"Wir brauchen mehr Disziplin!"

Der Evolutionspsychologe Steven Pinker über den Kapitalismus und die Selbstdisziplin als friedensstiftende Instanzen

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Kapitalismus? Friedensstiftend! Philosophen? Weltverändernd! Die 68er? Gewalttätig! Der Psychologe Steven Pinker durchbricht Klischees und fordert mehr Selbstkontrolle. Steven Pinker ist Professor für Evolutionspsychologie an der Harvard Universität. 2004 wählte ihn das Time Magazine zu den "100 einflussreichsten Menschen der Welt". Pinker verfasste zahlreiche Bestseller, zuletzt erschien von ihm: "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit".

Steven Pinker. Bild: Max Gerber

Herr Pinker, Sie behaupten: Je besser es uns geht, desto mehr nimmt die Gewalt ab: Hat also der Kapitalismus die Welt gerettet?

Steven Pinker: Der Kapitalismus ist eine friedensstiftende Kraft. Einerseits, weil er Wohlstand bringt und somit Mittel freisetzt, um die Gewalt einzudämmen - einen guten Polizeiapparat, eine funktionierende Justiz und Bildung. Andererseits ist der Kapitalismus darauf angewiesen, dass wir kooperieren, denn wir müssen schauen, was unsere Kunden wollen, um es ihnen zu verkaufen. Und im Kapitalismus sind lebende Menschen wertvoller als tote, weil nur Lebende kaufen und verkaufen können. Viele Studien zeigen, dass Länder mit freien Märkten in weniger Kriege verwickelt sind. Nehmen wir China, das noch nicht wirklich demokratisch ist: Als sich China in den 1980ern von einem autoritären kommunistischen zu einem militaristischen kapitalistischen Staat gewandelt hat, brachte es weit weniger seiner eigenen Staatsbürger um - und hat seitdem keinen Krieg mehr angefacht. Es gibt also eine starke Verbindung zwischen Kapitalismus und Frieden.

Welche Rolle spielt dabei die Religion?

Steven Pinker: Oh, größtenteils eine negative: Denken wir nur an die Massenmorde der Kreuzzüge, die europäischen Religionskriege und den Taiping-Aufstand, der zum schlimmsten Bürgerkrieg der Geschichte geführt hat. Viele religiöse Autoritäten haben sich mit Händen und Füßen gegen die humanistischen Reformen der Aufklärung gewehrt, auch gegen die Abschaffung der Folter. Religionen - zumindest das Christentum - haben sich für die Misshandlung von Tieren stark gemacht, weil sie angeblich zum Nutzen des Menschen geschaffen wurden. Sie haben sogar das Schlagen von Kindern gerechtfertigt, weil einigen Glaubensvorstellungen zufolge Kinder vom Teufel besessen sind - und man das Böse aus ihnen rausprügeln muss. Doch auch Religionen wandeln sich und seit der Aufklärung sind die meisten humaner geworden.

Philosophen haben die Welt verändert

Stichwort Aufklärung: Glauben Sie, dass Philosophen wie John Locke oder Immanuel Kant die Welt verändert haben?

Steven Pinker: Aber ja, das haben sie! John Locke beispielsweise hat unmittelbar Thomas Jefferson und die anderen Gründungsväter der Amerikanischen Verfassung inspiriert, wodurch die erste langlebige Demokratie geboren war. Die Argumente Jeremy Benthams und Cesare Beccarias haben entscheidend dazu beigetragen, dass Homosexualität nicht mehr strafbar ist und Foltermethoden wie Rädern und Ausdärmen der Vergangenheit angehören. Und in jüngster Zeit greift die Tierschutzbewegung viele Gedanken Peter Singers auf.

Philosophen streiten sich unentwegt darüber, woher denn unsere moralischen Werte kommen. Haben diese Werte einen immateriellen Ursprung, kommen sie vielleicht aus einem platonischen Ideenhimmel?

Steven Pinker: Oh nein, sie entstammen schlichtweg der biologischen Veranlagung rationaler, sozialer Akteure, die alle ihr Wohlbefinden anstreben. Wenn ein Lebewesen sozial und kommunikativ ist, dann wird es alle seine Mitwesen dazu anhalten, ihm nicht zu schaden. Und sobald es das tut, ist es dazu verpflichtet, seinerseits keinen Schaden anzurichten. Wenn ich von Ihnen verlange, dass Sie nicht mein Baby töten, dann habe ich nicht das Recht, Ihr Baby zu töten. Wir müssen einfach dieselben Regeln befolgen, und deshalb muss jede Vorschrift mit einem "Sollen" oder "Müssen" universalisierbar sein. Genau das geschieht bei der Goldenen Regel oder dem Kategorischen Imperativ.

Gott oder andere immateriellen Ursachen spielen dabei also keine Rolle. Was halten Sie dann von Fjodor Dostojewskis Ausspruch: "Wenn Gott tot ist, dann ist alles erlaubt"?

Steven Pinker: Dostojewski liegt völlig daneben! Gottesgläubige haben einige der schlimmsten Gräueltaten der Menschheitsgeschichte verübt. Und die säkularsten Länder, namentlich die Demokratien in Nord- und Westeuropa, sind die friedfertigsten Staaten seit Menschengedenken. Dostojewski hat also Unrecht.

In den 60er Jahren wurde die Selbstbeherrschung verunglimpft

Aber welche Faktoren regulieren unser Zusammenleben, wenn Gott tot ist?

Steven Pinker: Nehmen wir ein Beispiel: Die Gewaltrate ist in den 1960ern deshalb nach oben geschnellt, weil diese Ära jede Form der Selbstbeherrschung verunglimpft hat. Selbstkontrolle war damals eine üble Sache. Es wurde von einem erwartet, dass man sein eigenes Ding dreht, dass man alles raushängen lässt. "Take a Walk on the Wild Side!" - genau das war die Botschaft der 68er. Es ist meiner Meinung nach kein Zufall, dass sich die Gewaltrate damals mehr als verdoppelt hat.

Was ist die Lehre, die wir aus den 1960er ziehen können?

Steven Pinker: Ganz einfach: Wir brauchen mehr Disziplin!

Benötigen wir dann eigentlich ein Ventil für unsere Aggressionen - müssen wir boxen oder Fußball spielen, um unsere aufgestaute Wut zu kanalisieren?

Steven Pinker: Ich glaube nicht, dass unsere Aggressionen wie in einem Dampfkessel brodeln und sich ständig entladen wollen. Aggressionen sind nicht vergleichbar mit dem Drang, nießen zu müssen, seinen Hunger zu stillen oder gar seinen Sexualtrieb auszuleben. Sicherlich bereitet es Menschen Freude, sich gewalttätige Filme anzuschauen. Das heißt aber nicht, dass sie tagtäglich eine Mindestdosis Gewalt in den Medien konsumieren müssen, damit ihnen im realen Leben nicht die Hutschnur reißt. Aggressionen sind viel situationsgebundener: Wir üben Gewalt aus, wenn wir provoziert, beleidigt oder betrogen werden - oder wenn sich uns die Gelegenheit bietet, an eine begehrenswerte Sache zu gelangen und uns das Opfer egal ist. In solchen Momenten kommt es auf unsere Selbstdisziplin an.

Streit um Ressourcen ist Hauptgrund für Kriege

Während alle Welt schwarzmalt und den Kollaps der Menschheit nahen sieht, scheinen Sie recht optimistisch zu sein: Was wird uns die Zukunft bringen?

Steven Pinker: Ich glaube, dass sich einige Trends fortsetzen werden: Wahrscheinlich wird es mehr demokratische Staaten geben, die Gewalt gegen Frauen und Kinder wird zurückgehen und Homosexuelle werden weniger verfolgt. Andererseits besteht immer die Gefahr, dass irgendwo ein Bürgerkrieg entflammt, ein Einzelner einen Terroranschlag verübt oder ein Diktator entscheidet, dass es an der Zeit ist, ein früheres Unrecht zu vergelten oder eine bestimmte Ideologie zu realisieren.

Wir haben gerade den siebenmilliardsten Erdenbewohner begrüßt und die Welt platzt aus allen Nähten: Sind da nicht Kriege vorprogrammiert?

Steven Pinker: Ich glaube nicht: Im Gegensatz zu Ratten werden Menschen nicht zwangsläufig aggressiver, bloß weil sie zusammengepfercht sind. Dann müsste ja Hongkong die gewalttätigste Stadt der Welt sein - und vermutlich ist es die friedlichste. Wegen des Klimawandels kann es natürlich passieren, dass wir nicht alle Menschen ernähren können. Doch der Streit um Ressourcen ist selten der Hauptgrund für Kriege, die meisten Kriege wurden aufgrund von Rache, Gerechtigkeit, Ideologien und dem Bedürfnis nach Sicherheit ausgetragen. Nur wenige Staaten kämpfen um Wasser.

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