"Wir haben verhindert, dass IS-Terroristen massenhaft nach Europa kommen"

Bedran Ciya Kurd. Foto: Elke Dangeleit

Nord- und Ostsyrien: Wie lebt man ein neues Demokratiemodell unter dem Druck von Krieg und Terror in einer islamisch geprägten Region? Ein Gespräch mit Bedran Ciya Kurd

Bedran Ciya Kurd ist einer der Vizevorsitzenden der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien und zur Zeit auf Europareise

Was ist der Grund Ihrer Europareise? Welche Forderungen gibt es von Seiten der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens an die westlichen Staaten?
Bedran Ciya Kurd: Durch die Corona-Pandemie konnten wir fast zwei Jahre nicht nach Deutschland oder Europa kommen, um über unsere Arbeit und unsere Probleme zu berichten. Wir hoffen, dass wir das jetzt nachholen können. Wir sind ja nicht nur hier, um ‚Hallo‘ zu sagen, sondern haben auch Wünsche und Forderungen. Der wichtigste Punkt ist die Anerkennung der Selbstverwaltung auf der diplomatischen Ebene und die Pflege diplomatischer Beziehungen. Das ist uns wichtig und muss weitergeführt werden.
Der zweite Punkt ist die Stabilisierung und der Wiederaufbau von Nord- und Ostsyrien. Wir müssen die westlichen Länder überzeugen, dass eine Bekämpfung des "Islamischen Staates" - auch ideologisch und nicht nur ganz praktisch am Boden - nur im Rahmen einer Stabilisierung stattfinden kann.
Verbunden mit den ersten beiden Punkten wünschen wir uns auch humanitäre Unterstützung für das Selbstverwaltungsgebiet. Wir fordern auch von den europäischen Ländern eine klare Haltung zur seit Jahren anhaltenden Vernichtungspolitik der Türkei gegen die Selbstverwaltung. Wir erwarten dazu eine deutliche Kritik der europäischen Länder. Bei den Gesprächen, die wir führen, merken wir, dass die Politik der Selbstverwaltung in vielen Ländern Europas positiv gesehen wird. Wir wissen allerdings, dass es nicht ausreicht, wenn die westliche Welt die Selbstverwaltung anerkennt.
Zuerst muss nämlich eine Lösung für ganz Syrien gefunden werden und dann können wir schauen, wie die Zukunft zusammen mit uns gesichert werden kann. Und grundsätzlich kann eine Lösung für Syrien nur zusammen mit unserer Selbstverwaltung stattfinden. Das versuche ich den Regierungen und unseren Partnern durch meine Reise durch Europa deutlich zu machen. Außerdem ist es uns auch wichtig, unsere Partner - Vereine und NGOs aus der Zivilgesellschaft - zu besuchen und sie in ihrer Arbeit zu bekräftigen. Denn auch wir ziehen Kraft und Hoffnung aus der Arbeit der vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen in vielen Ländern der Welt.

"Es gibt einen Dialog - aber eben alles inoffiziell"

Vor Ihrem Deutschlandbesuch waren Sie zu Gesprächen in Schweden und der Schweiz. In Schweden haben Sie mit der Außenministerin Ann Linde gesprochen, die Ihnen 8,5 Mio. Euro Hilfsgelder zugesagt hat. Was sind Ihre Erfahrungen aus den diplomatischen Gesprächen? Gibt es Unterschiede in der Haltung der Regierungen gegenüber der Selbstverwaltung? Verhalten sich Nicht-Nato-Staaten Schweden und die Schweiz anders als die Nato-Staaten?
Bedran Ciya Kurd: Natürlich haben wir eine Zusammenarbeit mit vielen europäischen Ländern, mit Nicht-Nato-Ländern aber auch mit Nato-Partnern. Mit den Nato-Ländern, die mit uns Kontakt aufnehmen, finden allerdings keine offiziellen Gespräche statt. Aber immerhin: es gibt Gespräche, es gibt einen Dialog - aber eben alles inoffiziell. Das hat natürlich etwas mit deren Zusammenarbeit mit der Türkei zu tun und ihren geopolitischen Interessen. Das ist uns bewusst. Wir unterstützen diese Interessen nicht, aber wir nehmen diese Tatsache zur Kenntnis.
Andererseits wünschen wir uns, ein bisschen mitmischen zu können, indem wir sagen: okay, wir akzeptieren, dass es inoffiziell ist und dass die Gespräche unter dem Tisch laufen. Aber wir fordern von den Nato-Partnern, dass sie sich gegenüber der Türkei zu deren antikurdischer Vernichtungspolitik positionieren und sich dagegen stellen. Wir sind nicht gegen die Staaten, die mit der Türkei kooperieren. Das ist deren Angelegenheit, wir würden ja auch mit anderen Ländern zusammenarbeiten, wenn es mal ein geeintes Syrien geben wird, in dem wir unseren Platz haben. Aber wir wollen nicht, dass die EU, die Nato-Staaten ihre Interessen auf dem Rücken der Kurden durchsetzen.
Wir fordern, dass die Kurden, vor allem wenn es um Nord- und Ostsyrien geht, in Gespräche und Verhandlungen mit einbezogen werden. Einen Punkt möchte ich noch hinzufügen: Kurden haben, egal in welchem Land mit kurdischen Siedlungsgebieten, noch nie eine Gefahr für die europäischen Länder, für die Nato-Partner oder für die Weltgemeinschaft dargestellt.
Im Gegenteil, wir waren diejenigen, die den IS besiegt haben und die Menschen in Nord- und Ostsyrien, aber auch im gesamten Mittleren Osten vom IS-Kalifat befreit haben. Damit haben wir auch die Gefahr beseitigt, dass IS-Terroristen massenhaft nach Europa kommen. Deshalb sollte Europa seine Haltung gegenüber den Kurden neu definieren und uns als politische Partner anerkennen.
Können Sie unseren Lesern erklären, was das Besondere an Ihrem Demokratiemodell, an Ihrer politischen Kultur ist?
Bedran Ciya Kurd: Es ist ja bekannt, dass die Türkei versucht, ein negatives Bild über uns und unsere Institutionen zu verbreiten. Sie bezeichnen uns als Terroristen. Wir versuchen der Weltöffentlichkeit zu zeigen, dass wir es sind, die mit unseren "Syrian Democratic Forces" (SDF) gegen den Terror, zum Beispiel den des IS kämpfen. Wir sehen gerade, wie der IS sich neu formiert und neu organisiert. Das wird ja auch von den internationalen Medien wahrgenommen. Viele Medien sehen auch, dass nur wir es sind, die vor Ort gegen diese Terrororganisationen vorgehen.
Die Lösung der syrischen Frage liegt nicht bei der sogenannten Opposition (gemeint ist die nationalistisch-islamistische Exilregierung ETILAF mit Sitz in Istanbul und der Barsani-treue ENKS, Anm. E. D.) und nicht beim Baath-Regime. Wir sehen ja auch, dass sie alle keine Zukunftsvision haben, wie ein friedliches Syrien aussehen könnte. Sie haben auch keinen Plan, wie ein Wiederaufbau gelingen kann. Unsere demokratische Föderation könnte hingegen ein Modell für ein demokratisches, föderales Syrien sein.
Wir behaupten nicht, dass alles, was wir aufgebaut haben, zu 100 Prozent korrekt und richtig ist. Wir sehen auch, dass manche Dinge nicht funktionieren und Manches verbessert werden könnte. Aber die Fundamente stimmen. Darauf können wir aufbauen, wir können es verbessern und dazu lernen. Aber dafür brauchen wir Unterstützung von außen und eine Stabilisierung der Region.

"Die Bevölkerung sagt uns, wie wir arbeiten sollen"

Was sind die Fundamente?
Bedran Ciya Kurd: Der erste Punkt, der unser demokratisches Fundament ausmacht, ist das multiethnische Zusammenleben der dortigen Gesellschaft. Wir sehen, dass es das Wichtigste ist, wenn alle Menschen friedlich zusammen leben können. Das bedeutet für uns Demokratie: gleichberechtigtes Zusammenleben aller Ethnien und aller Religionen. Dieses Zusammenleben findet in den Kommunen (Nachbarschaften, Anm. E.D.) statt. Dort werden Beschlüsse gefasst und an uns weitergegeben. Die Bevölkerung sagt uns, wie wir arbeiten sollen. Das ist für uns Demokratie.
Der zweite Punkt ist die Gleichstellung der Frauen. Durch unseren basisdemokratischen Aufbau mit den Kommunen ist die Frauenbeteiligung nie unter 50 Prozent. Frauen haben eine wichtige Rolle auf der gesellschaftlichen Ebene, auf der diplomatischen und politischen Ebene, aber auch im Kampf gegen den IS. All das nennen wir Frauenrevolution. Mit unserer Frauenarmee YPJ sind wir weltweit führend. Oft sagt man uns nach, die Positionen der Frauen seien nur symbolisch, die Männer hätten immer noch das Sagen. Das ist nicht so. Das, was Frauen sagen, wird gehört und hat das gleiche Gewicht wie das, was Männer sagen.
Der dritte Bereich, der unser Fundament ausmacht, ist die Ökologie. Auch in den Bereichen politische Bildung, Stiftungen oder Gründung von NGOs haben wir uns in den letzten Jahren weiter entwickelt. Das ist das Ergebnis unserer Arbeit der letzten Jahre. Aber es reicht noch nicht aus, wir müssen das weiter vertiefen.
Auch an folgendem Beispiel sieht man, dass unsere Basisdemokratie funktioniert: Wir haben in der letzten Zeit wegen der prekären Wasser- und Stromversorgung einige Anordnungen erlassen, die höhere Treibstoffpreise zur Folge hatten. Die Gesellschaft war damit nicht einverstanden und es gab Proteste. Die Selbstverwaltung hat daraufhin diese Anordnungen zurückgenommen. Das zeigt, dass die Selbstverwaltung Forderungen ernst nimmt, welche die Bevölkerung über die Kommunen an uns heranträgt, und dann mit der Bevölkerung nach Lösungen sucht.

"Sie haben gesehen, dass da etwas Neues entsteht"

Wie muss man sich die Integration der eher konservativen Stammesführer in das demokratische System vorstellen?
Bedran Ciya Kurd: Vor der Zeit der Selbstverwaltung haben auch die arabischen Stammesführer unter dem Baath-Regime gelitten. Auch sie waren von der Politik weitgehend ausgeschlossen und wurden unterdrückt. Einige Stammesführer hatten zwar politische Ämter inne, aber sie konnten ihre Stammesinteressen nicht vertreten. Ihre Beteiligung hatte nur Symbolcharakter. Und genauso haben nicht nur wir, sondern auch die arabischen Stämme unter dem IS gelitten. Auch bei ihnen wurden Frauen entführt und Männer umgebracht. Auch sie wurden aus ihren Häusern vertrieben, auch ihr Vieh wurde gestohlen und ihre Häuser wurden geplündert.
Das war auch in den Medien zu sehen. Als sie dann gesehen haben, wie sich die SDF dem IS entgegenstellen, haben sich und mehr und mehr arabische Stämme angeschlossen. Sie haben gesehen, dass da etwas Neues entsteht und hatten Interesse, das mitzugestalten. Das haben wir erkannt und gefördert. Das syrische Regime versuchte die arabische Bevölkerung gegen uns aufzubringen, indem es behauptete, die Kurden würden Syrien aufteilen wollen und würden sie aus ihren Dörfern im Norden vertreiben wollen.
Aber als wir in die arabischen Gebiete gegangen sind und ihnen gezeigt haben, was ein demokratischer Aufbau ist und wie sie gleichberechtigt mit anderen Ethnien leben können und dass sie sich gemeinsam mit uns selbst verwalten können, haben sich viele Stämme uns angeschlossen. Die Frauenfrage und die Gleichberechtigung waren dann zum Beispiel ein Thema, wo wir Schritt für Schritt Überzeugungsarbeit leisten mussten.
Aber auch bei uns kam das ja nicht von heute auf morgen. Das Umdenken ist ein lang andauernder Prozess. Wir waren auch erst sehr skeptisch, ob uns das gelingen würde. Heute sehen wir: viele arabische Frauen arbeiten bei uns in der Selbstverwaltung mit. Früher war es zum Beispiel undenkbar, dass sich eine arabische Frau der Frauenarmee YPJ anschließt. Heute sind es Hunderte, die sich uns Kurden angeschlossen haben.
Wie ist das Verhältnis der arabischen Stämme zum IS? Da gab es ja auch kürzlich Freilassungen von IS-Gefangenen, die ihren arabischen Familien übergeben wurden. In Europa führte dies zu Irritationen. Sind die wieder zum IS zurück gegangen?
Bedran Ciya Kurd: Mit der Selbstverwaltung, unserem Geheimdienst, den Stammesstrukturen und den Familien versuchen wir, die IS-Anhänger, die keine schweren Verbrechen begangen haben, wieder in ein normales Leben zu integrieren, also zu deradikalisieren. Natürlich beobachten wir den weiteren Verlauf. Es gibt auch gesellschaftliche Institutionen, die die Familien in bestimmten Abständen besuchen. Die Gefahr, dass sie wieder zum IS zurückgehen, besteht immer.
Deshalb gehen wir ja in die Familien und fragen, ob es Probleme gibt, wie es ihnen geht, ob sie Arbeit haben. Es ist aber auch wichtig zu wissen, dass der IS nicht mehr das ist, was er mal war. Er ist nicht mehr vor Ort präsent, um die Bevölkerung in seine Gewalt zu bringen. Daher ist es nicht mehr so leicht, sich dem IS anzuschließen. Das haben wir sowohl der Selbstverwaltung zu verdanken, als auch den Behörden, den Angehörigen und den Stämmen vor Ort.
Wie aktiv ist der IS in Nordsyrien noch? Er operiert ja hauptsächlich mit Schläferzellen. Gibt es Kerngebiete, wo die Schläferzellen besonders aktiv sind?
Bedran Ciya Kurd: Die Schläferzellen sind hauptsächlich in Deir ez Sor. Im Gebiet um Hasaka versuchen sie sich wieder neu zu organisieren, aber auch im Camp Al Hol. Es gibt immer noch diese Ideologie des IS, die versucht wieder aktiv zu werden. Das haben wir im Blick und sind auf der Hut.
Wichtig ist auch, zu erwähnen, dass deren Präsenz im Grenzgebiet zwischen Syrien und Irak stärker ist, da im Irak der IS weit präsenter ist als bei uns. Auch in den syrischen Wüstengebieten südlich des Euphrat haben sie wieder Gruppen gebildet, die sich wieder regelmäßig treffen. Aber das sind nicht unsere Gebiete, dort haben wir keinen Einfluss. Dort ist das Gebiet des syrischen Regimes, das aber dort kaum präsent ist. Der IS ist allerdings nicht das Gleiche wie die Islamisten, die mit der Türkei arbeiten. Diese treten im Gegensatz zum verdeckt agierenden IS öffentlich auf und setzen sich medial in Szene.
Stimmt es, dass etwa die Hälfte der IS-Gefangenen irakische Staatsbürger sind? Weshalb nimmt der Irak sie nicht zurück?
Bedran Ciya Kurd: Wir haben rund. 1.600 IS-Gefangene bei uns, von denen wir wissen, dass sie schwere Verbrechen begangen haben und mehr als 30- bis 35.000 irakische IS-Gefangene zum Beispiel im Camp al-Hol. Wir haben mit dem Irak oft Gespräche über eine Rückführung geführt, aber wie alle anderen Länder hat auch der Irak kein Interesse daran, dass ihre Verbrecher, die eine Gefahr für ihre eigene Gesellschaft und ihr eigenes System sind, zurückgeführt werden. Die Verbrechen im Camp al-Hol sind vor allem auf die irakischen IS-Anhänger zurückzuführen. Auch was außerhalb der Camps bei Deir ez Sor und südlich des Euphrats geschieht, geht fast ausschließlich auf das Konto irakischer IS-Anhänger.
Wie sind die Kontakte zur irakischen Zentralregierung? Diese müsste ja zum Teil die gleichen Interessen haben wie die Selbstverwaltung. Abgesehen vom Problem mit dem IS ist der Irak zum Beispiel auch von der Sperrung des Euphratwassers durch die Türkei betroffen. Gibt es die Hoffnung, dass ein irakisch-syrischer Grenzübergang für humanitäre Hilfe geöffnet wird?
Bedran Ciya Kurd: Natürlich gibt es diplomatische und politische Gespräche mit der Zentralregierung in Bagdad. Die Grenzsicherung zwischen dem Irak und dem syrischen Gebiet der Selbstverwaltung, aber auch die Grenzsicherung im Nordirak ist ständiges Gesprächsthema zwischen uns. Da arbeiten wir gemeinsam daran, dies zu verbessern. Wir haben auch mit der Zentralregierung in Bagdad über einen möglichen neuen Grenzübergang gesprochen, oder dass der Grenzübergang Tell Kocer wieder eröffnet wird. Wir haben auch mit den Amerikanern darüber Gespräche geführt. Die Iraker sagen, sie haben grundsätzlich kein Problem damit, den Grenzübergang Tell Kocer wieder zu öffnen.
Allerdings müsste dann auf unserer Seite das syrische Regime mit allen notwendigen Institutionen vor Ort präsent sein. Allerdings hält das Regime es vor Ort an der Grenze nicht für notwendig, mit uns zusammenzuarbeiten. Es ist nur auf sich selbst fokussiert und besteht auf seiner alleinigen Vertretungsmacht. Wir haben Gespräche geführt, ob wir statt ihnen den Grenzübergang kontrollieren sollen. Das haben sie abgelehnt, denn sie wollen von Seiten des Regimes keine Zusammenarbeit mit unserer Polizei (Assayis) oder unserer Armee (SDF).
Über den Irak gibt es verstärkt einen iranischen Einfluss. Wie wirkt sich dieser im Süden von Deir ez Sor auf die arabische Bevölkerung aus? Stoßen sie auf Akzeptanz oder Ablehnung?
Bedran Ciya Kurd: Der Iran ist nicht nur in Deir ez Sor aktiv, auch in Aleppo und Daraa. Auch in anderen Gebieten sind iranische Milizen präsent. Sie versuchen die Menschen für sich zu gewinnen, damit sie zum Schiitentum wechseln. Sie geben auch viel Geld dafür aus. Das syrische Volk ist dafür bekannt, dass man, besonders in dieser Phase, mit diesen Gruppen arbeitet, weil man in Not ist. Hunger, Not, kein Geld, Krieg - das treibt die Menschen in deren Arme. Das ist der Grund, warum diese Milizen an Boden gewonnen haben. In unserem Gebiet haben wir das Problem nicht. Wir versuchen die iranischen Milizen von unserem Gebiet fernzuhalten.
Gibt es zwischen den USA und Russland inzwischen festgelegte Einflusszonen in Nordsyrien, z.B. Russland westlich von Qamishlo und USA östlich von Qamishlo? Vor einigen Monaten gab es zwischen Beiden ja noch Auseinandersetzungen.

Bedran Ciya Kurd: Es gibt auf dem Boden und im Luftraum klar definierte Linien, wer wo präsent ist. Es gibt ein Protokoll, das von Russland und von den USA vor längerer Zeit unterschrieben wurde. Beide Seiten haben sich im wesentlichen daran gehalten, auch wenn es vereinzelt zu Zusammenstößen kam.Das waren allerdings Ausnahmen. Vor kurzem gab es ein Treffen bei uns mit der Selbstverwaltung, um dieses Protokoll zu aktualisieren und festzulegen, wer mit wem und wie zusammenarbeiten kann.

Von Tell Temir bis Kobane und Minbic an der Grenze zur Türkei sind die Russen präsent. Von Tell Temir Richtung Hassaka bis zur Grenze zum Irak sind die Amerikaner mit der Anti-IS-Koalition. Da wo die Russen sind, gibt es auch gemeinsame Patrouillen mit dem Regime an Orten, wo dies präsent ist.

"Die Lage der Binnenflüchtlinge ist ein wunder Punkt"

Wie ist die Situation mit den vielen Binnenflüchtlingen? Wie bekommen Sie ein friedliches Zusammenleben hin? Gibt es Missmut unter der Bevölkerung gegenüber den Geflüchteten, wo es ja an allem, an Lebensmitteln, Medikamenten und Wasser fehlt?
Bedran Ciya Kurd: Die Lage der Binnenflüchtlinge ist unser wunder Punkt. Wir haben über eine Million Menschen, die zu uns geflüchtet sind. Deren Situation ist fast eine humanitäre Katastrophe. Die Geflüchteten-Camps sind überfüllt. Es fehlt an allem: An Medikamenten, an Kleidung, an Nahrung, an Wasser. Viele weitere Geflüchtete sind bei Angehörigen und Verwandten untergekommen. Auch die Zivilgesellschaft war auf unsere Bitte hin aktiv. Wenn sie freie Zimmer in ihren Wohnungen hatten, haben sie diese an geflüchtete Familien weitergegeben.
Die Selbstverwaltung tut alles in ihrer Macht stehende, um deren Lebenssituation zu verbessern. Aber uns sind die Hände gebunden, denn unsere Mittel sind begrenzt. Das ist auch ein Punkt, warum ich hier in Europa bin und mit den verschiedenen Repräsentanten über dieses Problem sprechen möchte. Die Selbstverwaltung darf in dieser Frage nicht weiter allein auf sich selbst gestellt bleiben. Wir fordern dringend internationale Unterstützung für die Versorgung der Binnenflüchtlinge.
Sie sind politische Opfer des Syrienkriegs. Sie leiden darunter, wie auch wir darunter leiden. Durch die Schließung des Grenzübergangs Tell Kocer zum Irak - wir haben vorhin kurz darüber gesprochen - hat sich Situation für alle nochmals verschlimmert. Die Schließung des Grenzübergangs, u.a. für humanitäre Hilfe an die Selbstverwaltung, wurde durch das Veto von Russland und China verursacht.
Dies hat das Leid der Bevölkerung weiter verschärft. Eine humanitäre Katastrophe steht unmittelbar bevor. Neben dem Hunger und den sich ausbreitenden Krankheiten wächst auch die Unzufriedenheit der Menschen. Das wiederum birgt die Gefahr, dass sich vermehrt Menschen der IS-Ideologie zuwenden.
Wir haben hier große Probleme mit dem "Politischen Islam" Organisationen wie die türkische Ditib werden von unserer Regierung unterstützt. Sie dürfen zum Beispiel islamischen Religionsunterricht an Schulen geben. Inhaltlich vertreten sie aber keine demokratischen Werte. Sie sind zwar nicht terroristisch, predigen aber einen sehr konservativen, fundamentalistischen Islam, der sich gegen die Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder von Homosexuellen richtet. Und sie lehnen die Gleichberechtigung der Religionen ab. Alle außer den Muslimen sind für sie Ungläubige und daher nicht gleichwertig. Gibt es auch in Rojava Gruppen wie zum Beispiel die Muslimbruderschaft? Gibt es ähnliche Probleme mit Moscheen, die politisch gegen die Selbstverwaltung arbeiten? Wie gehen Sie damit um?
Bedran Ciya Kurd: Wir sind auch verwundert: wie kann es sein, dass Dschihadisten oder Islamisten hier Büros und Vereine eröffnen und Öffentlichkeitsarbeit betreiben können. Dass die deutsche Regierung dies zulässt, stärkt diese Kreise und kann dazu führen, dass sich radikale Gedanken bis hin zur IS-Ideologie in der muslimischen Bevölkerung verbreiten können.
Ein neues Wort für die Islamisierung ist "Brüderlichkeit". Wir sehen zum Beispiel, dass die Muslimbrüder in vielen Ländern agieren. Sie werden in vielen Ländern als der "liberale Islam" dargestellt, aber in Wahrheit ist das nicht so. Einer der Hauptsitze der Muslimbrüder ist die Türkei. Viele der islamistischen Söldnertruppen, die auch in Nordsyrien in den türkisch besetzten Gebieten agieren, fühlen sich zu dieser Ideologie hingezogen. Die sogenannte Opposition in Nordsyrien wird nun von genau diesen Gruppen repräsentiert.
Wir haben gesehen und stellen es immer wieder fest, dass diese ganzen deutschen Islamisten, die zu uns gekommen sind, überwiegend durch die verschiedenen islamistischen Organisationen in Deutschland radikalisiert worden sind. Sie sind dann über die Türkei nach Nordsyrien gekommen und dem IS beigetreten. Wir sehen die Notwendigkeit, dass die Bundesregierung an dieser Stelle eine klare Position gegenüber islamistischen Organisationen und Vereinen einnimmt. Man muss diese Organisationen verbieten, damit es keine Anlaufstellen gibt, wo die Menschen indoktriniert werden und sich radikalisieren können.
Bei uns in Nord- und Ostsyrien gibt es keine aktiven Mitglieder der Grauen Wölfe, Muslimbrüder oder Ableger der türkischen Religionsbehörde Diyanet. Das werden wir auch nicht zulassen. Es gibt auch bei uns Mitglieder verschiedener islamischer Gruppen, die in unseren Gremien vertreten sind. Aber diese sind gegen den Islamisierungskurs der Türkei, gegen die sogenannte Opposition und gegen die islamistischen Söldnertruppen der Türkei. Sie sind eher für eine Stabilisierung des Landes, für eine echte Brüderlichkeit, für ein friedliches Zusammenleben aller - und sie arbeiten auch mit uns zusammen.
Sollten sich islamistische Gruppen bei uns bilden, würden wir zuerst das Gespräch suchen und schauen, was der Auslöser, die Ursache für die Bildung einer solchen Gruppe ist. Wenn wir dann solche Gruppen zulassen würden, gäbe es natürlich eine Zusammenarbeit zwischen denen und der Türkei, deren islamistischen Milizen und dem IS. Aber im Grunde können sich solche Gruppen bei uns nicht etablieren, weil unsere Gesellschaft zu großen Teilen gegen eine solche Ideologie ist.
Bei uns ist die Gesellschaft frei, da gibt es Frauen, die Kopftuch tragen; Frauen,die sich bedecken; Frauen, die sich offen kleiden; wir sehen auch Menschen, für die Religion kein Thema ist. Hier in Europa ist z.B. das Thema "Kopftuch" und das Thema "Islam" politisiert worden. Es ist zum Wahlkampfprogramm geworden. Bei uns wird viel Wert auf Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit gelegt.
Auch bei den Menschen, die in der Selbstverwaltung arbeiten. Wir wollen auch vermeiden, dass es zu viele Diskussionen darüber gibt. Religionsfreiheit gehört mit zu den Grundlagen unserer Demokratie. Die Selbstverwaltung lässt auch nicht zu, dass jemand diskriminiert oder rassistisch angegriffen wird. Natürlich gibt es auch Versuche, die Bevölkerung zu radikalisieren und dazu zu bringen, gegen die Selbstverwaltung zu kämpfen. Wenn wir das sehen, unterbinden wir es sofort.
Wir haben in Deutschland quer durch verschiedene Parteien das Problem, dass Menschen, die für das Neutralitätsgesetz und für neutrale Räume ohne religiöse Symbole zum Beispiel in Schulen, Behörden oder der Justiz eintreten, "antimuslimischer Rassismus" vorgeworfen wird. Dieses Argument nutzen vor allem Verbände des Politischen Islam. Viele Menschen sind dadurch verunsichert und tragen diese Argumentation mit, weil sie nicht in die rassistische Ecke gestellt werden wollen. Was können wir diesbezüglich von Ihnen lernen?
Bedran Ciya Kurd: Wir sehen, dass auch Menschen mit einer islamistischen Grundhaltung nach Europa geflohen sind und dies die Politik dort ein bisschen verändert hat. Aber das größte Problem für Deutschland und Europa ist, dass die Türkei auf allen Ebenen finanziell, strukturell aber auch ideologisch Einfluss nimmt und diese Gruppen (Muslimbrüder, Ditib, Milli Görüs etc.; Anm. E.D.) fördert.
Wenn ein Islam entstehen soll, der offen für alle ist und keine Gruppe oder andere Religionen ausgrenzt, muss die Bundesregierung ihre Haltung gegenüber der Türkei ändern. Es sollte verboten werden, dass die Türkei sich hier in die Religionsausübung einmischt. Man muss für den Religionsunterricht neutrale Menschen aussuchen, die das unterrichten können.
Für uns ist wichtig, dass sich die Religion nicht in die Politik einmischt. Für uns ist wichtig, dass die verschiedenen Religionen gleichberechtigt existieren und die Werte der Menschlichkeit repräsentieren. Generell ist die kurdische Bevölkerung bei uns nicht so sehr islamisiert, die Religion steht nicht so im Vordergrund. Bei uns steht eher die Ideologie, die Nationalität und die Gesellschaft, das friedliche Zusammenleben, die Mitmenschlichkeit im Vordergrund.
Bei der arabischen Bevölkerung ist es ein bisschen anders. Der Islam spielt dort eine größere Rolle. Das verlangt dann auch einen anderen Umgang mit der Bevölkerung. Wir sehen zum Beispiel, dass bei uns in Nordsyrien, im Gegensatz zur Türkei, Irak oder Iran, ganz wenige Kurden zum IS gegangen sind. Deshalb ist es für uns wichtig, beizubehalten, dass der Islam als Religion in der Gesellschaft verortet ist, aber mit der Politik nichts zu tun hat.
Ich danke für das Gespräch.

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