"Wir schaffen das" mit britischem Akzent
Johnson bei Merkel und Macron
Gestern Abend reiste der neue britische Premierminister Boris Johnson nach Berlin, um dort mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Modalitäten des britischen EU Ausstiegs zu sprechen. Heute geht die Reise weiter zum Staatschef des anderen Landes, das die EU dominiert: Zum französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron.
Was Johnson den beiden anzubieten hat, legte er bereits am Montag offen: einen vertraglichen Verzicht auf Kontrollen an der irischen Grenze. Mit solchen Kontrollen hatte die EU vorher die von ihr durchgesetzte Backstop-Regelung begründet, die das gesamte Vereinigte Königreich dazu zwingen würde, ohne feste zeitliche Begrenzung in einer Zollunion mit der EU zu verbleiben.
Brüssel will ohne Backstop nicht auf Kontrollen an der irischen Grenze verzichten
Auf den Brief, in dem Johnson dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk so eine Lösung anbot, antwortete der noch bis zum 30. November amtierende Kaschube via Twitter mit dem Vorwurf, der Tory würde "nicht zugeben", dass er in Wirklichkeit doch "die Wiedereinrichtung einer Grenze unterstütze".
Warum das Tusks Ansicht nach trotz des Angebots einer vertraglichen Zusicherung der Fall sein soll, ging später aus Äußerungen Angela Merkels hervor. Sie machte klar, dass Brüssel ohne einen Backstop Kontrollen an der etwa 500 Kilometer langen irischen Grenze durchführen lassen würde. Das sei notwendig, um "die Grenze des Binnenmarktes [zu] definieren". Gleichzeitig ließ die deutsche Bundeskanzlerin eine gewisse Kompromissbereitschaft erkennen, als sie ergänzte, man könne "natürlich" auch andere "praktische Lösungen" finden.
Solche anderen Lösungen hatte Johnson in seinem Brief angeregt, aber nicht im Detail ausgemalt. Denkbar ist seinen Worten nach beispielsweise, dass die EU und das UK im Rahmen eines Handelsabkommens "alternative Vereinbarungen" finden. Vorher hatte er mehrmals öffentlich über Möglichkeiten nachgedacht, den Fluss größerer Warenmengen ohne Zollstationen auf elektronischem Wege zu überwachen.
Im persönlichen Beisein Johnsons gab sich Merkel gestern noch etwas beweglicher und meinte, der Backstop sei ja eigentlich als Übergangs- und nicht als Dauerlösung gedacht gewesen. Nun müsse man so eine Dauerlösung halt schneller finden. Johnson sagte bei seinem Besuch auf Deutsch: "Wir schaffen das", womit er Merkel nicht nur an ein anderes ambitioniertes Vorhaben erinnerte, sondern auch daran, dass sie auch in der Vergangenheit bereit war, politische Positionen sehr plötzlich zu ändern. Ob Merkel das, was sie mit ihrem von Johnson adaptierten Satz 2015 versprach, dann auch halten konnte, ist allerdings umstritten.
Kritik in der Heimat
Da der britische Premierminister in seinem Schreiben an Donald Tusk zwar die Formulierung, er "hoffe sehr, dass wir mit einem Deal ausscheiden werden", aber keine erneute Ankündigung eines unbedingten Ausscheidens zum 31. Oktober untergebracht hatte, äußerte sich Nigel Farage von der Brexit Party anschließend "enttäuscht". Noch enttäuschter als Farage gab sich Tom Slater in Spiked. Er zitierte den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis mit den Worten, Mays Deal gleiche einer Erklärung, "die eine Nation nur unterschreibt, nachdem sie im Krieg besiegt wurde". Der Backstop ist seiner Ansicht nach bei weitem nicht der einzige problematische Inhalt der Vereinbarung.
So sei beispielsweise das Schiedsgericht, das über strittige Fragen entscheiden soll, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterworfen. Ein Ungleichgewicht, wie man es sonst bloß den "verzweifelten ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Moldawien und Georgien" aufzwingen hätte können. Auch in Wettbewerbs- und Fischereifragen wäre das UK dem britischen Anwaltskammervorsitzenden Martin Howe nach von den Luxemburger Richtern abhängig, bei deren Zusammensetzung es jedoch ebenso wenig ein gleiches Mitspracherecht hätte wie beim Zustandekommen neuer Regeln.
Angesichts solcher Kritik wirkt Boris Johnsons bloße Forderung nach einer Streichung der Backstop-Regelung aus dem Vertrag fast schon bescheiden. Aber nicht nur Brexiteers, sondern auch ausgesprochene Brexit-Kritiker wie der Spiegel-Kommentator Peter Müller meinten gestern, dass nun "auch die EU in der Pflicht" sei. Zur "Brexit-Wahrheit" gehört ihm zufolge, dass "bei manchem in der EU […] die Angst, dass über die nordirische Hintertür chinesische Billigware und amerikanische Chlorhühnchen in den Binnenmarkt gelangen könnten, größer [ist] als die Sorge um den Frieden in Nordirland". Ein möglicher Kompromiss wäre seiner Ansicht nach, "eine zeitliche Befristung des Backstop", wie sie Brüssel May vorher verweigerte (vgl. "It's all Spin and no Substance").
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