Will Cameron den Brexit noch verhindern?

Das Referendum ist für die Regierung nicht bindend, Cameron will erst in drei Monaten zurücktreten und vorher den Austritt nicht bei der EU beantragen

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Mit der Entscheidung der Briten für den Brexit, wird nun die britische Regierung gedrängt, möglichst schnell den Austritt formal zu beantragen. Man will nun schnell Klarheit schaffen, auch um eine weitere Erosion der EU möglichst zu verhindern, vielleicht auch, um zu zeigen, welche Folgen ein Austritt aus der EU nach sich ziehen kann.

Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments, und der niederländische Regierungschef Mark Rutte, dessen Land gerade den EU-Vorsitz hat, veröffentlichten eine Stellungnahme, in der sie unmissverständlich ein schnelles Handeln der britischen Regierung fordern:

Wir erwarten nun von der Regierung des Vereinigten Königreichs, dass sie die Entscheidung des britischen Volkes so schnell wie möglich umsetzt, so schmerzhaft der Prozess auch sein mag. Jede Verzögerung würde die Unsicherheit unnötig verlängern. Wir verfügen über die Regeln, um auf geordnete Weise damit umzugehen. Das Prozedere für den Fall, dass sich ein Mitgliedstaat entscheidet, die Europäische Union zu verlassen, ist in Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union festgeschrieben.

EU-Stellungnahme

Betont wird wenig verwunderlich, dass der Rest der 27 Mitgliedsstaaten in der Union bleiben wird. Bis zum vollzogenen Austritt bleibe Großbritannien Mitglied mit allen Pflichten und Rechten. Die im Februar ausgehandelten neuen Bedingungen treten nicht in Kraft und werden nicht nachverhandelt. Und im Hinblick auf die Sonderrolle, die Großbritannien immer in der EU mit Ausnahmen und Privilegien innehatte, heißt es nun auch, dass alle Vereinbarungen mit UK als Drittstaat "die Interessen beider Seiten widerspiegeln und in Bezug auf Rechte und Pflichten ausgewogen sein" müssen. Das Ende der Sonderrolle wird also angekündigt.

Die Vertreter der höchsten EU-Institutionen treten auch deswegen so auf das Gaspedal, weil der britische Premier David Cameron, der mit dem Referendum seine austrittwilligen Konkurrenten in der eigenen Partei aushebeln wollte, sich nun Zeit lassen will. Erst im Oktober, so tat er kund, werde er zurücktreten, um seinem Nachfolger Platz zu machen, der dann die Austrittsverhandlungen einleiten soll. Einen Zeitplan wollte er nicht vorlegen.

Haben sich die Brexit-Befürworter zu früh gefreut?

Man muss sich natürlich fragen, warum Cameron noch so lange im Amt sein und die Austrittsverhandlungen hinausschieben will. Möglicherweise will er noch die Fäden ziehen, um Boris Johnson als seinen Nachfolger auf dem Parteikongress der Tories im Oktober zu verhindern. Vielleicht setzt er auch darauf, dass nun die Spaltung innerhalb Großbritanniens deutlich aufbricht. Die schottische Regierung hat bereits angekündigt, in der EU verbleiben zu wollen und ein neues Unabhängigkeitsreferendum anzustreben. Auch in Nordirland hat die Mehrheit für einen Verbleib gestimmt. Dazu kommen Mehrheiten in den großen Städten. Die Brexit-Befürworter könnten über die Wochen hin in Verlegenheit kommen, ob sie weiterhin den Austritt anstreben und damit nur noch ein geschrumpftes Land bekommen, das selbst noch einmal geteilt ist und in dem die Finanzelite und die Wirtschaft mit dem Brexit nicht einverstanden ist.

Wenn Cameron erst einmal versprach, dass sich jetzt nichts schnell verändern wird, und angekündigte, dass man intensiv mit den Regionalregierungen von Schottland, Nordirland und Wales sprechen müsse, würde der Hintergedanke nicht fern liegen, dass er auf Zeit setzt. Allerdings scheint es auch Boris Johnson nicht mehr eilig zu haben und abwarten zu wollen. Er drängt nicht auf eine schnelle Artikel-50-Erklärung.

Kann sein, dass Cameron und Johnson mit der Hinhaltetaktik die EU weichspülen wollen, um möglichst viel herauszuholen und die Folgen des Austritts so klein wie möglich zu halten. Möglicherweise setzen auch beide darauf, letztlich doch in der EU zu bleiben, nur unter deutlich verbesserten Bedingungen. Johnson war nicht nur Bürgermeister von London und damit zuständig für die mächtige Finanzwirtschaft, die nun fürchtet, Macht an Frankfurt oder Paris zu verlieren, er war selbst auch kein entschiedener Befürworter eines Brexit, bis er sich wohl auch aus machtstrategischen Gründen an die Spitze setzte.

Anders als bei bindenden Volksentscheidungen, wie sie in der Schweiz stattfinden, ist das Brexit-Referendum nur als Empfehlung zu sehen, an die die Regierung, eben auch die künftige, nicht gebunden ist. So könnte also Großbritannien ganz legal das Referendum beiseite stellen, zumal die EU auch das Land nicht zum Austritt zwingen kann. Das wäre eine perfide Strategie, die EU und das eigene Volk im Stil von House of Cards, die ursprüngliche Serie entstand in Großbritannien, auszutricksen.

Auch wenn 52 Prozent der Briten, die am Referendum teilgenommen haben, für einen Austritt stimmten, so war eine große Mehrheit aller Abgeordneten für einen Verbleib. Und die Stimmung im Volk könnte bereits kippen, die Stimmen derjenigen, die in der EU bleiben und das Referendum nicht anerkennen wollen, werden lauter. Dazu kommen die Liberaldemokraten, die bereits klar gemacht haben, dass sie bei den nächsten Wahlen mit einem Pro-EU-Programm antreten werden. Sie versprechen, Großbritannien wieder in die EU zu holen bzw. es dort zu lassen. Die kommenden Wahlen würden zwar erst 2020 kommen, es wäre aber gut möglich, dass der nächste Regierungschef auf Neuwahlen drängt.