Wir sind Cyborgs

Seite 2: Vom Wunsch, ein anderer zu werden

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Daß Biologie nicht Schicksal sein muß, daß der Geist Gewalt über den Körper erlangen kann und daß ein jeder sich selbst als einen anderen zu erschaffen vermag, diese Idee allerdings scheint so alt wie die Menschheit. Körperbemalungen, Tätowierungen, rituelle Verstümmelungen, das totemistische Einswerden mit der Tierwelt und andere archaische Bräuche zeugen von diesem Verlangen ebenso wie Karneval, Maskenbälle, Schönheitsoperationen und das permanente Spiel der häufig wechselnden Identitäten im Cyberspace.

Seine ideale Verkörperung fand der Wunsch, Wesen nach dem eigenen Vorstellungsbilde zu erschaffen, in der Figur des Androiden, des von Menschenhand gemachten Maschinen- und Retortenwesens. Es bevölkert Mythen und früheste Erzählungen. Der Schmied Hephaistos etwa fertigte Pandora für Zeus an, und Paracelsus beschrieb in der Renaissance den alchemistischen Homunculus als ein Geschöpf, das die Hand seines ärztlichen Erzeugers von allen natürlichen Mängeln befreit hatte. Erst die Industrialisierung aber ließ eine Ahnung davon entstehen, wie weitgehend das Schicksal der Menschheit von ihren Maschinen abhängen mochte.

Je mehr handwerkliche Tätig- und Fähigkeiten sich durch Maschinenarbeit ersetzen ließen, desto enger rückte Organisches und Anorganisches zusammen. Nicht nur erschienen die neuen "selbstlaufenden" Maschinen erheblich eigenständiger als die durch menschliche oder tierische Muskelkraft bewegten traditionellen Werkzeuge, auch der Mensch schien im Umkehrschluß plötzlich nichts anderes als eine solche Maschine. Leidenschaftslos reagierten die materialistischen Philosophen der Aufklärung auf die erstaunlichen Leistungen der Mechaniker mit einer Maschinisierung des Körpers, allen voran der Arzt Julien Offroy de La Mettrie in seinem lange verbotenen Buch "L'Homme Machine" (Der Mensch, eine perfekte Maschine).

Bis heute klingt dieses mechanische Menschenbild, das sich dem Stand der Technik gemäß an Dampfmaschinen voller Ventile, Rädchen und Schrauben orientierte, in unserem Denken und Sprechen durch. Vom Herz reden wir als Pumpe; aus einer Sache, die wir betreiben, kann die Luft raus sein, eine zweite läuft wie geschmiert. Von anderen sagen wir, daß bei ihnen eine Schraube locker sei, daß sie durchdrehen oder nicht ganz dicht sind.

Die Neigung, uns selbst in Maschinenbegriffen zu verstehen, setzte sich im neunzehnten Jahrhundert mit der Erfindung von Elektrizität und Verbrennungsmotor fort. Nun standen auch wir plötzlich unter Strom oder schalteten nicht schnell genug. Wir machen uns gegenseitig an, jedem kann mal eine Sicherung durchbrennen, und bei einem Bekannten braucht man bloß das richtige Knöpfchen zu drücken und schon tut er, was man will.

Der Mensch ist sich selbst vom weitgehend unberechenbaren Tier so zur kalkulierbaren Maschine geworden. Von dieser Metamorphose blieben die Phantasien vom künstlichen Leben nicht unberührt. Seit es Maschinen gibt, die Leistungen des menschlichen Körpers ersetzen, imaginieren Zeitgenossen, wie sich Lebendiges den Maschinen gleich zusammenschrauben ließe - oder gar, daß die zunehmend agilen Maschinen Eigenleben entwickeln könnten.

Wo diese Phantasien Ängste weckten, taten sie es allerdings nicht, weil sich die Menschen den Maschinen unterlegen wähnten. Im Gegenteil, kein mit Verstand begabtes Wesen des achtzehnten oder neunzehnten Jahrhunderts dürfte wohl eine der primitiven Apparaturen um irgendeine ihrer begrenzten Fähigkeiten "beneidet" haben. Gefährlich schienen die Maschinen lediglich in dem Sinne, in dem auch wilde Tiere gefährlich waren: durch ihre brutale, schier übermenschliche Stärke, die Verletzung und Vernichtung assoziieren ließ.

Urbild der Maschinenfurcht war der technisch aufgerüstete Kampf der Nationen, die Kriegsmaschine, die den modernen Zusammenstoß von Fleisch und Metall am gewaltsamsten inszenierte. Folgerichtig entstanden die beiden großen Menschmaschinen-Mythen der vergangenen zwei Jahrhunderte im Kontext von Blut- und Stahlbädern. Mary Shelley schrieb 1818, kurz nach dem Ende der europaweiten Napoleonischen Kriege, Frankenstein, das Produkt romantischer Spekulationen über die Entstehung des Menschengeschlechts, an denen Charles Darwins Großvater Erasmus einigen Anteil hatte. Und Karel Capek verfaßte vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sein Stück "R.U.R" (Abkürzung für die fiktive US-Firma Rossums Universal Robots), das von der Ersetzung der Menschen durch zunehmend intelligente Arbeitsmaschinen handelt und mit dem robot, das tschechische Wort für "Arbeit", zur internationalen Vokabel wurde.

Zu jener Zeit bahnte sich in den fortgeschrittensten Regionen der westlichen Zivilisation jedoch bereits ein wesentlicher Wandel an. Seine Grundlage war die rapide eskalierende Maschinisierung des Alltags. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts brachte das Automobil den Motor aus den Fabriken auf die Straßen, die Elektrifizierung ermöglichte Fahrstühle, Straßenbahnen, Grammophone, Radios, das Kino und Kühlschränke. Die Herstellung immer vielseitigerer und haltbarerer Maschinen erhöhte nicht nur ihre Attraktivität als Gebrauchsgüter, sondern auch ihr Ansehen als "Gattung".

Um die Mitte des Jahrhunderts war man auf diesem Weg in unsere Gegenwart nirgends weiter vorangeschritten als in Südkalifornien, der ersten auf Massenkonsum von Technik abgestellten und voll automobilisierten Zivilisation. Als Günther Anders auf der Flucht vor den Nazis nach Los Angeles kam, mußte er daher feststellen, daß die Menschen dieser Neuen Welt, obwohl sie Zarathustras Worte vermutlich nie vernommen hatten, ebenfalls an der Qualität des Menschen zu zweifeln begonnen hatten.

Ein wenig ungläubig berichtete der Philosoph aus dem Abendlande von dem Besuch bei einem kranken Freund, der die höfliche Erkundigung, wie es ihm gehe, mit den Worten beschied: "Mit uns ist nicht viel los, mit keinem von uns." Auf die erstaunte Nachfrage, was er damit meine, antwortete der Kranke: "Well ... can they preserve us?"

"Das Wort 'they'", beschreibt Anders die Szene weiter, "bezog sich auf die Ärzte; 'preserves' sind eingekochte Früchte. - 'Können sie uns vielleicht einmachen?' meinte er.

Ich verneinte.

'And', fuhr er fort, 'spare men they haven't got either.'

'Spare men?' fragte ich verständnislos.

'Well', erläuterte er, 'don't we have spare things for everything?'

Nun begriff ich. 'Spare men' hatte er in Analogie gebildet, etwa zu 'spare tires' (Ersatzreifen) oder 'spare bulbs' (Ersatzbirnen). 'Und Ersatzmänner für uns haben sie eben auch nicht auf Lager', hatte er also gemeint. Eine andere Glühbirne gewissermaßen, die man, wenn er verlöschte, an seiner statt würde einschrauben können.

Seine letzten Worte aber lauteten: 'Isn't it a shame?'

Die Inferiorität, unter der er litt, war also eine doppelte: erstens war er nicht konservierbar, wie eine Frucht; und zweitens nicht ersetzbar wie eine Glühbirne; sondern einfach - die Schande war unleugbar - ein schlechthin verderbliches Einzelstück."

Was er im kalifornischen Exil beobachtete, taufte Günther Anders "prometheische Scham": das Gefühl der Minderwertigkeit, das die Menschen angesichts ihrer Produkte beschleicht, die latente Bewunderung, die das dem Verfall preisgegebene Fleisch für das dauerhaftere Anorganische hegt.

Sie steigerte sich mit jeder neuen Maschine, die die Menschen umstellte. 1960 wurde dann das Wort Cyborg geprägt, von dem Luftfahrtingenieur Manfred Clynes. In einem Artikel über Perspektiven der Weltraumfahrt sprach er von dem notwendigen funktionalen "Einswerden" von Pilot und Fluggerät. Clynes' Definition zufolge wäre bereits ein Fahrradfahrer, dem Pedale und Räder zur "natürlichen" Verlängerung seiner Gliedmaßen geworden sind, ein Cyborg. Das durchschnittliche Lexikon definiert den Begriff heute etwas enger: als symbiotische Verbindung von Biologie und Technik.

Von der Faszination, die diese technische Verbesserung der menschlichen Natur bei Millionen weckt, zeugt nichts besser als das Hollywood-Kino, das sich als empfindlicher Seismograph sozialer Tendenzen auf Menschmaschinen-Geschichten stürzte wie Dracula auf eine Horde weißer Hälse. Nachdem das Genre der Science-fiction-Filme über Jahrzehnte hinweg die alten Ängste vor der künstlich beseelten Materie ausgebeutet hatte, zeichnete sich Anfang der 70er Jahre mit Yul Brynners Androiden-Helden in Michael Crichtons "Westworld" der Wechsel zum Cyborg-Helden ab. Spätestens Mitte der 80er Jahre war er vollzogen. Blockbuster wie die "Terminator"- und "Robocop"-Filme oder die populäre TV-Saga "Star Trek: The Next Generation" bieten seitdem Menschmaschinen erfolgreich als Identifikationsfiguren an: Menschen, stark und widerstandsfähig wie Maschinen, und Maschinen, intelligenter und sympathischer als die meisten Menschen.

Der Zweifel, ob die Menschheit nicht der Qualität ihrer Produkte dramatisch unterlegen sei, ist so längst zur Gewißheit geworden - und das nicht nur in der Massenkultur. Die Position des kalifornischen Kranken, die Günther Anders noch so "verrückt" erschien, ist heute auch in Kreisen der naturwissenschaftlichen Intelligenz keineswegs außergewöhnlich.

Wir sind alle Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybriden aus Maschinen und Organismen; kurz, wir sind Cyborgs.

Donna Haraway

Der Robotiker Hans Moravec etwa spricht vom Homo sapiens als dem "kleingeistigen biologischen Eingeborenen des Planeten Erde".

Man lebt gerade lang genug, daß man anfangen kann herauszubekommen, wie die Dinge funktionieren, bevor das Gehirn zu verkalken beginnt. Dann stirbt man.

Hans Moravec

Die Klage des Fuzzy-Logic-Gurus Bart Kosko geht in die gleiche Richtung: "Das Hauptproblem mit biologischen Systemen ist, daß es keine Sicherungskopie gibt. Es ist ein übler Streich, den die Natur allen Lebewesen gespielt hat: Die kostbarste Information ist nicht gesichert. Was für eine Konstruktion!"

"Prometheische Scham" äußert sich so heute ganz unverschämt - als offener Cyborgneid. Doch Einsicht ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Das Leiden an der Inferiorität menschlicher Natur setzte in den vergangenen Jahrzehnten eine Welle von Forschungen in Gang, in deren Mittelpunkt die Beseitigung der peinlichsten Mängel stand. Sie produzierte Ersatzteile für Menschen in einer Hülle und Fülle, die noch in den 60er Jahren niemand vorhersehen konnte.

Die Cyborgisierung des menschlichen Körpers hat begonnen. Die Fähigkeit, seine Teile zu reparieren, auszutauschen oder durch nicht-organische Nachbauten zu ersetzen, wächst fast so schnell wie das Verständnis von deren Design-Prinzipien. Kaum noch eine einzelne Körperfunktion existiert, die sich nicht durch Prothesen, Korrektureingriffe sowie Transplantate und Implantate manipulieren ließe. Technik dringt ins Innere der Körper vor und läßt die jahrtausendealten Gegensätze zwischen "gewachsen" und "menschengemacht", "biologisch" und "technisch", "lebendem Fleisch" und "toter Materie" obsolet werden.

Die Maschinen des späten zwanzigsten Jahrhunderts haben die Differenzen zwischen dem Natürlichen und Künstlichen, dem Verstand und dem Körper, zwischen Dingen, die sich selbst entwickeln, und solchen, die entworfen werden, und viele andere Unterscheidungen, die Organismen und Maschinen betrafen, vollkommen zweideutig gemacht. Unsere Maschinen sind furchterregend lebendig, und wir selbst sind furchterregend unbelebt.

Donna Haraway

Die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway lehrt Bewußtseinsgeschichte an der Universität von Kalifornien in Santa Cruz. In der von ihr begründeten "Cyborg-Anthropologie" reflektiert sie die epochale Wende im Verhältnis der Menschen und ihrer Körper zu den Maschinen. Cyborg ist dabei die zentrale Denkfigur, mit der Donna Haraway die postindustriellen Lebensverhältnisse auf einen neuen Begriff bringen will.