"Wir haben zwei Volksdrogen. Ich brauche keine Dritte"

Holger Münch und Daniela Ludwig stellen den Lagebericht Drogenkriminalität vor. Screenshot von Phoenix-YouTube-Video

Ein drogenpolitischer Einwurf zu Stellungnahmen aus der Bundespressekonferenz

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Vorgestern stellte Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts, auf der Bundespressekonferenz den Lagebericht Drogenkriminalität vor. Gleich eingangs sagte er: "Rauschgiftkriminalität ist weiterhin ein Problem in unserer Gesellschaft." Die erfassten Delikte seien im Jahr 2019 zum neunten Mal in Folge angestiegen; Verfügbarkeit und Nachfrage von Rauschgift seien unverändert hoch.

In der Diskussion zeigte er sich jedoch offen für den Gedanken der weiteren Entkriminalisierung von Cannabis, der vor den Amphetaminen in Deutschland am häufigsten verwendeten illegalen Substanz. Als Positivbeispiel wurde der liberale Umgang mit dem Mittel in Portugal genannt. Münch kann sich vorstellen, dass der Besitz zukünftig als Ordnungswidrigkeit und nicht mehr als Straftat gilt. Das sei jedoch Entscheidung des Gesetzgebers. Ohnehin würden heute bereits viele Verfahren wegen Besitzes von Cannabis von der Justiz eingestellt.

Noch auf der früheren Bundespressekonferenz vom 1. Juli erläuterte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Daniela Ludwig (CSU) allerdings vehement, sie brauche neben den beiden Volksdrogen Alkohol und Tabak keine Dritte. Auf Nachfragen des Journalisten Tilo Jung zum Vergleich der Gefährlichkeit von Alkohol und Cannabis reagierte sie sichtlich genervt: "Nur weil Alkohol gefährlich ist, unbestritten, ist Cannabis kein Brokkoli."

In der gestrigen Pressekonferenz, in der sie neben dem BKA-Chef saß, zeigte sie sich dann aber doch aufgeschlossener für das portugiesische Modell. Im Juli hatte sie immerhin eingeräumt, dass die Ungleichbehandlung alkoholisierter und bekiffter Autofahrer ein rechtsstaatliches Problem sei. Inzwischen deuten mehr Zeichen auf eine Entkriminalisierung - jedenfalls von Cannabis. Steht in Deutschland ein großer drogenpolitischer Liberalisierungsschritt bevor?

Historischer Rückblick

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, dass das Verbot von Substanzen als Drogen beziehungsweise Betäubungsmitteln oder Rauschgift keinesfalls selbstverständlich ist. Unser Umgang mit den Mitteln ist stark in Traditionen, Vorurteilen und Pragmatik verwurzelt. Beispielsweise wurde das heute dämonisierte Kokain Ende des 19. Jahrhunderts noch als medizinischer Durchbruch gefeiert, war es doch das erste bekannte lokale Anästhetikum, das vor allem gefürchteten Augenoperationen einen Großteil ihres Schreckens nahm.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden dann - angetrieben durch die Vereinigten Staaten mit ihrem Puritanismus und dem "War on Drugs" der Republikaner - über mehrere völkerrechtliche Verträge immer mehr Substanzen verboten. Noch im 19. Jahrhundert waren Kolonialmächte wie Großbritannien oder Frankreich die größten Drogendealer gewesen und hatten sogar Krieg gegen Länder geführt, die wie China die Einfuhr von Rauschgift verboten. Als die USA später Drogen kriminalisierten, richteten sich die Gesetze zudem gegen unerwünschte Arbeitsmigranten oder pazifistische Hippies (Mit Drogenpolitik wird Sozial- und Migrationspolitik gemacht).

Im liberalen Rechtsstaat ist alles erlaubt, was nicht verboten ist; und Verbote bedürfen einer guten Begründung. Der heute verbreitete Ansatz geht davon aus, den Bürger vor sich selbst schützen zu müssen. So formuliert es dann auch BKA-Präsident Münch als Kernthema: "Wie erreichen wir unser Ziel, die Gesundheit in der Bevölkerung möglichst gut zu schützen?" Und: "Mit welchen Maßnahmen erreiche ich die beste Wirkung?"

Gesetze müssen zudem verhältnismäßig sein, sonst sind sie verfassungswidrig. Und Verhältnismäßigkeit bedeutet, dass der Staat das mildeste wirksame Mittel wählt. Verbot und Strafe sind aber seine schärfsten Schwerter.

Ein rationalerer Ansatz

Wissenschaftler um den britischen Pharmakologieprofessor David Nutt kritisieren die vorherrschende Drogenpolitik seit vielen Jahren als irrational und widersprüchlich. In der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet und später mit der Initiative DrugScience verglichen sie die Gefährlichkeit der Substanzen und kamen zum Ergebnis, dass vor allem Heroin, Crack-Kokain und Methamphetamin ("Crystal Meth") den Konsumenten schaden. Aufgrund der starken Verbreitung und der Einbeziehung des Schadens für Andere steht auf Platz eins aber: unsere Volksdroge Alkohol.

Rangliste nach Gefährlichkeit der Substanzen laut DrugScience. Für den Schaden für Andere ist auch die Verbreitung des Mittels maßgeblich. Quelle: DrugScience, CC BY-SA 4.0

Daher ist der Gedanke nicht abwegig, entweder ein Verbot von Alkohol und Tabak zu fordern, was wohl utopisch ist und angesichts früherer Erfahrungen absurd wäre, oder sich für die Freigabe anderer Mittel einzusetzen. Zu Letzterem äußerte sich der BKA-Präsident Münch (für Cannabis) aber auch kritisch, da dann wahrscheinlich mehr Menschen die Substanz verwenden würden. Was aber, wenn die Berechnung von DrugScience stimmt und das Mittel nicht einmal ein Drittel so schädlich ist wie Alkohol?

Psychologische Sichtweise

Was hier fehlt, ist eine psychologische Sichtweise. Menschen verwenden nämlich bestimmte Substanzen, um damit ihre Bedürfnisse zu befriedigen (Die Droge als Instrument). In der bürgerlichen Gesellschaft ist toleriert oder sogar gewünscht, dass Menschen sich aus verschiedensten Gründen Aufputsch-, Beruhigungs-, Schlaf- oder Schmerzmittel verschreiben lassen. Dabei steht auch das für die heute so populär gewordene Störung ADHS verschriebene Amphetamin auf der Gefährlichkeitsliste links von unter anderem Cannabis, Ecstasy, LSD oder halluzinogenen Pilzen.

Professor Nutt machte sich übrigens mit seiner 2008 im Journal of Psychopharmacology veröffentlichten Berechnung, dass der Reitsport mehr gefährliche Nebenwirkungen hat als der Konsum der Partydroge Ecstasy, einflussreiche Feinde. Kurz darauf musste er seinen Vorsitz eines wichtigen Drogenberatungsgremiums der britischen Regierung räumen. Mit den reitenden Fürstinnen und Fürsten legt man sich dort besser nicht an.

Warum sollte es aber legal sein, wenn sich Menschen die genannten Mittel vom Hausarzt oder Psychiater besorgen, dann sogar auf Kosten der Krankenversicherung, während es zur Straftat wird, wenn sie es auf eigene Faust und eigene Kosten tun? Dabei muss natürlich klar sein, dass die Substanzen keine Bonbons sind - oder um im Bild der Drogenbeauftragten zu bleiben: kein Brokkoli. Das lässt sich aber auch über Aufklärungs- und Präventionsarbeit kommunizieren. Man erinnere sich noch einmal daran: Das Verhältnismäßigkeitsprinzip erfordert das schwächste wirksame Mittel!

Das gilt umso mehr, wenn die auch vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags zitierte Studie von Ari Rosmarin und Niamh Eastwood zu den Folgen der Entkriminalisierung von Drogen stimmt. Diese kam nämlich zum Ergebnis, hier zitiert nach Wikipedia:

"dass die Verfolgung einer strikten Drogenpolitik wenig bis keinen Einfluss auf das Konsumverhalten hat." Vielmehr "wiesen einige der Länder mit den strengsten gesetzlichen Regelungen einige der höchsten Prävalenzraten im Hinblick auf den Drogenkonsum auf, während Länder, die eine Liberalisierungspolitik verfolgen, einige der niedrigsten Prävalenzraten aufwiesen."

Rosmarin & Eastwood, 2016

Dazu passt, dass auch in Deutschland das Bundesland mit der strengsten Drogenpolitik die meisten Drogentoten hat: Bayern (Warum repressive Drogenpolitik nicht funktioniert). Was war noch einmal das Kernthema des BKA-Präsidenten? "Wie erreichen wir unser Ziel, die Gesundheit in der Bevölkerung möglichst gut zu schützen?" Und: "Mit welchen Maßnahmen erreiche ich die beste Wirkung?"

Demnach müssten sich eigentlich Holger Münch und seine BKA-Beamten an vorderster Front für eine Entkriminalisierung einsetzen. Stattdessen könnten sie einmal Supermärkte nach stark verarbeiteten Lebensmitteln absuchen, die fast nur aus Fett, Salz, Zucker, Geschmacksverstärkern, Farb- und Aromastoffen bestehen, und diese konfiszieren. Aber die Lebensmittellobby und die schlappe Politik verhindern ja schon seit Jahren, dass Verbraucher auf einen Blick, beispielsweise mit einer wissenschaftlich fundierten Nährwertampel auf der Verpackung, das süße Gift im Regal erkennen können. Oder wie war das noch mit der Gesundheit in der Bevölkerung?

Kollateralschäden

Dabei sollte man auch die Kollateralschäden der heutigen Verbotspolitik bedenken: Menschen konsumieren bestimmte Substanzen, schlicht weil sie das Bedürfnis danach haben. Können sie das nicht befriedigen, suchen sie sich andere Substanzen, Mittel und Wege. Ob die gesünder sind, steht auf einem anderen Blatt.

Mit Sicherheit wissen wir aber, dass die heutigen Vertriebswege aufgrund des Verbots der Substanzen zusätzliche Gesundheitsrisiken und Kosten mit sich bringen: In illegalen Drogenlaboren gibt es keine Qualitätskontrollen und der Stoff wird zur Gewinnmaximierung gerne mit anderen Mitteln gestreckt. Das landet alles in den Körpern der Konsumenten. Aufgrund der Kriminalisierung und Stigmatisierung trauen sich Konsumenten mitunter nicht, im Ernstfall Hilfsdienste einzuschalten. Deshalb sterben Jahr für Jahr nachweislich Menschen.

Zudem ist der Verkauf für die organisierte Kriminalität ein lukratives Geschäft und entgehen dem Staat so Steuereinnahmen, wahrscheinlich in Milliardenhöhe. Wie viele Schulen könnte man damit beispielsweise sanieren oder für die digitale Gegenwart ausrüsten? Nicht zuletzt sind die Kosten für die Strafverfolgung zu nennen, die Kosten für Gefängnisaufenthalte und schließlich die sozialen Folgekosten für diejenigen, die so kriminalisiert werden.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass es sich bei der Drogenkriminalität laut dem BKA-Präsidenten um "Kontrollkriminalität" handelt. Das heißt, die allermeisten Delikte werden nur aufgrund polizeilicher Ermittlungsarbeit erfasst, nicht weil Bürgerinnen und Bürger sie anzeigen. Demnach ist der Substanzkonsum aber auch in aller Regel Privatsache und stören sich andere daran nicht oder kaum. Oder mit anderen Worten: Würde die Polizei nicht suchen, gäbe es einen Großteil der Drogenkriminalität schlicht nicht.

Wie man es auch dreht und wendet: Cannabis ist kein Brokkoli, ja; es ist aber auch kein Teufelszeug. Und nach wissenschaftlichen Studien gelten ähnliche Erwägungen für eine ganze Reihe von Substanzen. Ein liberalerer Umgang scheint demnach nicht nur mehr im Einklang mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu sein, sondern auch unterm Strich zu weniger negativen Folgen zu führen. Die in Polizei und Justiz frei werdenden Ressourcen könnten dann auch zur Verfolgung echter Kriminalität eingesetzt werden.

Der Autor konsumiert keine verbotenen Substanzen. Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.