"Wir sind bewaffnet, Analphabeten, hungrig und zornig"
Nadia Al-Sakkaf, Chefredakteurin von Yemen Times, über den Bürgerkrieg in Jemen und die Gefahr, dass das Land zu einem zweiten Somalia werden könnte
Der Jemen ist in der Krise: Im Norden des Landes bekämpft die Regierung eine Rebellion. Im Süden will eine Sezessionsbewegung einen eigenen, unabhängigen Staat. Die Ökonomie des Landes ist eine Katastrophe und Al-Qaida versucht im Arabia Felix, dem Glücklichen Arabien, wie der Jemen einst genannt wurde, wieder Fuß zu fassen.
Seit dem 11. August läuft nun schon die Operation "Verbrannte Erde", mit der der jemenitische Präsident Ali Abdullah Saleh die Rebellion des Huthi-Klans zerschlagen will. Das ist der sechste Versuch seit 2004, die aufständischen Schiiten der nördlichen Provinz Sa'ada zur Facon zu bringen. Der Konflikt kostete bis heute mehreren tausenden Menschen das Leben und machte insgesamt rund 150.000 Menschen zu Flüchtlingen. „Ausrotten, wo und wie auch immer¨ ist die Devise des Staatspräsidenten Saleh. Denn die „Terroristen“ des Huthi-Stamms wollen die Regierung stürzen und eine schiitische Herrschaft über das ganze Land errichten. Finanziert angeblich aus dem Iran und dem Irak.
Abdelmalik al-Huthi, der Klanführer bezeichnete die Vorwürfe der Regierung als Lügen. Stattdessen würde man nur seine „kulturelle Identität“ verteidigen und gegen „Diskriminierung, Marginalisierung und Ausgrenzung“ kämpfen.
Der neuerliche Krieg im Jemen bereitet dem Nachbarstaat Saudi-Arabien, aber auch den USA Kopfzerbrechen. Er könnte zu einer weiteren Destabilisierung führen, die Al-Qaida ausnutzen könnte. Dennis Blair, der US-Geheimdienstdirektor, sagte bei einer Anhörung des Kongresses dieses Jahres, der Jemen würde sich „zu einem Schlachtfeld der Dschihadisten und als potentielle Basis für Al-Qaida entwickeln“. Nicht umsonst weigert sich US-Präsident Barrak Obama, die 100 verbliebenen jemenitischen Gefangenen in Guantanamo in ihr Heimatland zu überstellen. In Übereinstimmung mit Saudi-Arabien sollen diese Jemeniten zuerst ein Terroristen-Rehabilitationsprogramm im saudischen Königreich durchlaufen, mit dem bereits über 100 andere Islamisten erfolgreich therapiert wurden.
Schlechte Erfahrungen mit Al-Qaida aus Jemen konnte Ende August bereits der saudi-arabische Prinz Mohammed bin Nayef machen. Der Staatssekretär im Innenministerium ließ mit seinem Privatjet ein angeblich reumütiges Mitglied der Terrorgruppe einfliegen, das sich ihm persönlich stellen wollte. Aber stattdessen zündete Abdullah Asiri eine Bombe, die er versteckt am Körper trug. Zum Glück des Prinzen hatte sie keinen Metallmantel und tötet nur den Attentäter.
Die Operation läuft nun schon seit dem 11. August. Aber ein Ende ist nicht in Sicht. Weder die Huthi-Kämpfer, noch die Regierung scheinen nachgeben zu wollen.
Nadia Al-Sakkaf: Bei diesem Krieg steht für beide Parteien zu viel auf dem Spiel, schließlich ist es schon der sechste. Der Staat muss mit den Huthis ein für alle mal aufräumen, will er sein angeschlagenes Image wieder aufpolieren. Er muss nicht nur eine Position der Stärke zeigen, sondern sie auch durchsetzen.
Und wie ist es bei den Huthi-Rebellen?
Nadia Al-Sakkaf: Die haben schon fast vergessen, wofür sie angefangen haben zu kämpfen. Das ist wie bei den USA und ihrem Irak-Engagement. Man merkt zwar, man hat eine falsche Entscheidung getroffen, aber um nicht das Gesicht zu verlieren, macht man weiter, egal wie hoch die Opfer dafür auch sind. Die Leidtragenden sind jedoch die Menschen der betroffenen Region und nicht diejenigen, die für den Krieg verantwortlich sind.
Angeblich beschränken sich die Kämpfe nicht mehr auf Sa'ada, sondern haben auch auf andere Provinzen übergegriffen. Stimmt das?
Nadia Al-Sakkaf: Ja, der Krieg kommt näher und näher an die Hauptstadt heran. Mittlerweile sind auch andere Gruppen verwickelt, also nicht nur der Staat und die Huthis.
Wie kommt das und welche Gruppen meinen Sie?
Nadia Al-Sakkaf: Wenn der Staat die al-Huhtis bombardiert, sind auch Zivilisten betroffen. Wie man weiß, erzeugen zivile Opfer neue Gegner. Für Menschen, deren Verwandte getötet und ihre Häuser zerstört wurden, obwohl sie nichts mit dem Krieg zu tun hatten, hat sich der Staat in eine ausnahmslos destruktive Macht verwandelt.
Zum anderen wird auf Seiten der al-Huthis gekämpft, weil man deren Gründe nur allzu gut nachvollziehen kann. Vom Staat kam bisher nichts zur Verbesserung der miserablen Infrastruktur, des desolaten Arbeitsmarktes und der insgesamt katastrophalen Lebensbedingungen. Man weiß aus Erfahrung, dass sich der jemenitische Präsident Ali Abdullah Saleh vorrangig um das Wohlbefinden seines eigenen Stammes der al-Ahmar kümmert und alle anderen vernachlässigt.
Die Rebellion der Huthis ist eine Gelegenheit, seiner eigenen Unzufriedenheit Luft zu machen?
Nadia Al-Sakkaf: Jeder hat seine individuellen Gründe. Ich glaube, man würde sich jedweder Opposition anschließen, ganz unabhängig davon, ob sie nun von den Huthis kommt oder nicht. Das erklärt auch, warum es heute gleich mehrere Oppositionsbewegungen gibt und das über das ganze Land verteilt. Allerdings darf man dabei nicht vergessen, die Huthis verfügen über ausreichend finanzielle Mittel, mit denen sie sich im Jemen Verbündete erkaufen und zudem auch Waffen organisieren können.
Die jemenitische Regierung behauptet, die Huthis würden aus dem Iran und dem Irak finanziert.
Nadia Al-Sakkaf: Niemand weiß genau, woher sie ihr Geld bekommen. Aber es gibt Spekulationen, sie werden von einflussreichen jemenitischen Gruppen unterstützt, die mit dem Zielen der al-Huthis sympathisieren. Dabei fällt der Name von Ali Muhsin Al-Ahmar immer wieder.
Ist er nicht der Halbbruder des Präsidenten?
Nadia Al-Sakkaf: Allerdings! Er ist verheiratet mit der Schwester von Tarek Nasr al-Fadhli. Ein radikaler Islamist und Führer der Bewegung, die für die Abspaltung des Südjemens eintritt und dort einen vom Norden unabhängigen Staat errichten will.
Familiäre Beziehungen sind eine Sache, aber ist Ali Muhsin Al-Ahmar nicht jemenitischer Militärkommandeur?
Nadia Al-Sakkaf: Ja, zuständig für den Nordwesten. Er ist bekannt für seine extremen religiösen Positionen und auch für Beziehungen zu Al-Qaida. Er soll für die Ausbildung von Dschihadisten im Jemen verantwortlich sein, bevor sie nach Afghanistan, in den Irak oder in andere Konfliktgebiete geschickt werden.
Der Auslöser war die Entführung von neun Deutschen und einem Briten in der Provinz Sa'ada
Aber woher bekommen die Huthis ihre Ausrüstung?
Nadia Al-Sakkaf: Sie bestechen das Militär, das ihnen Verpflegung, Waffen oder sogar Panzer verkauft, die eigentlich für die Armee vorgesehen waren. Die Soldaten tun das, weil sie zu allererst nicht an die Notwendigkeit des Kriegs glauben. Zudem sind so schlecht bezahlt und brauchen ständig Geld, um sich und ihre Familien zu unterhalten. Nicht zu vergessen: Sollte ein jemenitischer Soldat im Gefecht verletzt werden oder sterben, gibt es keine Garantie für eine angemessene und faire Nachsorge. Weder für den Soldaten, noch für die Familien. Staatliche Gelder sind knapp, die Regierung ist überlastet von enormen Schulden.
Kam der Ausbruch der neuen Kämpfe zwischen Regierung und Huthis nicht überraschend? Im Juli 2008 hatte Präsident Ali Abdullah Saleh noch das Ende des Konflikts erklärt.
Nadia Al-Sakkaf: Der Konflikt brach erneut aus, weil er in Realität einfach nicht gelöst war. Die Vermittlungen von Katar scheiterten und nach einem langen Jahr mit Hin und Her musste der Krieg erneut ausbrechen und diesmal in der aggressivsten Weise.
Das klingt so, als wäre es ein Automatismus.
Nadia Al-Sakkaf: Meiner Meinung nach begann der neue Krieg, weil die Huthis langsam wieder aufrüsteten. Der eigentliche Auslöser war die Entführung von neun Deutschen und einem Briten in der Provinz Sa'ada. Zwei deutsche Frauen und eine Koreanerin wurden getötet und die anderen sind noch immer verschwunden. Die internationalen Medien sowie die Deutsche und britische Regierungen forderten vom jemenitischen Innenministerium Antworten. Aber es konnte keine Auskünfte geben und musste eingestehen, dass sie keinerlei Kontrolle über das Gebiet haben. Zuerst beschuldigten sie die Huthis der Entführung, was ein großer Fehler war. Dann gaben sie zu, nicht die geringste Ahnung zu haben. Das war peinlich und die jemenitische Regierung musste irgendetwas tun, um seine Macht zu demonstrieren. Wie kann man ein Land regieren, wenn man nicht fähig ist, es zu kontrollieren? Dieser Krieg ist der letzte Versuch des gegenwärtigen Regimes seine Existenz zu rechtfertigen. Gerade angesichts der anderen Oppositionen, den Problemen im Süden und der ökonomischen Krise.
70 Prozent der Bevölkerung kann als arm bezeichnet werden
Ist die Politik der „eisernen Faust“ der Regierung der richtige Weg?
Nadia Al-Sakkaf: Ich vermute, Sie werden mich jetzt radikal nennen, aber meine Antwort ist Ja. Der Konflikt in Sa'ada ist chronisch und kompliziert. Das ist nicht wie im Swat-Tal in Pakistan, in dem der Konflikt quasi über Nacht beendet wurde. Allerdings lässt sich alleine mit militärischen Mitteln die Krise in der Sa´ada Provinz auch nicht beilegen. Das würde sie eher noch verschärfen, wie uns die letzten fünf Jahre gezeigt haben. Die Regierung müsste gleichzeitig Sicherheit in der Region und auch in Nachbargebieten garantieren, wie auch an der Verbesserung der Lebensbedingungen arbeiten. Das würde Reputation des Staates immens verbessern und für Loyalität sorgen.
Wie sollte das konkret aussehen?
Nadia Al-Sakkaf: Zum Beispiel könnte man den Flüchtlingen aus der Sa'ada-Provinz Vergünstigungen zukommen lassen. In Form von Stipendien, guten Jobs oder Wohnungen in staatlichen Wohnanlagen etc. Wenn sich sehr drastisch und schnell etwas zum Positiven hin verändert, etwa in den nächsten drei Monaten, schwindet auch die Unterstützung der Bevölkerung für die Huthis. Das Gleiche müsste im Süden auch gemacht werden.
Kann man die Opposition im Süden mit der im Norden vergleichen?
Nadia Al-Sakkaf: Die Bewegung im Süden ist weniger heterogen, kleiner, aber besser organisiert als die Guerilla der Huthi-Rebellen im Norden. Zum harten Kern der Opposition im Süden gehören vielleicht einige hundert Leute. Ideologisch gesehen, reicht die Palette von Schiiten bis Sozialisten.
Die Rebellen im Norden und die Sezessionisten im Süden sind nur ein Teil der Probleme des jemenitischen Staats. Sie bereits von hoher Arbeitslosigkeit und schlechten Lebensbedingungen gesprochen. Wie schwerwiegend ist die ökonomische Krise?
Nadia Al-Sakkaf: 40 Prozent sind arbeitslos, die Inflationsrate beträgt 27 Prozent. 40 Prozent der Jemeniten leben unter der Armutsgrenze, also von weniger als zwei Dollar am Tag. 70 Prozent der Bevölkerung kann als arm bezeichnet werden und können sich keine gute Ausbildung, medizinische Versorgung und anständige Unterkünfte leisten. So etwas wie an Ferien oder Autos können die Menschen gar nicht denken. Die Kluft zwischen reich und arm wir immer größer. Und Armut ist der Grund, warum der Jemen in so großen Problemen steckt.
Fast täglich kommen Flüchtlinge aus Somalia, wo Bürgerkrieg herrscht, aber auch aus anderen afrikanischen Ländern in den Jemen. Ist das nicht eine zusätzliche große Belastung?
Nadia Al-Sakkaf: Nach Schätzungen haben wir rund 800.000 afrikanische Flüchtlinge, die meisten davon aus Somalia. Sie haben kaum einen Einfluss auf die Ökonomie und man kann ihnen nicht die Schuld für unsere Krise geben. Sie nehmen uns keine Arbeitsplätze weg und sind auch nicht mehr oder weniger kriminell wie die Jemeniten. Jedoch stellen sie ein Problem für die Regierung dar, die völlig überbelastet ist und nicht einmal für die eigene Bevölkerung sorgen kann. Es gibt Unterstützung vom Flüchtlingswerk der UN und auch anderen Hilfsorganisationen. Allerdings gab es Berichte über Korruption und Veruntreuung von Geldern, die für die Flüchtlinge bestimmt waren. Bisher ist davon noch nichts angekommen.
Al-Qaida wird schwächer
Nachdem Al-Qaida in Saudi-Arabien erfolgreich bekämpft wurde, soll sich die Organisation im Nachbarland eine neue Basis eingerichtet haben. Im Jemen gab es früher sehr viel Sympathie für Al-Qaida. Ist dem immer noch so? Wird ihr Einfluss sogar noch stärker
Nadia Al-Sakkaf: Nein! Al-Qaida wird eher schwächer denn stärker. Die Popularität von Osama bin Laden ist gesunken. Die Jemeniten haben realisiert, wie destruktiv die Terroranschläge sind und dass sie nur Nachteile für ihr Auskommen bringen, gerade für die, die im Tourismussektor arbeiten. Ich nehme an, die Bevölkerung wird sich mehr den populären Oppositionsbewegungen anschließen, denn dem Terrorismus.
Einige Oppositionspolitiker geben dem Staatspräsidenten die Schuld an den Problemen Jemens und fordern seinen Rücktritt. Wäre das ein notwendiger Schritt zur Lösung der Krise?
Nadia Al-Sakkaf: Ja, sein Rücktritt ist Voraussetzung für jede Art von Verbesserung der Situation. Aber das wäre nur der Anfang. Mit dem Rücktritt des Präsidenten lösen sich aber nicht alle Probleme ganz einfach wie auf magische Weise auf. Man darf nicht vergessen, das Regime ist nicht nur Ali Abdullah Saleh alleine. Das ist ein komplexes Netz von korrupten Offiziellen, die dann auch gehen müssten, um Veränderung herbeizuführen.
Ist der Präsident tatsächlich die Schlüsselfigur für die herrschende Zensur, Korruption und die ökonomische Krise?
Nadia Al-Sakkaf: Natürlich, schließlich ist er der Präsident! Er ist dafür verantwortlich. Wenn es mit einem Land bergab geht, dann hat das Oberhaupt wohl seine Aufgabe verfehlt.
Kann der Jemen, wie die USA oder auch Saudi-Arabien befürchten, ein zweites Somalia werden?
Nadia Al-Sakkaf: Das glaube ich allerdings. Nur wesentlich schlimmer. Schließlich sind wir 25 Millionen und nicht nur 9 Millionen wie in Somalia. Wir sind bewaffnet, Analphabeten, hungrig und zornig. Was kann man von dieser Kombination erwarten?
In einem Cartoon der pan-arabischen Tageszeitung Al Hayat fällt „Al Yamam al Saeed“ das Glückliche Arabien, wie Jemen früher bezeichnet wurde, die Klippen hinunter. Fällt Jemen die Klippen hinunter?
Nadia Al-Sakkaf: Ich fürchte ja und die Menschen fallen mit hinunter, während die Regierungsangehörigen in ihre Privatflugzeuge steigen und davonfliegen.