Wir retten Menschenleben mit Menschenleben, ohne darüber zu verhandeln

Seite 2: Verhandlungssache der Solidargemeinschaft

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4. Gesellschaftlicher Gesundheitsschutz ist Verhandlungssache

Damit sind wir bei der simplen, aber in der Corona-Berichterstattung von Anfang an ausgeblendeten Tatsache, dass der Umfang von Gesundheitsschutz Verhandlungssache ist. Und zwar Verhandlungssache der Solidargemeinschaft, die sich gegenseitig beistehen möchte.

Dass hier niemand Anspruch auf grenzenlose Unterstützung einfordern kann, leuchtet schnell ein, wenn wir wiederum den abstrakten Staat durch uns Menschen ersetzen: Wer irgendetwas haben möchte, muss es von den anderen bekommen (sonst bräuchte der die Solidargemeinschaft nicht).

Meist geht es um Geld, aber es können auch beliebige andere Ressourcen sein, Organe etwa, Räume, Zeit. Die Bereitschaft, vom eigenen Besitz oder vom Anspruch auf solche Ressourcen abzugeben, hängt in erster Linie davon ab, wie man das Risiko einschätzt, selbst einmal auf Gaben der anderen Gemeinschaftsmitglieder angewiesen zu sein; hinzu kommt noch individuelle Empathie mit bestimmten Einzelschicksalen.

Es ist verständlich, dass Wettbewerber ebenso wie Social-Media-Gurus über den grünen Boris Palmer herfallen, der in einem Interview gesagt hat, was zur Empörungsschlagzeile hochgeschrieben wurde: "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären, aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen." Natürlich fordern nun Wettbewerber den Parteiausschluss Palmers.

Journalisten hingegen sollten in der Lage sein zu recherchieren, dass schon dieses zusammenhanglose Zitat eine zulässige Meinung ist, die sich auf nachvollziehbare Beobachtungen stützt, deren Faktizität jedoch nie zweifelsfrei belegbar sein wird, weil das Design der laufenden globalen "Feldstudie" dies schlicht nicht zulässt.

Korrelationen kann man für vieles finden, einen eindeutigen Zusammenhang jedoch kann man bei einem solchen multifaktoriellen Design niemals belegen (wie u.a. jeder wissen sollte, der auch nur einige der zahllosen täglichen Wissenschaftsmeldungen zur tierexperimentellen COVID-19-Forschung verstanden hat).

Die journalistische Empörung über Palmers Satz gründet - abgesehen von mutmaßlich weit verbreiteter persönlicher Abneigung - in der Annahme, dem Lebensschutz sei zwingend alles andere unterzuordnen, weshalb sich jeder Gedanke an den Umfang verbiete.

Das ist aber erwiesenermaßen falsch (und der etwas sanfter vorgetragenen ähnlichen Feststellung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble wurde überwiegend Respekt gezollt, nicht zuletzt mit der Begründung, anders als Palmer gehöre Schäuble selbst zur COVID-19-Risikogruppe).

Doch schauen wir auf die Fakten: Boris Palmer sagte im selben Atemzug, dass die Schutzmaßnahmen auch Nebenwirkungen haben, namentlich durch die globalen Wirtschaftsverwerfungen den globalen Tod von einer Million Kinder verursachen könnten (siehe UN-Bericht "The Impact of COVID-19 on Children").

Der globale Blick ist nicht nur legitim, er ist ethisch wichtig. Allerdings wird de facto eine globale Verantwortung bisher von der deutlichen Mehrheit im Land konsequent verneint. Wieviel Lebensqualität und wie viele Lebensjahre Kinder in den Minen des Kongos für unsere Smartphones verlieren, ist uns Smartphonenutzern egal genug.

Dass Millionen Menschen länger leben könnten, würden wir abgeben, was wir nicht zwingend für ein ebenso langes Leben brauchen, weiß jeder - aber nur ganz wenige folgen Franz von Assisi. Palmers Hinweis ist völlig berechtigt - und er proklamiert entgegen der herrschenden Darstellung in den Medien Empathie (allerdings gekoppelt mit einer tatsächlich skandalösen Repressionspolitik, die hingegen nicht moniert wurde, wohl weil sie dem falschen Dogma vom Lebensschutz auf Teufel komm raus folgt).

Die Kosten des Infektionsschutzes (und damit in einer nicht ausgemachten Zahl von Fällen der Lebensverlängerung um nur einige Monate) müssen fast ausschließlich von denen getragen werden, die davon gerade nicht profitieren. Sie werden durch künftige Steuern, durch Einkommensverluste, Insolvenzen, Berufsabbrüche oder staatsschuldenbereinigende Inflation um Möglichkeiten für ihren eigenen Gesundheitsschutz gebracht.

Weil von Anfang an das Dogma vom unverhandelbaren Lebensschutz der heute Gefährdeten als Tatsache ausgegeben wurde und die Medien diese fatale Fiktion nicht entlarvt haben, wurde nie gesellschaftlich ausgehandelt, was die Grundlage für alles weitere hätte sein müssen: Welche Kosten sind wir bereit zu tragen? Wie viel ist uns der Schutz derer wert, die sich nicht selbst schützen können?

Und wie gewichten wir dabei den Schutz der heute Schutzlosen gegenüber dem Schutz der heute Stimm(rechts)losen? Niemand weiß, was auf die heute Minderjährigen in den nächsten 60 oder 70 Jahren zukommen wird, aber zumindest wissenschaftlich unstrittig ist, dass allein der menschengemachte Klimawandel kolossale Veränderungen mit sich bringen wird, von denen bisherige Hitze und Dürre nur einen winzigen Vorgeschmack geben dürften.

Jeder Euro, der heute in den Corona-Schutz fließt, ob nun aktiv oder passiv, durch Ausgaben oder Wertschöpfungsverbote, kann nicht mehr in den Lebensschutz gesteckt werden, den der Klimawandel verlangt.

Wer zur Kenntnis nimmt, dass jede Wirkung auch Nebenwirkungen hat, der konnte sich von Anfang an ausmalen, welche konkreten Gesundheitsgefährdungen der Lockdown haben könnte, für vieles gibt es inzwischen auch Indizien (allerdings, siehe oben, bleiben auch hier alle Korrelationen Mutmaßungen bzw. Interpretationsmeinungen): unterbliebene Früherkennung anderer Krankheiten, Therapieabbrüche, Zunahme häuslicher Gewalt, psychischer Stress etc..

Weil dem Lebensschutz (anderer) eben nicht alles Sonstige unterzuordnen ist, eine ergebnisoffene Debatte aber nie geführt wurde, ja schon auf die Benennung einiger weniger Rahmendaten verzichtet wurde, konnte die getroffenen Maßnahmen niemand demokratisch verantworten.

Das vielfach im Munde geführte "Fahren auf Sicht" bedeutete ja stets: Wir wissen wenig und müssen trotzdem irgendwie handeln.