutscher Abstammung in Madrid. "Vom Charme des alten Spaniens ist leider nicht mehr viel übrig. Das Land wird mehr oder weniger europäisiert, auf den gleichen Standard wie etwa Deutschland gebracht. Das ist für die Lebensqualität sehr, sehr schlecht."

Baron von Corcuera und Marc Schmidtke sind zwei von mehreren hundert Ausländern, die sich in den letzten Jahren in Tanger niederließen. Darunter sind auch bekannte Namen, die es sich leicht leisten könnten, auch woanders zu leben. Bernhard Henry Levy zum Beispiel, der französische Philosoph, der sich direkt am Meer eine extravagante Villa für mehrere Millionen leistete. Selbst von der Toilette aus,soll man einen Blick auf die Küste Spaniens haben, sagte der Kellner des legendären "Cafe Hafa", wo einst William S. Burroughs Tee trank und eine Kif rauchte und direkt an Levys Haus angrenzt. Kürzlich kam auch Francoise-Oliver Rousseau, ein französischer Schriftsteller, nach Tanger. Er verließ Marrakesch, das durch den Zuzug von vielen Ausländern an "exotischen Flair" verloren habe.

"Es ist bezeichnend", meint Khalid Amine von der Universität Tetouan, "je mehr die Marokkaner nach Modernität streben, desto mehr suchen die Europäer nach der Tradition. Sie wohnen in der Altstadt, während die Marokkaner in die Neustadt ziehen." Was seiner Meinung nach nichts Negatives sei, da die Europäer die alte Architektur erhielten. In Marrakesch wäre sicherlich ein Grossteil der Altstadt einfach vermodert, hätten die Europäer nicht die alten Häuser gekauft und originalgetreu restauriert.

Ganz ähnliches passiert zurzeit in Tanger. Die Häuser in rund um die "Kasbah", von denen man aus einen wunderbaren Blick auf die Meerenge von Gibraltar hat, sind fast alle an Europäer verkauft. Die Immobilienpreise sind in den letzten zwei, drei Jahren deshalb ums Mehrfache gestiegen. Trotzdem sind Makler aus Spanien oder Frankreich immer wieder auf der Suche nach neuen, Gewinn versprechenden Objekten. Das sind allerdings in der Regel "Luxusobjekte", wie mir eine französische Maklerin versicherte. "Wir suchen nach Millionenobjekten, die wirklich traumhaft am Meer liegen, ruhig, abgeschottet, idyllisch und allen Komfort bieten, den man sich nur vorstellen kann." So etwas sei, ihren Angaben nach, leicht zu verkaufen. "Kleine Inseln des Luxus, in denen man ungestört leben kann."

Genau über dieses Insel-Dasein vieler Westler beklagt sich Khalid Amine. "Die Ausländer beteiligen sich kaum am kulturellen Leben Tangers. Nicht einmal die großen Intellektuellen. Sie bleiben unter sich, in einem abgeschlossenen Zirkel." Tatsächlich findet das kulturelle und soziale Leben in Tanger meist im Privaten statt. Wer nach Tanger reist und hofft, dort Künstler in Bars oder Restaurants zu treffen, wird enttäuscht sein. Tanger muss noch immer entdeckt werden. "Man ist hier, um seine Ruhe zu haben", sagt mir ein französischer Maler. "Keine Öffentlichkeit, keine Interviews, viele wollen am liebsten gar nicht mit der Stadt in Verbindung gebracht zu werden."

Trotzdem fände Khalid Amine eine Auseinandersetzung wichtig. Den Dialog herzustellen, obliege nun eben den marokkanische Künstlern, von denen wieder eine ganze Reihe in Tanger lebten. Dazu gehöre die Romanschriftstellerin Souad Baheshar, der Poet Ahmend Tribak, der Theaterautor Zubir Ben Bouchta oder auch Sidi Mohammed Yamlahi. "Von ihnen kann eine neue Bewegung ausgehen", sagt Amine, "die auch die ausländischen Künstler in Tanger erfassen kann." Dieses Jahr werde außerdem eine Cinemathek am "Grande Socco" eröffnet, die erste in der arabischen Welt. Ein Projekt, das dem marokkanischen Film ein wichtiges Forum gibt und gleichzeitig eine Plattform für Künstler aus der ganzen Welt ist. "Tanger ist auf dem besten Wege", meint Khalid Amine abschließend, "wieder die kulturelle und intellektuelle Hauptstadt Marokkos zu werden"..