Wirtschaft und Politiker fordern längere Arbeitszeit für Erwerbstätige

"Rente mit 70", eine längere Wochenarbeitszeit und eine höhere Zuwanderung: Das sind Vorschläge, mit denen der demographische Wandel gemeistert und der Sozialstaat gerettet werden soll. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten.

Der Bundesrepublik fehlen Fachkräfte, und die Wirtschaft trommelt deshalb für mehr Einwanderung. "Der Fachkräftemangel ist so bedrohlich, dass wir wahrscheinlich in den nächsten zehn Jahren einen Wohlstandsverlust hinnehmen müssen", sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger der Deutschen Pressen-Agentur (dpa).

Den Ausweg sieht Dulger in einer neuen Zuwanderungspolitik, die sofort hochflexibel anzugehen sei und es ermöglicht, dass Ausländer schnell und unkompliziert nach Deutschland kommen können. Mindestens 500.000 Menschen sollen pro Jahr kommen, erwünscht sind aber nur Fachkräfte.

"Ab 2025 kommt die demografische Wende", sagte Dulger mit Blick auf die sogenannten Babyboomer-Jahrgänge, die zunehmend in Rente gehen. Im Moment habe man in der deutschen Wirtschaft rund 45 Millionen Erwerbstätige, eine Rekordzahl. Doch scheiden in den nächsten zehn Jahren rund fünf Millionen Menschen aus dem Arbeitsleben aus.

Neben einer höheren Einwanderung plädiert Dulger dafür, das inländische Potenzial zu heben. "Es sollten allen, die noch keinen Abschluss geschafft haben, noch mal eine zweite und dritte Chance gegeben werden", sagte er. Es müsse außerdem schneller gelingen, Beruf und Familie miteinander unter einen Hut zu bekommen.

Politik und Wirtschaft diskutieren aktuell verschiedene Ideen, wie die Folgen des Fachkräftemangels gelindert werden könnten. Im Mittelpunkt der Debatte stehen längere Arbeitszeiten für die Lohnabhängigen in der Bundesrepublik.

Mit längeren Arbeitszeiten gegen Fachkräftemangel

Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, und der Direktor des neoliberalen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, favorisieren eine längere Wochenarbeitszeit. Sie solle auf 42 Arbeitsstunden steigen. Andere Ökonomen sähen es lieber, wenn die Beschäftigten erst mit 70 Jahren in Rente gehen dürften.

Der erste Vorschlag kommt auch bei Sozialdemokraten gut an. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel machte sich gegenüber Bild am Sonntag (BamS) dafür stark. Vor mehr als 25 Jahren sei die Arbeitszeit nur verkürzt worden, um die damals steigende Erwerbslosigkeit zu bekämpfen. "Arbeit für alle durch Arbeitszeitverkürzung war das Motto", so Gabriel. Heute hätte man das entgegengesetzte Problem.

Gabriel geht es aber auch darum, Deutschland für den internationalen Konkurrenzkampf zu wappnen. Und das Fachkräfteproblem könne man nicht nur mit Zuwanderungen lösen. Er sagte:

Wir finden uns ja inzwischen oftmals damit ab, dass wir zu einer Art "75 Prozent-Gesellschaft" werden - 75 Prozent Pünktlichkeit der Bahn, 75 Prozent Impfquote, 75 Prozent Arbeitszeit und manchmal sogar nur 75 Prozent Unterrichtsversorgung an Schulen. Wir konkurrieren aber mit Gesellschaften, die wollen 150 Prozent leisten.

Sigmar Gabriel

Wenn die Menschen in Deutschland nicht länger arbeiten wollen, dann würden sie ihren Kindern auch nichts anderes hinterlassen als einen "riesigen Schuldenberg", so Gabriel.

Rainer Dulger zeigte sich sicher: Gelingt es nicht, mehr Fachkräfte zu gewinnen oder im Beruf zu halten, dann drohen Wohlstandsverluste. Es fehlten schließlich fünf Millionen Erwerbstätige, die Steuern zahlen und in die Sozialkassen einzahlen.

Das könnte das Ende des Sozialstaats sein, wie man ihn kennt; denn ihm stehen nicht mehr die Mittel wie bisher zur Verfügung. "Der Staat könnte sich dann nicht mehr die Hilfen von heute für Arme und Bedürftige leisten", so Dulger.

Außerdem müsse die Rente reformiert werden. Werde das nicht getan, "dann werden wir zukünftig nicht mehr rund 100 Milliarden Euro in die Renten stecken müssen, sondern werden 180 und 200 Milliarden in die Renten stecken müssen – einfach, weil wir mehr Rentner sind", erklärte Dulger weiter.

Stünden dem immer noch niedrige Beiträge gegenüber, dann müsste der Staat immer mehr aus Steuermitteln ausgleichen. "Was er dann in Zukunft nicht mehr so gut kann, weil immer weniger Steuern zufließen, weil immer weniger Erwerbstätige da sind", so Dulger.

Solidarprinzip stärken und auch Beamte in Rentenkasse einzahlen lassen

Eine Reform des Rentensystems hatte auch kürzlich der Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, angemahnt. Beim 1. Bayerischen Sozialrechtstags sagte er, auch Beamte und Selbstständige sollten künftig in die Rentenkasse einzahlen müssen.

"Die derzeitigen Befreiungsmöglichkeiten für abhängig Beschäftigte und die Versicherungsfreiheit der Beamten, Richter und Soldaten sind nicht mehr zeitgemäß", betonte Schlegel. Deshalb sollten künftig ausnahmslos alle Erwerbstätigen zu einem neu zu definierenden Sicherungsniveau in die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) einbezogen werden und Beiträge zahlen müssen. Dies gelte auch für geringfügig Beschäftigte.

Selbstständige einzubeziehen, sei schon deshalb notwendig, um Widersprüche im geltenden Recht zu beseitigen. Es gebe keine sachliche Rechtfertigung für die Befreiung von der Versicherungspflicht. Altersarmut, eine Abhängigkeit vom Ehegatten, Partner oder ein sich Verlassen auf die Hinterbliebenenrente seien dadurch vorprogrammiert.

"Das neue Sicherungsziel der GRV sollte für die Zukunft so definiert werden, dass jeder Erwerbstätige nach einem erfüllten Berufsleben – realistisch sind maximal 40 Arbeitsjahre – von seiner Altersrente gut leben kann", so Schlegel. Zehn bis 20 Prozent über dem Niveau der Sozialhilfe sei realistisch – und trotzdem ambitioniert.

Eine Reform der Rentenversicherung scheint überfällig; aber eine längere Lebensarbeitszeit ist noch kein Garant für einen Lebensabend frei von Altersarmut. Nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums beziehen allein im Freistaat Sachsen 88.156 Menschen, die nach 45 Jahren eine gesetzliche Rente von unterhalb von 1.000 Euro beziehen. "Lebensleistung lohnt sich zu wenig angesichts eines niedrigen Rentenniveaus", hatte der Linken-Politik Sören Pellmann die Zahlen kommentiert.

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