Wir sind Cyborgs
Seite 4: Den Menschen überwinden
- Wir sind Cyborgs
- Vom Wunsch, ein anderer zu werden
- Die Cyborgs sind schon hier
- Den Menschen überwinden
- Auf einer Seite lesen
Was die zentralen Bestandteile von Thads und Steves Vision angeht, hegen die meisten Kommunikationsfachleute ähnliche Hoffnungen. Nobelpreisträger Arno Penzias, Vizepräsident des Forschungslabors von AT&T, hält es für sicher, daß sich in ein paar Jahren winzige Funktelefone in Anstecknadeln, Schmuck und direkt in den Ohren selbst verbergen werden. Prototypen "ubiquitärer Computerumwelten", die es den Arbeitenden erlauben, sich frei zu bewegen, ohne die Verbindung mit den stationären Computern zu verlieren, existieren in Xerox Parc und in den militärischen ARPA-Labors. Und an "anziehbaren" Miniaturcomputern arbeiten Firmen ebenfalls.
Die kommerziellen Geräte streben wie Steve Manns und Thad Starners Selbstbau-Ausrüstung nach Cyborg-Technologie. Sie gleichen sich Prothesen an und bringen damit, in den Worten Allucquere Roseanne Stones vom Advanced Communication Technologies Laboratory im texanischen Austin, "die Grenze zwischen dir und dem Computer zum Verschwinden".
Quantität ist dabei längst in Qualität umgeschlagen. Die Mehrheit der Menschen scheint geradezu verwachsen mit ihren Autos - deren zentrale Funktionen heute von rund 30 000 Zeilen Computercode gesteuert werden. Die meisten von uns sprechen jeden Tag mit mehr Mitmenschen am Telefon als in der Wirklichkeit. Um jederzeit für andere erreichbar zu sein als die, mit denen man zufällig physisch zusammen ist, verfügt jeder fünfte Amerikaner über ein Funktelefon, zwölf Prozent über einen Pager. Eine erkleckliche Zahl von Gegenwartsmenschen dürfte mehr Leute und Länder aus dem Fernsehen kennen als aus persönlichem Kontakt und eigener Anschauung. 40 Prozent aller amerikanischen Haushalte besitzen obendrein einen Heimcomputer, der ihnen im Prinzip den Cyberspace eröffnet.
Längst ist die heutige Menschheit von ihren Maschinen so abhängig wie unsere agrarischen Vorfahren einst von ihren Nutz- und Haustieren. Weder der gegenwärtige Lebensstandard noch die schiere Bevölkerungszahl ließen sich ohne Technik erhalten. Die entwickelten Gesellschaften dieses Planeten haben am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts komplizierte Symbiosen zwischen Menschen und Maschine ausgeformt - Cyborg-Zivilisationen.
Marshall McLuhan bereits prophezeite, daß die Potenzierung der körperlichen und intellektuellen Möglichkeiten durch moderne Technologie Stück für Stück eine Cyborg-Menschheit produzieren werde. Der Wissenschaftshistoriker David Hess beschreibt die Gegenwart als "Proto-Cyborg-Zeitalter, in dem wir einen Großteil unseres Tages in direkter Verbindung mit Autos, Haartrocknern, Computern und anderen Maschinen verbringen."
Wir lernen, uns selbst als eingestöpselte Techno-Körper zu erkennen ... Wir träumen alle Cyborg-Träume.
Sherry Turkle
Die eskalierende Cyborgisierung des Homo sapiens, die Vermählung der Natur mit Produkten, die Menschen schufen, erscheint so als das Schlüsselereignis unserer Epoche.
Insbesondere die zunehmenden Möglichkeiten, organisches Leben selbst technisch zu manipulieren - durch Transplantationen und genetische Retortenzüchtungen -, machen inzwischen eine Neudefinition dessen notwendig, was einen Cyborg vom Normalmenschen unterscheidet. Anstelle des Materials, aus dem das fertige Wesen besteht, soll seine Entstehung zum entscheidenden Kriterium werden. Zu differenzieren ist in diesem Sinne zwischen Leben, das ohne Einsatz von Intelligenz, also "naturwüchsig" entstanden ist, und solchem, das seine Existenz oder sein Überleben dem gezielten Einsatz von Intelligenz verdankt - wobei es gleichgültig ist, ob diese technisch hergestellten Körperteile organisch oder anorganisch sind. Ein Mensch, in dem ein biologisches Herz schlägt, das in einem anderen Körper oder in der Retorte wuchs, wäre dieser Definition nach ebenso cyborgisiert wie jeder, dessen Ersatzorgane aus Metall oder Plastik zusammengesetzt sind.
So deutlich zeichnet sich am Horizont die massenhafte physische Cyborgisierung des Homo sapiens ab, daß der Arbeitssoziologe Arthur B. Shostak von der Drexel Universität in Philadelphia die Profession des "Cyborg-Technikers" zum Beruf mit schnell herannahender Zukunft erklärt: "Sie werden mit den Menschen arbeiten, die soviele künstliche Körperteile haben, daß sie einen Techniker benötigen, um alles am Laufen zu halten."
Die zunehmende Verbesserung der Natur durch Menschenhand und insbesondere der Eingriff ins Erbgut mißfällt allerdings einer wachsenden Zahl von verunsicherten Zeitgenossen.
Während der Atomkrieg die Vernichtung der Lebewesen inclusive der Menschen bedeutet, bedeutet das 'cloning' die Vernichtung der Spezies qua species, unter Umständen die Vernichtung der Spezies Mensch durch die Herstellung neuer Typen.
Günther Anders
Besonders originell ist die moderne Furcht vor der Gentechnologie jedoch nicht. Sie kann auf jahrhundertealte Argumentationsstrukturen zurückgreifen. "Die Vorwürfe, die Paracelsus wegen seines (empirisch nie bestätigten) Homunculus-Rezepts einstecken mußte", stellt Rudolf Drux in seiner Einleitung zu dem Sammelband "Menschen aus Menschenhand" fest, "ähneln - oft bis in den Wortlaut - den Bedenken, die gegen die Forschungsergebnisse der Biogenetik und Reproduktionsmedizin geäußert werden."
Doch auch die Argumente, mit denen die Cyborg-Konstrukteure den biologischen Fundamentalisten begegnen, schleuderte schon Zarathustra vor hundert Jahren den Normalmenschen entgegen:
"Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehen, als den Menschen überwinden?"