Nach dem Attentat: Risse in der "Wir sind Charlie"-Einheit

Der FN ist nicht zur Großkundgebung eingeladen und kann politisch weiter die Opferrolle ausspielen

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Für die regierende sozialdemokratische Partei PS ist es ein Dilemma, für Marine Le Pen, Chefin der rechtsnationalen Partei FN, eine Gelegenheit, das Kapital, das ihr durch die Opferrolle zufällt, voll auszuspielen. Zwar ist Le Pen, wie andere Parteichefs auch, zu einem Treffen mit Staatspräsident Hollande eingeladen. Aber für die für Sonntag anberaumte Großkundgebung unter dem Motto "Wir sind Charlie: Verteidigen wir die Werte der Republik", an der "quasi alle Parteien, die wichtigsten Gewerkschaften und mehrere Menschenrechts-und antirassistischen Organisationen teilnehmen", hat PS-Premierminister Valls keine Einladung an den FN ausgesprochen.

"Unsere stärkste Waffe ist die Einheit", sagte François Hollande, in seiner feierlichen Ansprache am Mittwochabend nach dem Anschlag: "Lasst uns zusammenstehen und wir gewinnen." ("Rassemblons-nous et nous gagnerons".)

Dass der FN nicht zur Kundgebung eingeladen ist, macht ein Phänomen deutlich, das sich in jüngster Zeit auch in Deutschland durch viele Proteststimmen mehr in den Vordergrund drängte: die Fallhöhe zwischen dem öffentlichem Diskurs, der Ideale beschwört, und der Wahrnehmung gesellschaftlicher Realitäten, wie sie sich in Gesprächen auf der Straße, in Vierteln, in Schulen, am Arbeitsplatz, in privaten Kreisen äußert. Wenn Hollande die "heilige Einheit" beschwört, so tut er das - wie seine Vorgänger - in einem Land, das sich seit Jahrhunderten durch Spaltungen kennzeichnet. Durch die Wirtschaftskrise kommt dem aktuell noch einige Schärfe hinzu.

Die französische Gesellschaft sei am Kippen, das war schon in den Wochen vor dem Attentat eine Beobachtung, die man von Franzosen häufig zu hören bekam, und dazu den Hinweis, dass viele, quer durchs politische Spektrum, den Eindruck haben, dass die politische Klasse die "Fühlung" mit dem anderen Diskurs verloren habe. Es ist eine Zeit, die Polarisierungen günstig ist, und Valls Entscheidung, den FN nicht einzuladen, gibt dem neuen Stoff, weswegen auch nicht alle in seiner Partei mit dieser Haltung einverstanden sind.

Zu hören waren auch andere Töne von Mitgliedern des PS, so etwa die auf Versöhnung und "Rassemblement" (Zusammenstehen) angelegte Aussage, wonach doch jeder am Sonntag kommen sollte, der sich dazu aufgefordert oder angesprochen fühle.

Allerdings würde eine Einladung aus Sicht der PS-Parteiführung auch bedeuten, den FN auf einen andere Anerkennungsstufe zu rücken, nämlich hinein in die Gemeinschaft der republikanischen Parteien. Lange Zeit bildeten der PS und die UMP eine republikanische Front gegen den rechtsextremen FN. Doch hat sich diese Abgrenzung schon seit längerem aufgelöst. Nicht nur inoffiziell, indem Sarkozy mit FN-nahen Themen auf Wählerfang weiter rechts von der UMP ging, sondern auch deutlich sichtbar, quasi-offiziell, weil die UMP die republikanische Front aufgab. Ganz offiziell hat der neue UMP-Präsident Sarkozy sich nun dafür ausgesprochen, den FN für die Kundgebung am Sonntag einzuladen.

Marine Le Pen hatte auf eine Einladung gewartet. Das geht aus ihren Erklärungen vom Mittwoch hervor.

Gleichzeitig tat sie sich bei ihrer Reaktion auf den Anschlag mit markigen Forderungen hervor. Sie sprach davon, dass sie - einmal zur Präsidentin gewählt - ein Referendum zur Todestrafe abhalten werde und betonte einmal mehr eines ihrer politischen Leitmotive, den Kampf gegen die islamische Gefahr, der mit aller Härte ausgefochten werden müsse. Alle anderen Parteien hätten Angst, sagte sie.

Man kann darin, außer den bekannten xenophoben Motive, auch solche entdecken, die eine Einladung erschweren, wie dies auch von Organisatoren der Großkundgebung geltend gemacht wurde. Le Pen forciere die Spaltung, hieß es von dieser Seite. Zu verlieren hat Marine Le Pen dabei nicht viel. Sie gewann bisher immer mit der Außenseiterrolle.

P.S.:

Marine Le Pen hatte nicht immer ihre Freude an Charlie Hebdo. Es gab jahrelang Auseinandersetzungen. Allerdings betonte die FN-Chefin im Zusammenhang mit den Mohammed-Karikaturen stets die Freiheit, die Charlie Hebdo zusteht.

Ein Video vom November 2013 zeigt sie beim Durchwischen mehrerer Karikaturen der Publikation auf ihrem Tablet. Ihr Kommentar dazu: "Das ist nichts, null. Das ist gemein und schändlich."

Berühmt wurde ein Titelblatt, dem ein Wortspiel zwischen rassembler ("zusammenstehen, versammeln") und ressembler ("ähneln") zugrunde liegt.