Wien schläft noch

Großstädte mit kontinuierlicher Aktivität haben ihre Reize - und ihre Probleme

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Metropolen wie New York, Tokio, London oder Paris schlafen nie - heißt es. In ihrem Wirtschafts- und Lebensraum herrscht rund um die Uhr die "Nonstop-Gesellschaft". Die gleiche Tendenz, so beobachteten jetzt Forscher des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu) anhand einer Studie der Städte Berlin, Frankfurt am Main und Wien, besteht bereits auch in anderen Großstädten Europas und bedroht zunehmend den sozialen Rhythmus in der Gesellschaft.

Bislang hatte vorwiegend das Personal öffentlicher und sozialer Dienste wie Polizei, Feuerwehr oder Krankenhäuser Nacht- und Wochenendarbeit zu verrichten, daneben waren Nachtschichten in bestimmten Industriebranchen aufgrund technischer Prozesse notwendig. "Jetzt aber ist es der Wettbewerb, der besonders Unternehmen der New Economy und der Finanzwirtschaft dazu drängt, die zeitlichen Angebotsfenster zu erweitern, um die Nachfrage zu stimulieren oder zu befriedigen", erklärt Dietrich Henckel vom Difu.

Call-Center, Internet-und Versandhandel oder e-Banking und der elektronische Wertpapierhandel werden, auch zum Teil aus zeitlicher Überlappung mit internationalen Partnern, 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche (24/7) betrieben und ihre Angestellten sprengen damit die klassischen Arbeitszeitmuster auch anderer Branchen: Denn wer bis spät arbeitet, will auch spät kulturelle und gastronomische Angebote, den ÖPNV und den Einzelhandel in Anspruch nehmen, was wiederum neue Nachtarbeitsplätze schafft. "Wenn sich das auf eine Region in der Stadt konzentriert, dann entsteht hier wegen der zeitlich verschobenen Nachfrage ein Konfliktpotential mit den Bürgern, die dort ihrerseits ihre Feierabendruhe haben möchten", so Henckel.

Solche Hotpots könnten sich beispielsweise um Bürokomplexe, nahe dem Flughafen und Bahnhof oder in Bereichen des städtischen Nachtlebens entwickeln. "Um größere Konflikte zu vermeiden, sollten die Städte diese Regionen als 24/7-Zonen mit eigenen Regeln ausweisen, in denen Öffnungszeiten, Parkbewirtschaftung und Nachtverkehr ausgedehnt werden, normale Bürger hingegen eher weniger angesiedelt werden".

Allerdings sind die untersuchten Städte auf dem Weg in die Kontinuierlichkeit noch nicht so weit vorangeschritten wie die Metropolen. Während sich jedoch Frankfurt als internationaler Finanzplatz und Berlin durch die Freizeit- und Konsumansprüche seiner Bewohner und Besucher diesem Trend nicht entziehen können, "ist das in Wien nicht ein Thema der ersten Reihe", weiß Kurt Mittringer, der bei der Stadtverwaltung für den Stadtentwicklungsplan und in der Difu-Studie für Wien mitverantwortlich ist. "Derzeit sind bei uns solche Konzentrationen nicht ersichtlich, aber Entwicklungen dieser Art kommen auch erst immer ein bis zwei Jahre verspätet und nur gedämpft in Wien an."

Doch die neuen Chancen für die Wirtschaft werden auf gesellschaftlicher Ebene teuer erkauft. 7,6 Prozent der Beschäftigten in Europa arbeiten regelmäßig in Nachtarbeit. "Da kommt der Rhythmus sozialer Gruppen durcheinander, und das wird sich dann noch verschärfen", mahnt Henckel die schon jetzt knappe Zeit für Familie oder Freunde und gemeinsame Freizeitaktivitäten an. Daneben stresst Nachtarbeit auch physisch. Zahlreiche Untersuchungen belegen die negativen und langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen von Nachtarbeit. Zudem ist bei regelmäßiger Nachtarbeit das Risiko für Unfälle besonders hoch. Die meisten Großkatastrophen der letzten Jahrzehnte wie Tschernobyl oder Exxon Valdez hatten ihren Ausgangspunkt in den Nachtstunden zwischen zwei und vier Uhr, wo der Biorhythmus die geringste Aufmerksamkeit aufbringt.

Der negativen Entwicklung entgegentreten könnte nach Meinung Henckels nur die Politik. Da die kontinuierliche Aktivität im Wesentlichen aus ökonomischen Aspekten heraus geschieht, wäre es nur logisch, die daraus entstehenden gesellschaftlichen Kosten wie zusätzliche Infrastruktur, Gesundheitskosten oder Unfälle dem Verursacher anzulasten, "aber das geschieht im Moment nur im geringen Umfang und dürfte politisch in nächster Zeit wohl kaum durchzusetzen sein". Angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage der New Economy ist eine schnelle Ausdehnung der Kontinuierlichkeit ohnehin nicht zu erwarten, denn die Arbeit zu ungewöhnlichen Zeiten kostet die Unternehmen viel Geld durch Zuschläge - und das muss erst einmal wieder verdient werden.