"Wir müssen uns vor keiner Kritik fürchten"
Ahmed Al Sheik, Chefredakteur des arabischen Nachrichtensenders al-Dschasira, über die Drohungen der US-Regierung, das politische Selbstverständnis und journalistische Ethik
Wenn es nach der US-Regierung ginge, sollte der aus der Wüstenmetropole Dohar sendende arabische Nachrichtensender al-Dschasira geschlossen werden ("Falsche Berichterstattung wird in diesem Land nicht erlaubt"). "Falsche" und "anheizende" Berichte warf US-Außenminister Colin Powell dem Sender erst Ende April bei einem Kurzbesuch in Katar einmal mehr vor. Es war nicht sein erster Versuch, der unliebsamen Berichterstattung Einhalt zu gebieten. Schon kurz nach Beginn des Krieges in Afghanistan war Powell nach Katar gereist, um mit der dortigen Regierung über die Redaktionspolitik des 1996 gegründeten Senders zu sprechen (Sex, Religion und Politik). Es mag dem inzwischen erlangten Einfluss des Senders geschuldet sein, dass der ägyptische Präsident Hosni Mubarak es sich trotz Kritik nicht nehmen ließ, die Redaktionsräume in Doha am Rande eines Staatsbesuches in Katar 2001 zu besichtigen. Der US-Präsident ist nachtragender: Als George W. Bush vor wenigen Tagen im arabischen Fernsehen zu den Foltervorwürfen gegen seine Soldaten Stellung bezog, wählte er den US-arabischen Sender Al Hurra und die arabische Station Al Arabia.
Wie begegnen Sie dem Vorwurf der US-Regierung, Ihre Nachrichten aus Irak seien "falsch" und würden die Situation "anheizen"?
Ahmed Al Sheik: Ich halte das für unfair und ungerechtfertigt. Unsere Mitarbeiter vor Ort haben in keinem Fall gegen die Prinzipien verstoßen, auf die sich ein freier Journalismus und das Recht auf freie Rede stützen. Sie vermitteln, was die Irakerinnen und Iraker derzeit als Realität erleben. Wenn sie verwundete oder getötete Menschen filmen, dann zeigen wir diese Bilder, oder greifen auf die Berichte von Augenzeugen zurück. Was wir in den vergangenen Monaten getan haben, unterscheidet sich nicht sonderlich von der Berichterstattung eines US-Senders wie CBS News, der unlängst Bilder von Folteropfern ausgestrahlt hat.
Was ist dann der Unterschied zwischen der Berichterstattung von al-Dschasira und CBS?
Ahmed Al Sheik: Der Umstand, dass wir vor Ort sind. Wir haben derzeit 85 Mitarbeiter in Irak, darunter 30 Korrespondenten. Dank dieses Netzwerks können wir aus Teilen des Landes berichten, zu denen andere Nachrichtenredaktionen keinen Zugang haben. Wir bekommen die Bilder, bevor die anderen sie haben. Und wir stehen außerhalb der politischen Kontrolle durch die US-Regierung oder eine befreundete Administration.
Zudem beschäftigen wir hauptsächlich Iraker. Das ist ein entscheidender Vorteil, denn die einzigen Personen, die sich in Irak frei bewegen können, sind Einheimische, weil die Menschen ihnen vertrauen. Die Reporter von CNN oder der BBC bleiben in ihren Hotelzimmern oder drehen die Berichte auf der Straße vor dem Hotel, um so den Anschein der Nähe zum Geschehen zu erwecken.
Sprechen Sie bei den Berichten über Anschläge in Irak von "Widerstandsakten" oder "Attentaten"?
Ahmed Al Sheik: In der Tat benutzen wir die Vokabeln Widerstand und Widerstandskämpfer oder Freiheitskämpfer.
Wir sind für sie gefährlich, weil wir vor Ort sind
Nach dem Besuch von US-Außenminister Colin Powell in Katar Ende April hat der dortige Außenminister Hamad bin Jassim bin Jabor Al Thani angekündigt, Ihnen die Kritik der US-Administration übermitteln zu wollen. Haben entsprechende Gespräche stattgefunden?
Ahmed Al Sheik: Es ist nicht unsere Aufgabe, Gespräche mit dem Außenminister von Katar zu führen. al-Dschasira ist eine unabhängige Nachrichtenstation.
Es gab also keine Gespräche?
Ahmed Al Sheik: Bislang nicht. Wenn solche Kontakte stattfinden sollten, dann hat unser Unternehmen wie jedes andere einen geschäftsführenden Direktor. Wenn es inner- oder außerhalb des Unternehmens Probleme gibt, ist er der Ansprechpartner. Wir unterstehen nicht der Regierung von Katar oder ihrem Außenministerium.
Gehen Sie davon aus, dass die Regierung des Emirats ihre Interessen trotz des Drucks aus Washington verteidigt?
Ahmed Al Sheik: Ja, absolut. Die Kritik an unserer Berichterstattung seitens der US-Regierung ist ja nicht neu. Alle Seiten haben genug Zeit gehabt, sich über die Hintergründe klar zu werden. Wir versuchen in dieser Situation, so professionell wie möglich zu arbeiten. Wenn wir das tun, wird niemand mit einer aufrichtigen Kritik eine Angriffsfläche finden. So lange wir also die Fakten und Hintergründe beleuchten, wird uns niemand zwingen können, unsere Redaktionspolitik zu ändern. Und wie wäre das auch möglich, wenn wir jeden Bericht mit Originalaufnahmen belegen können.
Trotzdem gehen die Berichte von Ihren Mitarbeitern und US-Militärsprechern weit auseinander, wie etwa bei der andauernden Belagerung der Stadt Al Falludscha. In einem Bericht der britischen Nachrichtenagentur AP wird ein Militärsprecher mit der These zitiert, dass es sich bei 95 Prozent der zivilen Opfer um "Männer im wehrfähigen Alter" gehandelt habe. Ihr Korrespondent sprach von Frauen und Kindern.
Ahmed Al Sheik: Das belegt doch am besten den Unterschied zwischen der Berichterstattung von uns und westlichen Medien. Ein US-Militärsprecher kann sich bei einer Pressekonferenz hinstellen und eine solche These aufstellen, ohne dass sie hinterfragt wird.
Unser Bild ist das eines Krieges der martialisch ausgerüsteten US-Armee gegen die Bevölkerung
Westliche Redaktionen sind aber doch nicht partout unkritisch.
Ahmed Al Sheik:: Nein, das würde ich auch nicht behaupten. In den meisten Fällen aber können sie eine solch unglaubliche Behauptung nach klassischen journalistischen Maßstäben gar nicht verifizieren, weil sie in die alliierten Truppen eingebettet sind. Dieser "embedded journalism" ist ein zentraler Bestandteil der US-amerikanischen Medienstrategie in laufenden Krieg und ein Grund für die zahlreichen Übergriffe der Truppen vor Ort, weil er ihnen die Freiheit zu solchen Taten gibt.
Es wäre doch kaum möglich, zivile Wohnviertel zu bombardieren oder Kriegsgefangene zu foltern, wenn unabhängige Korrespondenten darüber in ihren Heimatländern berichten würden. Weil dies derzeit eben nicht der Fall ist, können US-Militärsprecher von Kollateralschäden oder Einzeltaten sprechen. Darin unterscheiden sich unsere Berichterstattung und die Haltung der US-Regierung zu uns: Wir sind für sie gefährlich, weil wir vor Ort sind. Unsere Mitarbeiter gehen in die Krankenhäuser und in die attackierten Stadtteile, um direkt die Konsequenzen vor Ort zu filmen. Und welche Bilder sind dann zu sehen? Verwundete und tote Zivilisten.
Die Stellungnahme des von Ihnen erwähnten Militärsprechers ist umso zynischer, als er mit seiner Formulierung einen militärischen Widerstand suggeriert. Tatsache aber ist, dass es im Irak gar kein Militär mehr gibt, denn die Armee wurde zerschlagen und die Polizei aufgelöst. Es gibt nach internationalem Recht also nur noch Zivilisten. Wenn es also bewaffnete Konfrontationen gibt, dann werden die auf irakischer Seite von Zivilisten geführt, die ihre Städte und Häuser verteidigen.
In Anbetracht der offensichtlichen Organisation des Widerstandes werden diese Kämpfer aber doch gemeinhin als Guerillakämpfer bezeichnet. Verzerren Sie das Bild nicht, wenn Sie von Zivilisten sprechen?
Ahmed Al Sheik: Ich habe mich auf die Darstellung der US-Armee bezogen, die durchweg den Anschein erwecken will, dass es sich im Irak um fortschreitende militärische Auseinandersetzungen handelt. Unser Bild ist das eines Krieges der martialisch ausgerüsteten US-Armee gegen die Bevölkerung. Die dokumentierten Konsequenzen geben uns Recht. Wenn unsere Kamerateams in Krankenhäusern filmen, dann zeigen sie unter den Opfern eine erhebliche Anzahl von verletzten Kindern, Frauen und alten Menschen mit Schuss- oder Splitterverletzungen. Ich frage mich, ob das die Männer im wehrfähigen Alter sind, von denen die AP-Meldung berichtet. Ich frage mich, ob diese Frauen, Kinder und alten Menschen militärische Ziele für die Armee der Vereinigten Staaten von Amerika sind.
In einem Streitgespräch hielt Ihnen die CNN-Moderatorin Daryn Kagan unlängst entgegen, dass es angebrachter wäre, über die Methoden des bewaffneten Widerstandes zu berichten, als ständig Bilder der zivilen Opfer zu zeigen.
Ahmed Al Sheik: Das Beunruhigende daran ist, dass es im Westen nach solchen unglaublichen Stellungnahmen keinen Aufschrei gibt. Meiner Meinung nach belegt das schon einen grundsätzlichen Unterschied in der Haltung der Menschen zum Geschehen im Irak. Die Menschen in westlichen Staaten sollten sich immer fragen, ob sie das, was im Irak geschieht, auch in ihrem jeweiligen Nachbarland akzeptieren würden.
Wir haben nichts dagegen, wenn unsere Berichterstattung kritisch hinterfragt wird. Solange wir auf professionelle Maßstäbe achten, und ich kann Ihnen versichern, dass wir das tun, müssen wir uns vor einer solchen Kritik nicht fürchten. Aber wer stellt die Fragen, wenn die Bewohner von Al Falludscha, die ihre Häuser und Familien verteidigen, von CNN als Terroristen bezeichnet werden? Wenn diese Menschen Terroristen sind, dann müssen wir wohl eine neue Definition für Terrorismus finden. Ebenso wahnwitzig ist es, sie für die zivilen Opfer verantwortlich zu machen. In den irakischen Städten haben sich Männer organisiert, die in T-Shirts und mit Handfeuerwaffen gegen eine moderne Armee antreten. Diese Leute verfügen nicht über Apache-Kampfhubschrauber oder lasergesteuerte Raketen, die in Moscheen oder Wohnviertel gelenkt werden.
Können Sie es nachvollziehen, dass Sie angesichts der Polarisierung auf beiden Seiten des Konfliktes inzwischen mehr als politische, denn als journalistische Instanz gesehen werden?
Ahmed Al Sheik: Ich gebe Ihnen ein Beispiel für einen solchen Fall. Nachdem drei japanische Gefangene von Widerstandskämpfern freigelassen wurden, berichtete ein Sprecher der Tagesschau, al-Dschasira habe als Vermittler gedient. Das war völliger Nonsens. Wir haben von den Widerstandskämpfern ein Videotape bekommen und es ausgestrahlt, nichts weiter. Wenn uns das in den Augen des Sprechers zu Vermittlern macht, dann ist er der englischen Sprache wohl nicht mächtig und hat die Meldung missverstanden. Und auch hier muss ich wiederholen: Andere Nachrichtenagenturen und Stationen haben dieses Band von uns übernommen. Eine australische Fernsehstation hat ebenfalls Aufnahmen von Gefangenen des Widerstandes ausgestrahlt. Werden sie aber in die politische Rolle von Vermittlern und damit in die Nähe des irakischen Widerstandes gestellt? Wohl kaum.
Trotz alledem will die US-Regierung Sie aus dem Irak verbannen. Denken Sie, dass Ihre Berichterstattung in Gefahr ist?
Ahmed Al Sheik: Wenn sie uns zwingen, den Irak zu verlassen, dann werden wir dem nachkommen müssen. Aber wir werden versuchen, die Berichterstattung so lange wie möglich aufrechterhalten. Wir können aber nicht den Umstand ignorieren, dass die USA als Besatzungsmacht derzeit die Autorität in Irak innehaben.
Trotzdem wurden Sie noch nicht offiziell des Landes verwiesen. Allerdings gab es eine Reihe von Angriffen auf Ihre Mitarbeiter. Zufall oder Vorsatz?
Ahmed Al Sheik: Nein, einen Vorsatz möchte ich der Armee nicht unterstellen, solange wir dafür keine Belege haben. Ich würde sagen, dass unsere Mitarbeiter zur falschen Zeit am falschen Ort waren.