"Wir sind Charlie" - zur Staatsveranstaltung umfunktioniert
Frankreich: Die Teilnahme an der Großkundgebung zu den Attentaten war enorm. Eingeladen waren aber auch Personen, von denen sich die ermordeten Satiriker nicht hätten vereinnahmen lassen
"Riesig" ist zweifellos ein angemessener Ausdruck. Sie war auf jeden Fall enorm stark: Die Mobilisierung auf den Straßen Frankreichs, fünf Tage nach der Ermordung von zwölf Menschen in der Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo und zwei Tage nach der von mehreren Geiseln im jüdischen Supermarkt HyperCacher im Südosten von Paris. Die französischen Medien sprechen am Montag früh unisono von rund vier Millionen Menschen, die im Laufe des Wochenendes an Demonstrationen teilgenommen hätten, davon rund zwei Millionen in Paris. Dies deckt sich mit den behördlichen Angaben dazu, die aus dem Innenministerium kommen.
Die Zahlen mögen betont großzügig bemessen sein, denn in diesem Falle hatte die Mobilisierung auf den Straßen einmal die volle Unterstützung von Regierenden, allen etablierten politischen Parteien und dem Medienestablishment. Unzweifelhaft ist, dass es eine sehr dichte Menschenmenge war, die sich am Sonntag Nachmittag in Paris von der Place de la République in Richtung Place de la Nation bewegte. Erst gegen 19 Uhr verließen die letzten Menschen den Ausgangsort der Demonstration.
"Ana Schahrli"
Um halb drei, also dreißig Minuten vor dem offiziellen Beginn des Zuges - auf zwei parallelen Strecken, die dafür ausgewiesen wurden - ist auf der Place de la République buchstäblich kein Durchkommen mehr. Das Métro-Netz ist rund um den Platz großflächig abgestellt worden, aus Sicherheitsgründen - um zu vermeiden, dass sich Menschen darin gegenseitig zu Tode quetschen. Doch zu Fuß kommen sie aus allen Himmelsrichtungen geströmt.
Vom Pariser Nord- und Ostbahnhof her ist der Boulevard Magenta seit 14 Uhr überfüllt mit Menschen. Vor einer Druckerei an dem Boulevard, Ecke rue du Faubourg Saint-Martin, drängelten sich Leute, als ob es warme Semmeln gäbe. Ein Blick verrät, dass die Druckerei hier gerade, zwar keine Brötchen, aber warme DIN A3-Plakate frisch vom Drucker weg verteilt. Sie werden den Druckereibeschäftigten beinahe aus den Händen gerissen. Darauf steht: "Je suis Charlie."
Das ist sicherlich der meist gesehene Slogan an dem Tag, auch in anderen sprachlichen Varianten, vom Englischen über das gelegentlich gesichtete deutsche "Ich bin Charlie" bis hin zur verbreitet zu sehenden arabischen Formulierung ("Ana Schahrli"). Man sieht aber auch Abwandlungen. Häufig bekommt man etwa zu Gesicht: "Ich bin Charlie / Ich bin jüdisch / Ich bin Polizist", oder als Variante dazu: "Ich bin Charlie, ich bin HyperCacher...". Dadurch werden die drei Gruppen bezeichnet, aus denen die insgesamt siebzehn Todesopfer der vergangenen Woche - die drei getöteten Attentäter nicht mitgezählt - stammen.
Beim Überfall auf die Charlie Hebdo-Redaktion starben zwei Polizeibeamte, Ahmed Merabet - der seit längerem dem Chefredakteur "Charb" (Stéphane Charbonnier) als Personenschützer zugeteilt war - und Franck Brinsolaro. Der Geiselnehmer vom HyperCacher hatte am vergangenen Donnerstag eine Schießerei im Pariser Vorort Montrouge angezettelt und dabei eine junge Polizistin erschossen, die 25jährige Karibikfranzösin Clarissa Jean-Philippe.
Der koschere Supermarkt, in dem sich der Geiselnehmer Amedy Coulibaly am folgenden Tag verschanzt hatte, wurde am Freitag kurz nach 17 Uhr durch die Polizei erstürmt, zum selben Zeitpunkt wie die Druckerei in einem Vorort nordöstlich von Paris, in dem sich die beiden flüchtigen Täter aus der Charlie-Redaktion verschanzt hatten. Vier Geiseln waren tot, allerdings nicht infolge der Erstürmung, Polizeiangaben zufolge waren sie vielmehr gleich zu Beginn der Belagerung durch den Geiselnehmer getötet worden.
Manche Schilder und Plakate auf der Kundgebung beziehen auch muslimische Menschen gezielt mit ein. Eine gut 50jährige Frau etwa hält ein Transparent in die Höhe mit dem Foto und Namen von Mustapha Ourrad hoch. Er arbeitete als Korrektor bei der Redaktion von Charlie Hebdo und zählt zu den Attentatsopfern, seine Familie stammte aus der Kabylei, einer von Berbern geprägten Region in Algerien. Eine jüngere Frau hat ihrerseits ein Schild gemalt mit der Aufschrift: "Ich bin Charlie, und ich mag die Muslime!"
Keineswegs nur die weißen Mittelschichten mit intellektuellen Berufen
Anders, als manche Beobachter es im Vorfeld vermutet und befürchtet hatten, sind auch keineswegs nur die weißen Mittelschichten mit intellektuellen Berufen gekommen, die sich für kulturelle Freiheiten interessieren würden, während die Angehörigen von Unterklassen mit Migrationshintergrund außenvor blieben. Empirisch lässt sich das überhaupt nicht bestätigen. Zahllose aus Afrika (oder der Karibik) stammende Menschen mit schwarzer Hautfarbe marschierten mit.
Amadou, mit Familienhintergrund aus dem westafrikanischen Mali, etwa fühlt sich doppelt betroffen: Der Dschihadist, der im Supermarkt HyperCacher als Geiselnehmer wirkte und dabei ums Leben kam, Amedy Coulibaly, stammt aus einer malischen Migrantenfamilie in Frankreich. Aus demselben Land stammt aber auch Lassana Bathily, der in demselben koscheren Supermarkt fünfzehn Menschen gerettet hat, indem er ihnen gleich zu Anfang der Geiselnahme Zutritt zum Kühlraum verschaffte, diesen abschloss und die Kühlung abstellte, bevor er selbst sich ins Freie wagte.
Einige Demonstranten und Demonstrantinnen sind ferner durch äußere Erkennungsmerkmale als Menschen muslimischen Glaubens zu erkennen. Eine Frau mit orangefarbenem Kopftuch wurde immer wieder von Mitmarschierenden gebeten, sich mit ihr fotografieren zu lassen. Sie hat auf ihr Schild gemalt: "Wer einen Menschen tötet, bringt die Menschheit um. Ein Menschenleben ist überall gleich viel wert - ob in Paris, Nigeria, Syrien oder in Gaza."
Einer der meistapplaudierten Blöcke in der Demonstration - nach dem der Opferfamilien und der verbliebenen Charlie-Redaktion - ist der von syrischen Oppositionellen, die "Ana Schahrly" auf ihre Schilder geschrieben haben. Und rufen: "Ich bin Charlie, ich bin Syrer. Assad - Mörder, Dschihadisten - Mörder." Sie loben die syrischen Oppositionellen, aber auch den militärischen Widerstand in der kurdischen Stadt Kobanê gegen den selbst ernannten "Kalifatsstaat" des IS.
Das Hauptutensil der Demonstranten sind Stifte, Schreib- und Malstifte, in Anspielung auf die Freiheit der Meinungsäußerung - des geschriebenen Worts und der Karikatur, egal ob guten oder schlechten Geschmacks- , wegen deren Ausübung Charlie Hebdo nach verbreiteter Lesart angegriffen wurde. Stilisierte Bleitifte in ein bis anderthalb Metern Größe werden auf den Schultern mitgeschleppt. Einer ist drei bis vier Meter lang und wird wie ein Sarg auf Händen über die Menge getragen.
Aggressivität, etwa gegen Muslime, oder nationalistische Mobilmachung - im Sinne von "Frankreich ist angegriffen worden", wie etwa Ex-Präsident Nicolas Sarkozy verkündet hatte - ist nicht die Grundstimmung der Menge. Zwar werden auch einige französische Flaggen mitgeführt, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund haben ihre eigenen Fahnen mitgebracht. Die häufigsten sind die portugiesische und die brasilianische. Der Autor sah auch eine einzelne deutsche und eine einzelne albanische Fahne. Eher verirrt wirkt das Schild einer jungen Frau, das proklamiert: "Stolz, Französin zu sein."
Das "andere Frankreich"
Aber es gibt auch das andere, das aggressiv auftretende und rassistisch ausgrenzende Frankreich, wie nicht zuletzt die wachsende Liste von Übergriffen auf muslimische Einrichtungen belegt. Weniger auf dieser Demonstration, die überwiegend von der linksliberalen Öffentlichkeit getragen wird. Auch wenn der pensionierte Mathematiker Jean-Paul, selbst Kommunist, meint, die Mobilisierung gehe schon darüber hinaus:
Auf meinem Bahnsteig beim Warten auf den Vorortzug sah ich zahlreiche Kommunalparlamentarier meiner Stadt, an ihren Schärpen in den Farben der Trikolore erkennbar, die auf den Zug zur Demonstration warteten wie ich. Das konservative Spektrum der Kommunalpolitik war aktiv dabei.
Das aggressiv rassistisch auftretende Frankreich findet sich an diesem Sonntag jedenfalls im Pariser Raum jedoch eher bei Leuten, die passiv vor dem Fernsehbildschirm oder an ihrem iPhone verharren oder am Tresen des "Café du commerce" - das Pendant zum deutschen Stammtisch - die Dinge kommentieren. Jedenfalls für den Raum Paris stellen sich die Dinge so dar.
Der rechtsextreme Front National (FN) versteht es, diese Stimmung auszunutzen. Seine Chefin Marine Le Pen wurde am Freitag früh neben anderen Parteivertretern, François Bayrou (christdemokratisch-liberal) und Jean-Luc Mélenchon (Linksparteien), von Präsident François Hollande offiziell im Elysée-Palast empfangen. Der FN hat keine Fraktion im französischen Parlament, sondern zählt dort im Augenblick nur zwei Abgeordnete, was sich in naher Zukunft zu ändern droht.
Durch martialisches Auftreten, lautstarken Forderungen nach Todesstrafe und dem Ruf, man befinde sich nunmehr "im Krieg mit dem radikalen Islam", versucht der FN, die Stimmung in autoritären Kreisen der Gesellschaft zu toppen. In Marseille nahm der FN-Bezirksbürgermeister der nördlichsten Stadtteile, Stéphane Ravier, zugleich ungehindert an der Kundgebung teil, zu der die Linke aufgerufen hatte. Und in der FN-regierten Gemeinde Hénin-Beaumont nahm die extreme Rechte die Kundgebung gleich selbst in die Hand.
Zu Lebzeiten hätten die Journalisten von Charlie Hebdo ihren Vertretern nicht die Hand gereicht, die ihnen nun auf den Gräbern heuchlerisch entgegengestreckt wird. Allerdings teilen nicht alle Bestandteile der extremen Rechten die vordergründige Anteilnahme. Auf den sich in Windeseile ausbreitenden Slogan "Ich bin Charlie" reagierte die rechtsextreme Webseite NDF.fr, die dem nationalkatholischen Flügel des FN, aber auch konservativen Rändern nahe steht, mit einer eigenen Parole:
Ich bin nicht Charlie! Ich bin die beiden Polizisten, die von Fanatikern ermordet wurden, als sie andere Leute schützten.
Dass die Frage der An- oder Abwesenheit der extremen Rechten am Freitag- und Samstag vorübergehend in den Mittelpunkt rückte, hatte die französische Öffentlichkeit auch dem, nun ja, "Geschick" des amtierenden Premierministers Manuel Valls zu verdanken (Nach dem Attentat: Risse in der "Wir sind Charlie"-Einheit). Er begnügte sich nicht etwa damit, dass es einen Aufruf an die Bürgerinnen und Bürger gab und zum Gedenken an die Ermordeten demonstrieren konnte, wer mochte.
Er musste unbedingt einen Autoritätsbeweis des Staates aus der Demonstration machen wollen. Und er meinte unbedingt, eine "nationale Einheit" oder auch "Union sacrée" ("Heilige Union", so bezeichnete man die "Burgfriedens"politik der politischen Parteien im Ersten Weltkrieg") demonstrieren zu müssen. Am vorigen Donnerstag forderte der rechte Sozialdemokrat Valls also die konservativ-wirtschaftsliberale UMP dazu auf, die Demonstration mit zu organisieren und lud deren alt-neuen Vorsitzenden Nicolas Sarkozy explizit zur Teilnahme an seiner Seite auf.
Die UMP hatte daraufhin ihrerseits nichts Besseres zu tun, als seit Donnerstagabend zu fordern, nun müsse auch der rechtsextreme Front National dabei sein.
Zu Lebzeiten hätte keiner der ermordeten Satirejournalisten etwas mit der neofaschistischen Partei zu tun haben wollen, im Gegenteil - Charlie Hebdo lancierte 1995 eine Petition für ihr Verbot und sammelte dafür insgesamt rund 200.000 Unterschriften.
Im Laufe des Freitag drehte sich dann die innenpolitische Debatte vorübergehend hauptsächlich um die Frage der Teilnahme oder Nichtteilnahme des Front National. Diese Idee fanden unter anderem einige Mitglieder der regierenden Sozialdemokratie nun doch nicht so gut. Der FN nutzte es aus, um seinerseits in die Offensive zu gehen und nun Druck auf die konservative UMP aufzubauen - die Führungsleute des Front National forderten Letztere auf, der Demo fernzubleiben, falls diese durch Ausgrenzung der rassistischen extremen Rechten zu einer "sektiererischen Veranstaltung" würde.
Eine Pirouette von Marine Le Pen
Letztendlich verhalf sich der Front National mit einer Pirouette: Marine Le Pen rief am Samstag ihre Anhänger dazu auf, am Wochenende überall in Frankreich mitzudemonstrieren, mit Ausnahme von Paris.
Dies war taktisch geschickt: In der Hauptstadt wären ihre Parteigänger ohnehin in der Menge untergegangen oder eventuell angefeindet worden. Ihre Parteifunktionäre demonstrierten nun vor allem in den elf Städten, die seit dem März 2014 rechtsextreme Bürgermeister haben. Marine Le Pen selbst begab sich in eine dieser Kommunen, Beaucaire, eine Stadt im südfranzösischen Département Gard mit 16.000 Einwohnern. Dort zeigte sie sich auf dem Balkon des Rathauses und ließ sich applaudieren.
Die verkorkste innenpolitische Debatte der vergangenen halben Woche hat es auf jeden Fall der extremen Rechte mehrere Tage lang erlaubt, sich einmal mehr in den Mittelpunkt zu spielen. Und zugleich sowohl als eine Partei zu erscheinen, die auf Bedrohungen für das Land reagiere, als auch als "eine Partei nicht wie die anderen und vom System ausgegrenzt". Diese doppelte Profilierung kann ihr leider nur nützlich sein.
Eine Staatsveranstaltung - Das Eingreifen der Politikapparate
Auch in anderer Hinsicht hat das Agieren von Premierminister Manuel Valls, der unbedingt den anfänglich spontanen Protest in eine staatstragende Veranstaltung kanalisieren wollte, Schaden angerichtet.
In seinem Eifer, die Demonstration in eine Staatsveranstaltung umzufunktionieren - ursprünglich gab es einen Aufruf zuerst von antirassistischen Organisationen und dann von französischen Gewerkschaften zur Demonstration am Samstag, er wurde dann jedoch durch die etablierten Politikapparate mit ihrem Gewicht zugunsten des Sonntagsaufrufs verdrängt - lud Manuel Valls auch allerhand Personen zur Demonstration in Paris ein, mit denen die ermordeten Satiriker ebenfalls nichts hätten zu tun haben wollen.
45 Staats- und Regierungschefs - wie Angela Merkel, David Cameron und Mariano Rajoy - zuzüglich NATO-Generalsekretär kamen am Sonntag nach Paris. Unter ihnen Diktatoren aus der französischen Einflusssphäre in Afrika wie der blutige Schlächter Idriss Déby (Präsident des Tschad) und Ali Bongo aus der Erdölrepublik Gabun. Rechtsextreme Minister aus Israel wie der berüchtigte Rechtsnationalist Naftali Bennett ("Ich habe in meinem Leben viele Araber umgebracht und kein Problem damit") begleiteten ihren Regierungschef nach Paris.
Davutoglu, Premierminister von Präsident Erdogan aus der Türkei, der ukrainische Präsident Poroschenko und andere Figuren rundeten das Bild ab. Sie demonstrierten allerdings keine halbe Stunde lang: Die Staatsrepräsentanten wurden mit einem Bus aus dem Elysée-Palast an die Spitze auf dem Boulevard Voltaire gefahren, verließen den Aufzug allerdings bereits auf der Höhe des Rathauses des 11. Pariser Bezirks, also nach wenigen hunderten Metern wieder.
Dieses Profil der Demonstrationsspitze sorgte dafür, dass aus der Zivilgesellschaft und vor allem aus der Linken letztendlich doch viele Menschen fortblieben, die eigentlich hätten am Protest teilnehmen wollen. An den Intentionen der Menschen in der Menge direkt änderte es allerdings nicht.