Wirrwarr um aufgebohrte EU-Polizeidatenbank
Seite 3: "Virtuelle Grenze" zur Migrationsabwehr
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Das SIS gilt als Fahndungssystem nach Personen und Sachen. Im neuen "Schengener Informationssystem der zweiten Generation" können zusätzlich zu den Grunddaten "Zusatzinformationen" abgelegt werden. Das SIS II wird zur öffentlich geförderten Infrastruktur, die der EU-Rüstungs- und Softwareindustrie massive Investitionen in Peripheriegeräte beschert: Die innerhalb der EU zwingend vorgeschriebene Implementierung biometrischer Daten in Passdokumente erfordert neue Speicher- und Abfragekapazitäten, stationäre und mobile Schreib- und Lesegeräte bei gleichzeitiger Erhöhung der Bandbreite.
Neben den Personendaten werden im SIS der Grund der Ausschreibung, die fahndende Behörde, die zu treffende Maßnahme oder der europäische Haftbefehl gespeichert. Die Ausschreibungen teilen sich in mehrere Bereiche:
- Ausschreibung zur Einreiseverweigerung von EU-AusländerInnen aufgrund nationaler Gerichtsentscheidungen oder der "Terrorlisten" von Europäischer Union oder der Vereinten Nationen;
- Festnahme zur Übergabe oder Auslieferung etwa nach Europäischem Haftbefehl;
- Ausschreibung von Vermissten;
- Sachfahndung zur Sicherstellung oder Beweissicherung;
- Aufenthaltsermittlung von Zeugen oder Beschuldigten im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren;
- Verdeckte oder gezielte Kontrolle mit anschließender Meldung an die ausschreibende Stelle (inklusive Reiseweg und -ziel, Begleitpersonen, mitgeführte Sachen; laut der britischen Bürgerrechtsorganisation Statewatch betraf dies zwischen 2003 und 2008 rund 30.000 Personen).
Unter Kritikern gilt das SIS als "virtuelle Grenze", die nach Abbau der Grenzkontrollen im Rahmen des Schengener Abkommens installiert wurde. Tatsächlich beziehen sich die meisten Personen-Einträge im SIS auf Migranten (Ausschreibung zur Einreiseverweigerung). Auch die meisten Abfragen beziehen sich auf Kontrollen aufgrund der Hautfarbe [http://derstandard.at/1285200556360/Diskriminierung-Hautfarbe-beeinflusst-Polizeikontrolle] ("Ethic Profiling"). Deutsche Polizisten reagieren regelmäßig mit einer Anzeige, wenn diese Kontrollen "rassistisch" genannt werden. Demgegenüber wurde das SIS der Öffentlichkeit bei seiner Errichtung als System gegen organisierte Kriminalität vorgestellt. Damit hat sich die Datensammlung vom Zweck seiner Errichtung weit entfernt - eine Praxis, die bei polizeilichen EU-Datenbanken zur Regel wird.
Mit dem vollumfänglichen Anschluss von Europol ans SIS gewinnt die EU-Polizeiagentur Zugriff auf eine weitere Datenhalde, die sie in ihre ohnehin beträchtliche Informationssammlung integrieren kann. Die innerhalb von Eurojust organisierten Staatsanwälte greifen dort auf den immer wichtiger werdenden Europäischen Haftbefehl zu. In der Diskussion ist die Unterbringung einer EU-weiten Datensammlung zu reisenden Gipfeldemonstranten im SIS II. Auch der Zugriff deutscher Behörden ist beträchtlich. Berechtigt sind das Bundeskriminalamt, Länderpolizeien, Bundespolizeidirektion und Bundespolizei, Bundestagspolizei, Zollkriminalamt, Zollfahndungsdienst, Ausländerbehörden, diplomatische Einrichtungen, Bundesverwaltungsamt, Hauptzollämter, Kraftfahrbundesamt und Kraftfahrzeug-Zulassungsstellen. Zusätzlicher Zugriff ist geplant für das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Justizbehörden und Staatsanwaltschaften.
Fraglich, wie das neue Upgrade hin zur polizeilichen Datenbankgesellschaft einer zunehmend überwachungskritischen Öffentlichkeit beigebracht werden soll. Prinzipien wie Datensparsamkeit oder Verhältnismäßigkeit werden jedenfalls geflissentlich über Bord geworfen. Abhilfe soll eine mediale Propaganda-Offensive bringen: Vorsorglich regelt die SIS II-Verordnung, dass die Datenschutzbehörden und die Kommission "Informationskampagnen" durchführen sollen.