Wissen ist Macht

Mit Charles Dickens bei den Rittern

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Schon wieder gibt es "die beste Fernsehserie aller Zeiten". Nach The Sopranos, The Wire, Mad Men und so weiter jetzt also Game of Thrones, ein Fantasy-Epos mit Rittern und Drachen. Die brachenübliche Inflation der Superlative ändert nichts daran, dass auch der neueste Publikumshit des Kabelanbieters HBO eine erfreuliche Tendenz der letzten Jahre bestätigt: Die anspruchsvolle, nicht an den dümmsten aller denkbaren Zuschauer gerichtete Fernsehserie ist die Wiedergeburt des Fortsetzungsromans als DVD-Box. Eine Bestandsaufnahme mit drei Penissen. "It’s not TV, it’s HBO!"

When you play the Game of Thrones you win or you die. There’s no middle ground.

Cersei Baratheon, geb. Lannister

Wer das Buch A Game of Thrones gelesen hat, den ersten Band von George R. R. Martins Fantasy-Tetralogie A Song of Ice and Fire, weiß genau, wie die TV-Serie anfangen wird. Ein vergittertes Tor wird hochgezogen. Drei Männer, im Hintergrund eine Burganlage, warten darauf, in einen dunklen Tunnel reiten zu können. Der Tunnel führt durch eine gigantische Mauer aus Eis und Stein, hinein in eine bewaldete Winterlandschaft. Wenn die Männer keine Schwerter hätten, könnte das ein Western sein. Eine Patrouille der Kavallerie reitet aus dem Fort in den Wald, um auszukundschaften, was die Indianer gerade treiben. Wir könnten uns auch in einem Römerfilm wie Gladiator oder The Fall of the Roman Empire befinden. Drei Legionäre haben sich in den Wald getraut und werden jetzt gleich von den Germanen überfallen.

Mauer im Kopf

In Game of Thrones wohnen im Wald die "Wildlinge". Das sind Menschen, die das Pech hatten, auf der falschen Seite zu sein, als vor Tausenden von Jahren die Eismauer gebaut wurde. Seither fristen sie hoch im Norden des fiktiven, vage an die britische Insel erinnernden Kontinents Westeros ein primitives Dasein in einer Stammesgesellschaft, während sich im Süden der Mauer eine mittelalterlich anmutende Zivilisation entwickelt hat. Die von den Männern der Night’s Watch gesicherte Mauer wurde offenbar errichtet, um den Rest des Kontinents vor den White Walkers zu schützen. Im Roman heißen sie "die Anderen". Das scheinen unheimliche, vampirartige Wesen zu sein, die in die Körper ihrer Opfer schlüpfen können.

Einer der drei Männer, Will, entdeckt im Wald die Spuren eines Massakers. Die Körperteile getöteter Wildlinge sind angeordnet wie für ein bizarres Ritual. Als Will die beiden anderen Ranger zu diesem Ort des Grauens führt, sind die zerstückelten Leichen verschwunden. Als wieder zusammengesetzte Zombies mit unnatürlich blauen Augen töten sie Wills Gefährten. Nur Will kann entkommen. Oder hat er sich alles eingebildet? Das ist ein starker Anfang, weil er nicht nur spannend ist, sondern unsere Phantasie in Gang bringt und eines der großen Themen von Game of Thrones anspricht. Die Mauer, die da zweihundert Meter in den Himmel ragt, ist auch eine im Kopf. Wenn eine Gruppe auf die andere schaut (der Norden auf den Süden, die Familie Stark auf die Familie Lannister, Familienmitglieder untereinander), sieht sie etwas, das wirklich da ist oder vielleicht doch nur eine Projektion der eigenen Wunsch- oder Angstvorstellungen und Vorurteile. In Westeros gibt es einige, die an die Existenz der White Walkers glauben. Und es gibt die Mehrheit, die denkt, dass sie längst ausgestorben sind oder schon immer ein Mythos waren. Die Mauer aber bleibt bestehen. Sie wird nur schlecht gewartet.

Schutzwälle und sonstige Mittel zur Abgrenzung dem Fremden gegenüber erweisen sich - in der Serie noch mehr als in der Romanvorlage - als Spiegelachse, weil die Bedrohung den Helden, als verzerrtes Abbild ihrer selbst, näher ist, als ihnen lieb sein kann. Auf der einen Seite der Mauer, im Wald, taucht ein Hühne mit blauen Augen auf (ein White Walker in Menschengestalt), der einem aus der Nachtwachen-Patrouille mit einem Schwert den Kopf abschlägt. Will, der einzige Überlebende, desertiert aus der Night’s Watch. Darauf steht die Todesstrafe. Als er auf der anderen Seite der Mauer aufgegriffen wird, vollstreckt Lord Eddard (Ned) Stark, eine Art Gouverneur im nördlichen Teil von Westeros, das Urteil. Er schlägt Will mit einem Schwert den Kopf ab. Dafür nennt er Gründe, aber vielleicht hätte der White Walker auch welche, wenn man ihn fragen würde. So haben sich schon nach wenigen Minuten der Serie die Trennlinien verwischt.

Man beginnt zu ahnen, dass Ned Stark (Sean Bean, Boromir in The Lord of the Rings), der in Schwarz-Weiß-Mustern denkende Veteran vergangener Schlachten, in dieser Welt nicht reüssieren wird. David Benioff und D. B. Weiss, die Drehbuchautoren der Serie, untergraben Neds Position noch stärker als Martin im Roman, indem sie in mehreren Dialogen darauf hinweisen, dass Will durch die Geschehnisse jenseits der Mauer verrückt geworden sein könnte. Mit heutigem Vokabular: Will leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ned Stark, der zwei blutige Kriege geführt hat und selbst ein PTBS-Kandidat ist, will diese Möglichkeit nicht zulassen und hält an den althergebrachten Regeln (Tod für Deserteure) fest. In einem mittelalterlich-imaginären Feudalstaat ist das nicht weiter verwunderlich. Wenn man es zum Amerika der Jetztzeit in Bezug setzt, wird es sehr beunruhigend. Da erfährt man mit jedem Tag mehr, dass die alten Lösungen für die neuen Probleme nicht mehr taugen. Die Populärkultur hat ein feines Sensorium für aktuelle Verwerfungen, für das Brodeln unter der Oberfläche. Den Erfolg von Game of Thrones erkläre ich mir auch damit, dass hier trotz Rittern, Drachen und Vampiren immer drängender werdende Themen zur Sprache kommen, also das Gegenteil von Eskapismus betrieben wird.

Der amerikanische Tolkien trifft den Sohn von Gaddafi

Die Welt jenseits der Mauer bleibt zunächst unterbelichtet, weil sich Martin vorgenommen hat, ein monumentales Epos zu erschaffen. Dafür muss er nach dem Beginn im Norden in die anderen Himmelsrichtungen reisen und außerdem die Vorgeschichte erzählen. Hier einige Orientierungspunkte: Vor 300 Jahren hat der Ahnherr des Hauses Targaryen die sieben Königreiche von Westeros per Eroberungskrieg vereinigt. Einer seiner Nachfahren, König Aerys II., litt an Größenwahn, wollte Menschen und Städte brennen sehen wie dereinst Kaiser Nero und wurde gestürzt. Die Anführer der Revolte waren Ned Stark und sein brüderlicher Freund Robert Baratheon, der seitdem auf dem eisernen, aus den Schwertern der Unterworfenen geformten Thron von Westeros sitzt. Viserys und Daenerys (Dany) Targaryen, die beiden überlebenden Kinder des verrückten Königs Aerys, leben in Essos, einer östlich von Westeros gelegenen und von diesem durch eine Meerenge getrennten Landmasse im Exil. Viserys (Harry Lloyd) verkauft seine Schwester Dany an Khal Drogo, eine Art Kriegshäuptling des plündernd und mordend durch die Lande ziehenden Reitervolks der Dothraki. Drogo soll ihm dafür bei der Rückeroberung des verlorenen Throns von Westeros helfen. Weil aber die Dothraki die Dinge auf ihre Weise angehen und sich nicht hetzen lassen, bewegt sich die wilde Horde erst einmal in die entgegengesetzte Richtung …

Martin verwebt drei Erzählstränge miteinander. Der eine beschäftigt sich mit den Geschehnissen an der Mauer aus Eis, ein anderer mit dem Ausbruch eines neuen Bürgerkriegs in Westeros, der dritte mit Danys Abenteuern in Essos. Ursprünglich sollte es eine Trilogie werden. Mittlerweile ist die Saga auf sieben Bände ausgelegt, von denen bisher fünf erschienen sind. Band 5 lässt, wie man hört, noch immer vieles im Dunkeln. Weil so manches rätselhaft bleibt, scheint ein - nach den Meinungsäußerungen in den Internetforen zu schließen - signifikanter Teil der Fans allmählich das Vertrauen zu verlieren, dass der Autor je die von ihm geweckten Erwartungen erfüllen und ein in sich stimmiges Gesamtbild abliefern wird. Martin hat zuletzt mehrfach verlauten lassen, dass er die komplizierte Geschichte im Griff hat, dass die fehlenden beiden Romane weiter nach Norden zu den White Walkers vordringen sollen als je zuvor und dass sich alles klären wird.

In seinem Interesse und in dem der Leser ist ihm eine gute Gesundheit zu wünschen. Der bisher kürzeste der Romane hat 704 Seiten (US-Hardcover, mehr im Taschenbuch), der längste 992. Martin wird im September 74 und der Zeitraum zwischen dem Erscheinen der einzelnen Bände wie bei Kubrick-Filmen immer länger. Falls HBO den Plan durchhält, jedes Jahr einen Roman ins Fernsehen zu bringen, dürfte das noch interessant werden. Zwischen dem Erscheinen von Band 3 (2000) und 4 (2005) vergingen fünf Jahre, zwischen 4 und 5 (2011) waren es sechs. Demnach wäre 2018 mit Band 6 zu rechnen und 2026 mit dem Schluss. Time will tell.

Ein Vorhaben von solch monumentalen Ausmaßen schreit nach medialer Hyperbolik in den darauf spezialisierten Organen. Das Magazin Time hat Martin 2011 in die Liste der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten aufgenommen - da ist er jetzt in Gesellschaft von Marine Le Pen, Angela Merkel, Kate Middleton, Gaddafi junior sowie der längst abgeschmierten Michele Bachmann - und ihn außerdem zum "amerikanischen Tolkien" ernannt. Nach der Lektüre von Band 1 halte ich das für etwas hoch gegriffen (dass Time und HBO zum selben Konzern gehören, ist aber bestimmt der pure Zufall). Obwohl ein Aficionado der langen Form, bin ich reif für eine Pause. Mein persönliches Leseerlebnis: Ich war im letzten Drittel des Buchs, als ich das Ende der ersten Serienstaffel erreicht hatte. Das Weiterlesen fiel mir danach schwer, weil sich die Serie recht genau an die Romanhandlung hält und ich im Buch nicht mehr viel entdecken konnte, was die im Fernsehen erzählte Geschichte vertieft und vielschichtiger gemacht hätte.

Die Serie gefällt mir besser, weil sie konzentrierter, präziser und kunstfertiger konstruiert ist als der Roman, der für meinen Geschmack wenig bietet, wozu nicht auch ein visuelles Medium in der Lage wäre. Bei The Lord of the Rings ist es ganz anders. Tolkien kann man auch noch gut lesen, wenn man die Filmversion von Peter Jackson gesehen hat, ohne sich zu langweilen. Mir zumindest geht das so. (Wer Tolkien schon kennt und ein mythopoetisches, überbordendes, mit bizarren Einfällen gespicktes Buch über Intrigen, Religionshumbug, Inzest, den Kampf der Mächte des Lichts mit denen der Finsternis und Sex mit Feen sucht, lese den Roman Ancient Lights, den Davis Grubb mit letzter Kraft vollendete, bevor er starb. Ein Buch, geschrieben mit der Verwegenheit des Todgeweihten und garantiert ohne Folgebände.)

Mit Blackwater in Westeros

Trotz des bisher Gesagten - jetzt kommt das Positive - lassen sich der echte und der amerikanische Tolkien sehr wohl miteinander vergleichen. Für mich ist Der Herr der Ringe ein Buch über den Zweiten Weltkrieg, und nicht das schlechteste. Martin, geboren 1948, stammt aus einfachen Verhältnissen und entging dem Krieg in Vietnam, weil er als anerkannter Verweigerer Ersatzdienst leistete. Seinen vor A Song of Ice and Fire verfassten Werken, besonders The Armageddon Rag (keine Fantasy, sondern ein Krimi über der Mord am ehemaligen Manager einer Rockband namens Nazgûl, womit wir wieder bei Tolkien wären) merkt man an, was für eine prägende Erfahrung der Vietnamkrieg für ihn war, auch wenn (oder gerade: weil?) er sich ihm auf verschlungenen Wegen nähert.

Es gibt eine ganze Reihe von amerikanischen, in populären Genres arbeitenden Autoren aus der Vietnam-Generation, die früher als ihre im Feuilleton gepriesenen Kollegen von der "anspruchsvollen" Literatur registrierten, dass in vermeintlichen Friedenszeiten eine schleichende Militarisierung stattfand, dass eine kastenartige, nach eigenen Regeln operierende und von privaten Sicherheitsfirmen gebildete und von Politikern geförderte Gesellschaft in der Gesellschaft entstand (am deutlichsten wird das in A Catskill Eagle, einem Spenser-Krimi von Robert B. Parker). Die lange Entstehungszeit von Martins Rittersaga fiel in eine Phase, in der die USA wieder zur (offen) kriegführenden Nation wurden und ständig steigende Summen an private Unternehmen zahlten, die bei Auslandseinsätzen militärische Aufgaben übernehmen.

Unter dem Eindruck des in Vietnam erlebten Desasters wurde in den USA die Wehrpflicht ausgesetzt, wurden die Streitkräfte in eine Freiwilligenarmee umgewandelt. Inzwischen leistet noch etwa ein Prozent der US-Bevölkerung Militärdienst. Stark überrepräsentiert sind gesellschaftlich benachteiligte Gruppen, die außerhalb der Armee kaum Chancen hätten. Die Night’s Watch in Game of Thrones rekrutiert sich vornehmlich aus Leuten, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind und die sich "freiwillig" melden, um Schlimmerem zu entgehen. Es wäre falsch, hier direkte 1:1-Verbindungen herzustellen (alle US-Soldaten waren vorher Verbrecher). Gezeigt wird aber eine Truppe, die aus sozial Deklassierten besteht, die fernab vom Rest des Landes gegen einen nur vage definierten Feind kämpft und mit der der große Rest der Bevölkerung kaum in Berührung kommt. Zu den US-Einheiten im Irak oder in Afghanistan ist es von da nicht mehr weit.

Wer Mitglied der Night’s Watch wird, bleibt es ein Leben lang, darf keine Frau und keine Kinder haben. In gewisser Weise ist das noch gnädig, wenn man an eine Gesellschaft mit ungerechter Chancenverteilung denkt, in der die soziale Position nicht nur so gut wie unentrinnbar ist, sondern von Generation zu Generation vererbt wird. Und es ist die Perfektionierung eines Systems, in dem sich das Kriegführen dadurch leichter vermitteln lässt, dass eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe in fernen Regionen den Kopf hinhält, während die große Mehrheit davon nicht direkt berührt wird. Ohne Familie wird diese Gruppe noch überschaubarer, und weil es keinen Heimaturlaub gibt, kann man sie rasch vergessen. So findet dieser Krieg abseits des allgemeinen Bewusstseins statt. Sonderaufgaben werden durch den privatwirtschaftlichen Sektor abgewickelt. In Game of Thrones gibt es den Söldner Bronn. Am Vorabend der ersten Schlacht erfahren wir, dass er schon jenseits der Mauer war, obwohl er nicht zur Night’s Watch gehört. Was hat er da gemacht? In wessen Auftrag?

Wenn es Bronn nicht schon im Roman gäbe, hätte man ihn für die Serie glatt erfinden müssen. Indem sie den Norden mit dem Süden verbindet, verdeutlicht diese Figur, dass sich der Krieg eben doch nicht geographisch begrenzen lässt. Überall in Game of Thrones trifft man auf Kinder, die das Kämpfen lernen (wir sind dabei, wenn zwei von den Stark-Geschwistern den ersten Feind töten, bevor sie den ersten Sex hatten) sowie auf Veteranen früherer Auseinandersetzungen mit angeknackster Psyche. Seit mehr als zehn Jahren führen die USA nun Krieg. Weil dafür nur eine begrenzte Zahl von Soldaten zur Verfügung steht, waren mehr als 100 000 von ihnen dreimal oder öfter im Kampfeinsatz. Was das für Langzeitfolgen haben wird, weiß kein Mensch (das Schicksal der Vietnam-Veteranen lässt wenig Raum für Optimismus). Mehr als zwei Millionen US-Soldaten waren inzwischen in Afghanistan und/oder im Irak. Je nach Studie, die man liest, leiden zwischen achtzehn und dreißig Prozent davon an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Den zuständigen Institutionen fehlen die Kapazitäten (und oft auch der Wille), das verlässlich zu diagnostizieren. Ausreichende Behandlungsmöglichkeiten existieren ohnehin nicht. Game of Thrones ist nicht zuletzt das Psychogramm einer kriegführenden Nation. Von den Ritterrüstungen darf man sich nicht täuschen lassen. Die Serie gehört in eine Reihe mit Filmen wie Black Hawk Down, In the Valley of Elah und The Hurt Locker.

Rentenversicherung und geistige Altersarmut

Was auf Deutschland noch zukommen wird, das sich seit einem Jahrzehnt am Hindukusch verteidigt, ist auch nicht klar. In einem Land, wo der Verteidigungsminister schon als mutig gilt, wenn er den Krieg als Krieg bezeichnet (bezeichnenderweise ging das mit dem Entschluss einher, die Bundeswehr zur Freiwilligenarmee umzubauen), wäre eine ehrliche Debatte darüber dringend erforderlich. Eine qualitativ hochwertige Serie wie Game of Thrones, die dazu einen Beitrag leistet, ist vom deutschen Fernsehen derzeit nicht zu erwarten. Während ich das schreibe, jubiliert die ARD über die 1500. Folge von Sturm der Liebe. Da könnte man verzweifeln, wenn es nicht noch den 200. Geburtstag von Charles Dickens zu feiern gäbe. ARD und ZDF erinnerten sich an ihren Bildungsauftrag und brachten rund um den 7. Februar ein paar kurze Beiträge in ihren ins Spätprogramm und in die Spartensender abgeschobenen Kulturmagazinen. Damit war das Thema durch.

Eigentlich wäre der Geburtstag des großen Romanciers eine gute Gelegenheit gewesen, über die von Dickens favorisierte Erzählform nachzudenken und darüber, was das Fernsehen daraus lernen könnte. Die Amerikaner machen es uns seit Jahren vor (Game of Thrones, wo die Kreativen wissen, was sie tun, würdigt Dickens in der Figur des Samwell Tarly, die aus Mr. Pickwick und seinem Diener Sam Weller zusammengesetzt ist). David Copperfield, Bleak House oder Our Mutual Friend erschienen zuerst in Fortsetzungen, wurden zwischen den einzelnen Lieferungen eifrig diskutiert und dann auch als Buch veröffentlicht. Übertragen auf die Fernsehserie wäre das Buch die DVD-Box. Ein Forum für die Diskussion während der Erstausstrahlung bieten die Blogs im Internet (zu Game of Thrones etwa das Blog von Sarah Hughes beim Guardian). Oft wird da eifrig über Dramaturgie und Figurenkonstellationen debattiert. Anhand der DVDs lässt sich das vertiefen. So entsteht eine kleine, aber feine (und größer werdende) Zielgruppe, von der sich das deutsche Fernsehen verabschiedet hat, und umgekehrt.

Dickens’ phänomenaler Erfolg ist nicht nur darin begründet, dass das Publikum so schön mit Little Nell leiden konnte (The Old Curiosity Shop) oder Pips unglückliche Liebe zu Estella so anrührend war (Great Expectations). Dickens beherrschte auch souverän sein Handwerk (seine ästhetischen Mittel und seine Erzähltechniken übernahm später das kommerzielle Kino), und er versuchte, den Lesern die Welt zu erklären. Letzteres ist auch der Ehrgeiz einiger herausragender Fernsehserien, die das Unternehmen HBO in den vergangenen zehn Jahren für seine Abonnenten produzieren ließ. The Sopranos interessiert sich dafür, wie die Mafia funktioniert (oder eben nicht), in Deadwood ist es der Wilde Westen, in The Wire die moderne Großstadt, in Big Love der religiöse Fundamentalismus. Game of Thrones setzt in einer Mischung aus Fantasy- und Mittelalter-Ambiente fort, was mit Rome begonnen wurde: die Sektion eines durch Mord und Intrigen zusammengehaltenen Imperiums. Ob das immer so geglückt ist, weiß ich nicht genau. Die vorab ausgestoßenen Jubelschreie über die "beste Serie aller Zeiten" scheinen mir mehr dem brachenüblichen Hype als einer nüchternen Bestandsaufnahme geschuldet. Sehenswert ist die Serie aber trotzdem. Und da bisher gerade mal die erste von angepeilten sieben Staffeln lief, kann sogar noch der ganz große Wurf gelingen.

Wer die Welt erklären will, entwirft gern ein breit gefächertes Gesellschaftspanorama. Dafür braucht man Zeit. Bei Game of Thrones dauert es bis Episode 5. Dann sind die Figuren in Stellung gebracht, und die Geschichte nimmt richtig Fahrt auf. Das klappt nur in Verbindung mit einem Publikum, das etwas Geduld mitbringt und bereit ist, sich auf ein kompliziertes Beziehungsgeflecht einzulassen. Der kommerzielle Erfolg beweist, dass ein solches Publikum durchaus existiert. Am erstaunlichsten an solchen Serien ist, mit welcher Selbstverständlichkeit mittlerweile das große Tabu der Fernsehunterhaltung gebrochen wird. Gefordert ist der Zuschauer, der über der Zerstreuung das Mitdenken nicht vergisst. Wer willens ist, auf die in sich abgeschlossene Episode zu verzichten, eine längere Wegstrecke mitzugehen, sich auf der Reise auch mal verwirren zu lassen und eine vorgefasste Meinung zu ändern, wer eine intellektuelle Eigenleistung erbringt, statt auf den erklärenden Dialog zu warten (oder einzudösen), steigert dadurch sein Vergnügen.

Als Anbieter auf dem Abonnentenmarkt muss die Firma HBO ihre Programme nicht durch Werbung unterbrechen. Trotzdem bleibt HBO ein Wirtschaftsunternehmen. Aufwändige Produktionen wie Game of Thrones rechnen sich nur durch die Mehrfachvermarktung: Ausstrahlung im Fernsehen, DVD und Blu-ray, Verkauf von Merchandising-Produkten und so weiter. Auch in dieser Hinsicht ist die Serie sehr gut gemacht. Konzipiert für das Sehen im Wochenrhythmus, sind doch geschickt Informationen eingestreut, die man nach Ablauf einer Woche mit großer Wahrscheinlichkeit nur erkennen und sinnvoll verbinden kann, wenn man über ein photographisches Gedächtnis verfügt (der Geschichte kann man auch ohne sie gut folgen). Beim Anschauen in kürzeren Abständen wird das Erkennen gleich viel leichter. So entsteht ein Mehrwert beim DVD-Konsum. Dieses Austarieren zwischen Fernseh- und DVD-Erfordernissen gelingt nicht immer gleich gut. Insgesamt jedoch haben die neuen, zu recht gepriesenen US-Serien ein handwerkliches Niveau erreicht, an dem auch Dickens nicht viel zu bekritteln hätte und von dem man hierzulande meist nur träumen kann, obwohl das gebührenfinanzierte Fernsehen eigentlich wie gemacht für solche den großen Erzählbogen spannenden Unternehmungen wäre.

Dominik Grafs Im Angesicht des Verbrechens war der sehr respektable Versuch, den Beweis zu erbringen, dass wir in punkto Qualität und bei der Erklärung komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge mit den Amis mithalten können. Graf und sein Drehbuchautor Rolf Basedow begingen jedoch die Todsünde, für die zehnteilige Serie eine auf zehn Teile ausgerichtete Dramaturgie zu entwickeln. Das hätte den langen Atem erfordert, den die alte Dame ARD nicht mehr hat. Was bei US-Serien als Qualitätsmerkmal gilt, erschreckte nur (durch Verfehlen der angestrebten Quote) und führte zur Verbannung des Intelligenz-Verbrechens ins Nirvana des Spätprogramms, wo die finalen Episoden schneller als geplant versendet wurden, um sie loszuwerden.

Immerhin glaube ich, inzwischen verstanden zu haben, warum ich Rundfunkgebühren überweisen muss. Es ist wie bei der Rentenversicherung. Vor meiner Zeit wurde ein "Generationenvertrag" geschlossen, von dem ich nichts mehr haben werde. Darum führe ich jetzt Geld ab, damit Senioren und geistige Frührentner weiter Sturm der Liebe, Forsthaus Falkenau und Florian Silbereisen sehen dürfen. Wer der geistigen Altersarmut vorbeugen will, investiert in eine private Zusatzversicherung und kauft sich DVDs. Wer sich das nach Zwangsgebühren und sonstigen Kosten nicht mehr leisten kann, surft vielleicht im Internet und stößt auf hilfreiche Erfahrungsberichte wie diesen hier.

Die Welt steht Kopf

Wer Fantasy nicht mag, könnte es mit Game of Thrones trotzdem mal probieren. Da ist für jeden etwas dabei. Die Anleihen sind zahlreich und meistens auch interessant, wenn man sie zu den Werken in Beziehung setzt, von denen etwas geborgt wurde. Ivanhoe ist genauso ein Leihgeber wie Prinz Eisenherz, Macbeth oder Die Nibelungen. Mich als Liebhaber des Schaffens von Orson Welles hat besonders gefreut, dass Martin Inspiration bei den zwischen den englischen Adelshäusern York und Lancaster ausgetragenen Rosenkriegen gefunden hat. Five Kings (1939), ein aus den um die Rosenkriege kreisenden Historiendramen William Shakespeares komponiertes Bühnenspektakel, war eines von Welles’ ambitioniertesten Projekten und eine seiner bittersten (und ehrenvollsten) Niederlagen. 1965 machte er daraus einen seiner größten Triumphe, einen genialen Film über den Krieg, die Freundschaft und die korrumpierende Wirkung der Macht: Chimes at Midnight.

Chimes at Midnight

Stilbildend für Shakespeare-Verfilmungen und Ritterkämpfe waren lange Zeit Richard III. und Henry V. von Laurence Olivier. Bei Olivier ist der Krieg ein ästhetisches Erlebnis. Seine Ritter treffen sich auf gepflegten englischen Rasenflächen, als würden sie auf einem Golfplatz gegeneinander antreten. Welles kann damit nichts anfangen. Bei ihm ist das Aufeinanderprallen zweier Ritterheere in der Schlacht von Shrewsbury ein schmutziges Gemetzel. Wenn man das einmal gesehen hat, vergisst man es nicht mehr. Polanskis Macbeth und Branaghs Henry V. würden anders ausschauen, wenn es Welles’ Meisterwerk nicht gäbe. Auch Game of Thrones verdankt ihm, direkt oder indirekt, eine ganze Menge. Das mag überraschen, weil Welles aus geringsten Mitteln sehr viel machte, während kaum ein Artikel über die Serie ohne den Hinweis auf die hohen Produktionskosten auskommt. Bei der ersten Staffel sollen es mehr als 50 Millionen Dollar gewesen sein.

Ein bisschen wundere ich mich schon über die Ausdauer, mit der in solchen Artikeln die Statistenheere bemüht werden, die sich in Bewegung setzen, wenn die Starks gegen die Lannisters ins Feld ziehen. Diese sind mehr der suggestiven Wirkung von Pressemeldungen geschuldet als den realen Gegebenheiten. Ein beachtlicher Teil des Budgets dürfte in die im Computer generierte Welt von Westeros geflossen sein. Ich habe nicht durchgezählt, würde aber schätzen, dass in keiner Einstellung mehr als fünfzig Komparsen zu sehen sind (höchstens beim Turnier sind es ein paar mehr). Das ist kein Schaden. Wer tatsächlich ein Heer von Statisten zur Verfügung hat, muss darauf achten, sie auch zu zeigen, um es sich nicht mit Financiers und Buchhaltern zu verderben. Das sind Zwänge, mit denen die wenigsten Regisseure sinnvoll umgehen können. Umgekehrt sind ohne Statistenheer kreative Lösungen verlangt, was einem Film oft gut tut. Das gilt auch für Game of Thrones.

Welles spielt in Chimes at Midnight den Falstaff, seine Paraderolle. In Game of Thrones gibt es nicht eine Falstaff-Figur, sondern deren zwei. Die eine, den fett gewordenen Säufer Robert Baratheon, verkörpert Mark Addy unter Einsatz seiner ganzen Leibesfülle; die andere der kleinwüchsige Peter Dinklage als Tyrion Lannister. Dinklage hat eine der besten Rollen, viele der besten Dialoge, und wenn Drehbuch und Regie witzige Einfälle hatten (und gelegentlich sogar der eher ernste Romanautor George R. R. Martin), ist Tyrion auch meistens beteiligt. So ist er etwa, als eifriger Bücherleser, für die Shakespeare’schen Anachronismen zuständig (am berühmtesten: im zweiten Akt von Julius Caesar läutet eine Kirchenglocke). Einmal macht er sich über die Mauer im Norden lustig, die vor Grumkins und Snarks schütze. Ein Grumkin ist ein Phantasiewesen aus Kindergeschichten. Den Snark, vielleicht eine Mischung aus Schnecke (snail) und Hai (shark), falls er nicht doch ein Boojum ist, hat Lewis Carroll erfunden. Wo Tyrion Carrolls 1876 veröffentlichte Ballade The Hunting of the Snark wohl gelesen hat?

Mit literarischen Anspielungen ist stets zu rechnen, wenn Tyrion auftritt. Das wird gleich in Episode 1 klargestellt, wenn man erfährt, dass er den Spitznamen "the Imp" (Gnom) trägt, wozu einer Hure "alle Arten von Perversion" einfallen. "The Imp of the Perverse" ist der Titel einer Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe und eine Metapher dafür, dass man in einer Situation das Falsche tut, weil man es kann (Tyrion wird darüber mehrfach philosophieren, und sein innerer Imp of the Perverse wird ihn in schwierige Lagen bringen - zum Beispiel in eine abschüssige, zum Abgrund hin offene Zelle in der Bergfestung der Arryns). Eine Fernsehserie mit Lektüreanregungen, die über das adaptierte Werk hinausgehen: Wann kriegt man so etwas schon mal geboten? Tyrions Credo: "Der Verstand braucht Bücher wie das Schwert den Schleifstein." Das sind mehr als schöne Worte. In der Serie wird regelmäßig durchgespielt, wie wichtig es ist, sich zu informieren, die erhaltenen Informationen kritisch zu hinterfragen und mit anderen Meinungen abzugleichen.

Chimes at Midnight

Aber eigentlich waren wir beim Krieg. Welles’ Falstaff gelingt es in Chimes at Midnight nicht, an diesem teilzunehmen, weil er zu schwer für den Kran ist, der ihn aufs Pferd hieven soll (so wie König Robert in Game of Thrones nicht beim Turnier mitmachen kann, weil er zu dick für seine Rüstung ist). Tyrion ist zu klein. Auf Anordnung seines Vaters soll er die von ihm angeworbenen Clans des Hochlands in die Schlacht gegen die Starks führen. Er hält eine Motivationsrede, die Kämpfer rennen los und ihn dabei um. Tyrion verliert - anders als im Roman - das Bewusstsein. Die nun beginnende Schlacht wird einfach übersprungen. Danach steht die Welt auf dem Kopf. In der oberen Bildhälfte liegen Leichen, als könnten sie fliegen und wären zum Himmel aufgestiegen. In der unteren Hälfte ist ein Fluss zu sehen. Im Wasser spiegeln sich Reiter. Das sieht schön aus, ist in seiner Komponiertheit eine ferne Erinnerung an den Krieg als ästhetisches Erlebnis bei Olivier.

Dann wird das schöne Bild als Illusion entlarvt. Wir sind - im wahrsten Sinn des Wortes - zurück auf dem Boden der Tatsachen, in der grausigen Realität. Der Söldner Bronn wischt sich das Blut vom Schwert. Auch sein Gesicht ist mit Blut bespritzt. Tyrion kommt zu sich, weiß nicht genau, wo er sich befindet. Vielleicht doch im Himmel, oder in der Hölle. "Ich bin am Leben?" fragt er ungläubig. "Haben wir gesiegt?" Bronns Antwort: "Wenn nicht, würden wir dieses Gespräch nicht führen." Dann erfahren wir, was das bedeutet. Überall sind Schreie zu hören. Gefangene werden nicht gemacht, die noch lebenden Verlierer stattdessen brutal abgeschlachtet wie am schockierenden, von Chimes at Midnight beeinflussten Anfang von Polanskis Macbeth. Man braucht gar kein Statistenheer, um zu zeigen, was ein Gemetzel ist. Ohne Heer ist sogar viel besser, weil man nicht in die Versuchung gerät, sich auf den Feldherrnhügel zu stellen (oder, moderner, die abstrahierende Perspektive des Piloten im Kampfflugzeug einzunehmen), um von da das Spektakel zu genießen. Und weil in Game of Thrones selten etwas so ist, wie es scheint, haben die Lannisters die Schlacht im Grunde nicht gewonnen, sondern verloren. Diese Serie ist nicht anspruchsvoll, weil man sich so viele Figuren merken muss wie bei einem russischen Roman, sondern weil sie tradierte Wahrnehmungsmuster auf den Kopf stellt und problematisiert.

Kämpfen und Ficken

Ein Problem habe ich nach Staffel 1 mit dem Dothraki- und Daenerys-Teil. Martin hat auch eine aus diesen Kapiteln kompilierte Erzählung veröffentlicht, Blood of the Dragons. Das ist nicht unbedingt ein gutes Zeichen. In der Tat erscheinen mir Dany (Emilia Clarke mit blonder Perücke und dafür von der Zeitschrift Entertainment Weekly mit einem Schauspielpreis bedacht) und Drogo schlecht in den Hauptteil der Handlung integriert, stören sie den Lesefluss. Beim Nibelungenlied ist das besser gelöst. Kriemhild heiratet den Hunnenkönig Etzel, weil der ihr dabei helfen soll, den Mord an Siegfried zu rächen, und bald danach rücken die Burgunder an, damit die Tragödie ihren Lauf nehmen kann. Dany heiratet Drogo, damit er mit seiner Horde dabei hilft, den Thron von Westeros für die Familie Targaryen zurückzuerobern. Wären sie und ihr Bruder Viserys so belesen wie Tyrion, dann wüssten sie aus dem Nibelungenlied (Tipp: mal Die Nibelungen von Fritz Lang anschauen, wenn sich eine Gelegenheit ergibt; einen Drachen hat Lang auch), dass das so nicht gelingen wird. Jedenfalls schleppt sich die Sache erst mal hin, weil zunächst eine Emanzipationsgeschichte erzählt werden muss, in der die dominanten Männer entfernt werden, damit Dany lernen kann, selbst ihre Frau zu stehen.

Beim Lesen beschlich mich der Verdacht, dass Daenerys und ihr Coming out als Drachenfrau mehr mit wirtschaftlichem Kalkül als mit der inneren Logik des Romans zu tun haben, dass Dany das Fantasy-Element stärken und ein weibliches Marktsegment abdecken soll, das mit Rittern schwer zu ködern ist. Inwieweit das mit einer Heldin klappen kann, die von einem Nachfahren von Conan dem Barbaren gekauft und jede Nacht vergewaltigt wird, ehe sie ihn lieben lernt (irgendwie ist das noch mit dem Mutterinstinkt verknüpft, was bei Elisabeth Badinter Schreikrämpfe auslösen müsste), vermag ich nicht zu beurteilen. Ich als Nicht-Frau war froh über Ser Jorah Mormont an Danys Seite - nicht weil er ein Mann mit Schwert, sondern weil er die komplexere Figur ist. Und Iain Glen, der ihn in der Serie spielt, ist sowieso immer gut.

Bei den Nibelungen heißt Ser Jorah Dietrich von Bern. Martin hat noch einen Schuss Robin Hood beigemischt. In Nottingham ist die angelsächsische Bevölkerung durch den Hunger zum Wildern gezwungen, was zu Repressalien durch die Normannen führt. Ser Jorah hat die Wilderer nicht umgebracht, sondern aus Geldnot (Cherchez la femme!) an Sklavenhändler verkauft, was gegen die Gesetze verstieß. Entehrt und von Ned Stark strafrechtlich verfolgt, musste er aus der Heimat fliehen. Jetzt möchte er zurück nach Hause, und weil sich ihm plötzlich mehrere Möglichkeiten dazu eröffnen (Verrat ist auch mit dabei), muss er überlegen, welche davon er ergreifen soll. Ein "Ser" ist übrigens ein Ritter und führt ein "e" in seinem Titel, weil er sonst ein "Sir" wäre wie in England (so wie der Reiterfürst der Dothraki ein Khal mit "l" ist, um sich von Dschingis Khan abzugrenzen).

Die Macher der Serie, würde ich sagen, hatten auch das Gefühl, dass der Daenerys-Teil etwas in der Luft hängt. Deshalb haben sie die Parallelen zwischen der Westeros- und der Essos-Handlung stärker herausgearbeitet als Martin im Roman. Viserys verschachert seine Schwester Dany an Khal Drogo, um König zu werden und gleichzeitig wird Sansa, die älteste Tochter von Ned Stark, mit Prinz Joffrey verlobt. Das hat ein bisschen mit Sentimentalität zu tun (König Robert wollte Neds Schwester heiraten, die dann entführt und umgebracht wurde) und sehr viel mit Machtpolitik. Viserys taxiert Danys Körper, um zu sehen, ob man sie schon als vollwertige Frau verhökern kann und Königin Cersei will von ihrer zukünftigen Schwiegertochter Sansa vor allem wissen, ob sie schon die Periode hat. Für die Realpolitiker ist Sansa nicht als Mensch interessant, sondern als potentielle Mutter eines Thronfolgers, weshalb Cersei (Lena Headey, die Königin der Spartaner in 300) von Anfang an daran denkt, sie abzuservieren, falls sie nur Töchter gebären sollte.

In so einer Welt sind paradoxerweise diejenigen am ehrlichsten, die von sich selber sagen, dass man ihnen nicht trauen darf wie Petyr "Littlefinger" Baelish (Aiden Gillen aus The Wire), Mitglied im Thronrat des Königs von Westeros. "Nur indem wir zugeben, was wir sind", sagt er einmal, "können wir bekommen, was wir haben wollen." Baelishs Spitzname müsste eigentlich "Mittelfinger" sein, weil er diesen einer Gesellschaft zeigt, deren Zynismus er durch den eigenen grell beleuchtet und damit decouvriert. Dabei ist er im Grunde ein Romantiker. Baelish liebt seit früher Jugend Catelyn Stark (geborene Tully), die aber, weil politisch opportun, Neds älterem Bruder versprochen war und nach dessen Tod von Ned geheiratet wurde, der auch diesbezüglich an die Stelle des Toten trat. Das passt gut zu König Robert, der immer nur mit Neds toter Schwester schlafen wollte und in der Hochzeitsnacht mit Cersei deren Namen murmelte, weshalb die Königin ihn seit damals hasst. (Habe ich schon erwähnt, dass das eine Serie für Erwachsene ist und nicht für Kinder?)

Baelish, könnte man sagen, hat seine pubertären Frustrationserlebnisse ein wenig überkompensiert und betreibt jetzt in der Hauptstadt King’s Landing mehrere Luxusbordelle, wo selbst die ausgefallensten Wünsche sogleich erfüllt werden (kein Wunder, dass auch Nekrophile bei ihm Kunde sind). In Episode 7 dürfen wir mit dabei sein, wie er Ros, die Hure aus Winterfell und eine Berufskollegin in der hohen Kunst der Prostitution unterweist. Der Freier muss vergessen, dass Lust und Orgasmus nur gespielt sind, obwohl er eigentlich weiß, dass es so ist. Wenn man das auf das politische Leben überträgt, hat man schon viel von den gesellschaftlichen Zusammenhängen verstanden, vom Erringen und Bewahren der Macht. Seit Baelish gegen edle Recken wie die Starks den Kürzeren zog, weil sie größer und stärker waren als er, hat er gelernt, wie sie und Ihresgleichen zu besiegen sind: "I’m not going to fight them. I’m going to fuck them."

Dieses schöne Wortspiel hätte Petyr Baelish im herkömmlichen US-Fernsehen nie machen können, weil man ihm da das Ficken (unanständig) weggepiept hätte. Die Prüderie der amerikanischen Medien (das Erbe der Puritaner etc., die gar nicht so puritanisch waren, wie man denkt) ist bekannt und manchmal unfreiwillig komisch. Für Sexualforscher ist das ein reiches Betätigungsfeld. Noch in den 1980ern liefen Werbespots, in denen die Damen unter dem Büstenhalter einen Pullover trugen, weil BHs auf nackter Haut verboten waren. Generationen von Zuschauern wuchsen mit so etwas auf, die Folgen sind nicht zu unterschätzen.

Sex in Nicht-Missionarsstellung

Als Anbieter im nicht frei empfangbaren Kabelnetz ist die Firma HBO nicht an die Vorschriften der altväterischen Aufsichtsbehörde FCC gebunden. Das Unternehmen und seine Konkurrenten auf dem Abonnentenmarkt zeigen mehr Sex und Gewalt als je zuvor im US-Fernsehen, das dadurch, sagen die Befürworter, erwachsener geworden ist, weil die Nacktheit und die dosierten Splattereffekte (in Game of Thrones werden Köpfe abgeschlagen und Kehlen durchgeschnitten, und dabei spritzt das Blut) nicht nur den Voyeurismus befriedigen, sondern sinnvoll in die Handlung eingebettet sind. Das habe, liest man oft, die Mainstream-Medien insgesamt verändert und wirke der Infantilisierung des Publikums entgegen.

Diese Feststellung ist so falsch nicht. Die Entwicklung ist aber auch nicht ganz so revolutionär, wie es zunächst den Anschein hat. Die Erotik in den vielgepriesenen neuen US-Serien nimmt merklich zu, je weiter zurück in die Vergangenheit es geht, wird also mit den Mitteln der Chronologie auf Distanz zur Gegenwart gehalten (oder waren die alten Römer, die Dothraki und die Bordellbesucher in King’s Landing schlicht viel triebgesteuerter als die Mafiosi, die Mormonen und die Unterwelt von Baltimore?). Game of Thrones liefert alles, was der erwachsene Zuschauer von einer in einer anderen Epoche angesiedelten HBO-Serie erwartet, und dazu noch ein paar Details, die dem Revolutionären schon recht nahe kommen.

Sibel Kekilli, die seit ihrer Rolle in Gegen die Wand meistens unterfordert ist und von den Drehbuchautoren im Stich gelassen wird, überzeugt als Shae, die Prostituierte mit dem ausländischen Akzent und der mysteriösen Vergangenheit. Beim ersten Auftritt entblößt sie gleich mal ihren Busen, den Rock behält sie an. Andere Frauen in der Serie tun es ihr gleich, zeigen mitunter noch den Hintern, jedoch in aller Regel nicht mehr von der Vorderseite ihres Körpers. Das ist das alte Erfolgsrezept von Roger Corman aus den 1960ern und 1970ern: half frontal nudity. Nackte Brüste immer gern, aber bitte keine Schamhaare (oder, im Zeitalter der Intimrasur: nichts, wo die früher gewesen wären). Bei der Inszenierung wurde sorgfältig darauf geachtet, das einzuhalten. Am meisten Arbeit dürfte Dany gemacht haben, die bei den wilden Dothraki wohnt und darum öfter nackt ist als ihre Kolleginnen. Auch heterosexuelle Frauen kommen auf ihre Kosten. Jason Momoa als Khal Drogo ist größer und athletischer als Arnold Schwarzenegger in seiner Conan-Phase, und wenn er gegen aufmüpfige Krieger kämpfen muss, tut er es mit einer eindrucksvollen Urgewalt. Mich hat das an die Boxfilme aus den ersten fünfzehn Jahren der Kinogeschichte erinnert. Im Publikum saßen überdurchschnittlich viele Frauen, um halbnackte, gut gebaute Männer zu sehen. Aber vielleicht sind die Frauen von heute auch ganz anders. Ich mag mir da so wenig ein Urteil erlauben wie beim bereits erwähnten Masochismus.

Und wo ist das Revolutionäre? Ich habe drei Einstellungen mit einem Penis entdeckt. Beim ersten Mal (Episode 5) muss man genau hinschauen, um es mitzukriegen. Theon Greyjoy, Ned Starks präpotenter Pflegesohn, zeigt ihn uns und Ros im Bordell von Winterfell. Das ist noch sehr vorsichtig, als wolle man sich ganz allmählich an das männliche Glied herantasten. Schön ironisch ist es auch, weil die Hure Ros, die nun von Winterfell nichts mehr erwartet, anschließend in die Hauptstadt reist, um bei Baelish anzuheuern. Der zweite Penis ist schon länger zu sehen. Er gehört dem Weinhändler, der versucht hat, Dany zu vergiften und nackt hinter einem Pferd herlaufen muss, bis er stirbt (Episode 7). Penis Nummer 3 (Episode 8) ist der von Hodor, einem großen, geistig etwas zurückgebliebenen und völlig harmlosen Stallburschen in Winterfell, der nackt im Wald herumläuft.

Die drei Situationen sind interessant. Der sichtbare Penis ist räumlich eingegrenzt. Es gibt ihn in Essos (da leben sowieso die Wilden) und in Winterfell, wo alles noch etwas roher ist als im Süden. Nur eine der drei Situationen ist eine sexuelle (und der Sex ist, weil im Bordell betrieben, nicht ganz legitim), die anderen beiden sind mit Wildheit und Primitivität assoziiert. Vielleicht geht man in Staffel 2 ein Stück weiter und rückt den Penis eines kultivierten Ritters ins Bild, der im Palast von King’s Landing mit seiner Frau schläft. Sexualforscher also aufgepasst, da könnte sich noch was tun! Einstweilen ist ein Argument gegen allfällige Sexismus-Vorwürfe in Stellung gebracht. Drei Männer zeigen alles, was sie haben, die Frauen hingegen nicht (von Ros’ modisch ausrasiertem Intimbereich einmal abgesehen).

A propos Stellung: Die gute alte Missionarsposition ist bei HBO verpönt. Obwohl regelmäßig kopuliert wird gibt es sie, wenn ich nichts übersehen habe, in Staffel 1 von Game of Thrones nur ein einziges Mal, und da nicht richtig: Ros und ihre von Baelish engagierte Kollegin nehmen sie bei der beruflichen Fortbildung ein, und eine von den beiden spielt den Mann (ich entdecke da eine angenehme Selbstironie). Die Dothraki-Männer, die es gerüchteweise auch mit Pferden treiben, machen es prinzipiell nur von hinten. Dany ist im Roman 13 (in der Serie ein paar Jahre älter), als sie von Khal Drogo entjungfert wird, nimmt danach Unterricht bei einer Hure und leistet dann ihren Beitrag zum Kulturtransfer. Sie bringt Drogo bei, wie toll es ist, wenn man sich beim Sex in die Augen schaut (die Drachenfrau ist oben). Der Khal ist so begeistert, dass er einen von Trommelwirbel begleiteten Orgasmus hat. Den wollen wir auch der dabei geschwängerten Khaleesi wünschen, die ihren Vergewaltiger nun doch ganz gut findet, weil die Frauen seltsame Wesen sind (oder weil die Männer, die sich das ausdachten, es so haben wollten).

Weil das eine tolle Gelegenheit ist, die isolierte Essos-Handlung durch Parallelisierung mit Westeros zu verbinden, hat der bei den Dothraki praktizierte Geschlechtsverkehr Einfluss auf die körperliche Liebe in zivilisierteren Regionen. Erst sehen wir Drogo und Dany beim Brachialsex im Zelt (die Stutenphase), dann befriedigt Jaime Lannister seine Schwester Cersei von hinten. Ja doch, die beiden sind ein Paar. Bei den Lannisters hat der Inzest Tradition, wegen der Reinhaltung des Blutes und dergleichen (was daraus wurde, ist in den Promi- und Adelssendungen des Fernsehens zu besichtigen). Trotzdem muss er geheimgehalten werden, weil Cersei mit dem fetten König Robert verheiratet und die Mutter von Prinz Joffrey ist, dem Thronfolger.

Ein Leben voller Möglichkeiten

Joffrey ist der größte Widerling im Stück. Gleich beim ersten Sehen will man ihm, wie man so sagt, eine runterhauen (Jack Gleeson ist als Prinzendarsteller perfekt und wird in Zukunft hoffentlich gegen seinen Typ besetzt, weil er sonst nicht viel zu lachen hat). Das erledigt sein Onkel Tyrion, als der Neffe den Mund aufmacht. Joffrey redet trotz Warnung weiter und kriegt sofort die nächste Ohrfeige. So befriedigt man die Zuschauererwartung und baut zugleich Spannung auf, denn der nachtragende Prinz wird bald der König sein und vergisst nichts. Martin schreckt im Roman nicht davor zurück, einen Sympathieträger über die Klinge springen zu lassen, wenn es der Geschichte nützt. Seit Nina Myers in der ersten Staffel von 24 die Frau von Jack Bauer ermordet hat, muss man auch in TV-Serien damit rechnen, dass Hauptfiguren überraschend getötet werden. Den Lannisters gönne ich ein langes Leben, weil sie so gute Schurken sind. Tywin, der Patriarch, träumt von der Weltherrschaft und will ohne Rücksicht auf Verluste eine Dynastie begründen. Cersei ist die größte Intrigantin von Westeros. Ihr Bruder Jaime ist ein skrupelloser und arroganter Schönling in goldener Rüstung, der den Vorgänger von König Robert gemeuchelt hat (von hinten), obwohl er dessen Bodyguard war (der dicke Robert hat sich das nicht ausreichend überlegt, als er den Schwager in der Leibwache beließ).

Früher war es so, dass die Bösen kleinen Jungs den Luftballon kaputt machten oder, wenn es ganz schlimm kam, ihr Haustier töteten. Das war einmal. Auch als Kind lebt es sich inzwischen viel gefährlicher. Bran, der kleine Sohn von Ned und Catelyn, klettert gern an der Fassade von Burg Winterfell herum. Bei einer seiner Kraxeltouren erwischt er Cersei und Jaime beim Geschlechtsverkehr im Turmzimmer. Jaime hilft dem Jungen auf den Fenstersims, überlegt kurz, was jetzt zu tun ist und stößt ihn dann mit einem sarkastischen Kommentar - "The things I do for love" - in die Tiefe (Bran überlebt mit gelähmten Beinen, weil das auch eine Serie über den Umgang mit Behinderungen ist). Die drastische Maßnahme ist proportional zum Anlass. Die Geschwister Lannister haben mehr zu verbergen als den Inzest.

Unter Anleitung des ebenso klugen wie verschlagenen Petyr Baelish sowie durch die mühsame Lektüre eines Buches (Ironie!) findet Ned Stark heraus, was das Geheimnis ist. Der Vater der blonden Kinder der blonden Königin ist ihr blonder Bruder und nicht der dunkelhaarige König. Wer jetzt wütend ist, weil ich das hier verraten habe: Der Ärger war umsonst. Man muss schon ein geistig eher träger Mensch wie Ned sein (die Helden alter Art schneiden in Game of Thrones nicht so gut ab), um ernsthaft zu glauben, dass das wirklich wichtig ist. Leute wie Cersei und Baelish kostet es kaum mehr als ein Achselzucken, um zu beweisen, dass nicht der die Macht erringt, dem sie antiquierten Thronfolgeregelungen nach zustehen müsste, sondern der, der über das meiste Geld verfügt und der hinter den Kulissen am geschicktesten die Fäden zieht. Alles andere ist Theater zum Einlullen des Publikums.

Anhand des nur scheinbar bedeutsamen Geheimnisses um die blonden Kinder lässt sich gut zeigen, wie die Serie funktioniert und wie vielschichtig das in den besten Momenten ist. Nach dem Sturz in die Tiefe liegt Bran erst mal im Koma. Catelyn wacht am Krankenbett. Cersei kommt, bekundet ihr Mitgefühl und erzählt, wie schlimm es für sie war, als sie ihr erstes Kind verlor. Das wirft gleich viele Fragen auf. Ist Cersei nicht nur darum gekommen, weil sie wissen will, ob Bran, der lästige Zeuge, berichten kann, was er belauscht hat? Ist das Kind eines natürlichen Todes gestorben oder wurde es - weil von König Robert gezeugt, mit dem die Königin keine Nachkommen haben will - von der Mutter umgebracht? Ist Cerseis damaliges Leid echt oder heuchelt sie es nur, um den Verdacht von sich abzulenken und sich aus taktischen Gründen bei Catelyn einzuschmeicheln? Es ist eine der Stärken der Serie, dass gleichzeitig mehrere Antworten möglich sind.

Es sei kein Zeichen von Barmherzigkeit, sagt Cersei im Kreise ihrer Verwandten, ein Kind so leiden (und nicht den "Gnadentod" sterben) zu lassen. Jaimie pflichtet ihr bei. Bran, meint er, werde ein grotesk aussehender Krüppel sein, das sei nicht lebenswert. Dabei wissen wir genau, dass es nur darum geht, den Zeugen zu beseitigen. Tyrion ahnt, was passiert ist und hat schon deshalb eine andere Meinung, weil er als kleinwüchsiger Mensch selbst eine groteske Figur ist und weiß, dass er nur leben durfte, weil er der Sohn eines reichen Adeligen ist (arme Bauern hätten ihn zum Sterben im Wald ausgesetzt). "Als Vertreter der Grotesken", sagt er, "muss ich widersprechen. Der Tod ist so endgültig, während das Leben, ah … das Leben steckt voller Möglichkeiten." Tyrion ist dafür das beste Beispiel. Das Leben genießt er mehr als sonst einer in Winterfell und King’s Landing, obwohl er "vertikal herausgefordert" ist, oder wie das jetzt heißt (in Game of Thrones ist er ein "Zwerg", weil die politische Korrektheit noch nicht erfunden wurde). So führt ein Handlungsstrang, der mit mittelalterlichen Intrigen, Inzest und versuchtem Kindsmord beginnt, zu Präimplantationsdiagnostik, Sterbehilfe und zur Frage, wo die Grenze zwischen der mitfühlenden Menschlichkeit und dem allzu menschlichen Eigennutz verläuft. Das ist schon ziemlich gut.

Pulverisierte Illusionen

Beim Sehen von Game of Thrones verstärkte sich bei mir der Eindruck, dass die Gewalt, die Nacktheit und der Geschlechtsverkehr davon ablenken sollen, dass einige heilige Kühe der Amerikaner geschlachtet werden, nicht zuletzt die Familie. Vor Beginn der Handlung macht Jon Arryn, die rechte Hand des Königs, dessen "Bastarde" ausfindig, also die außerehelich gezeugten Kinder. Weil die alle dunkelhaarig sind wie der Vater, lüftet Arryn das Geheimnis von Cerseis blonden Kindern. Darum wird er von den Lannisters ermordet. Das ist der Ritterkrimi, der durch das Drama wabert, ohne von Drehbuch und Regie besonders erst genommen zu werden. Das Ganze folgt demselben Prinzip wie Poes Geschichte vom entwendeten Brief ("The Purloined Letter"). Der Brief wird trotz intensiver Suche nicht gefunden, weil er offen auf dem Tisch liegt, statt versteckt zu sein. Von den Krimielementen in Game of Thrones abgelenkt (Giftmord, Haarfarbe als Indiz etc.), übersieht man leicht, was nie verborgen war. König Robert hat viel mehr uneheliche Kinder, von stets wechselnden Frauen, als eheliche (und die sind nicht von ihm). Was bleibt da noch von Ehe und Familie, außer einer leeren Hülle?

Zum Entsetzen mancher Feministin macht sich inzwischen wieder ein angeblich von der Natur diktiertes, dabei aber doch nur ideologisch vorgeprägtes Idealbild von der Mutter breit, das die Frau zur ständigen körperlichen Präsenz verpflichten soll, zum Stillen für mindestens ein Jahr, weil der Säugling sonst in seiner Entwicklung Schaden nehme. Game of Thrones hält dazu einen Kommentar bereit, der den Konservativen nicht gefallen wird. In Episode 5 sucht Catelyn ihre Schwester Lysa, die Witwe von John Arryn, in der Felsenburg auf, in die sie nach Arryns Tod mit ihrem Sohn Robert geflohen ist. Lysa hat eine paranoide Störung und will sich nur noch dem Wohl des Kindes widmen. Darum geht sie nicht mehr aus dem Haus, und sie gibt dem Jungen noch die Brust. Robert ist sechs Jahre alt und das Pendant zu Prinz Joffrey, dem ich-zentrierten Thronprätendenten mit den Zügen eines Psychopathen. Ob es sich bei Klein-Roberts Zustand um einen genetischen Defekt handelt, ob er das Resultat einer verfehlten Erziehung ist oder ob durch eine Überdosis Muttermilch das Kinderhirn vergiftet wurde, bleibt offen.

Als ich ein Kind war, lief sonntags im ZDF die zur Zeit der Weltwirtschaftskrise spielende Serie Die Waltons. Das Leben der Baptisten war nicht immer leicht, aber wenn die Nacht hereinbrach hatte sich die Familie im Haus versammelt und John-Boy (garantiert im Dunkeln und in Missionarsstellung gezeugt) notierte Besinnliches in sein Tagebuch, damit der Zuschauer gut schlafen konnte. Solche Familienidyllen mit hohem Einlullfaktor werden von Game of Thrones pulverisiert. Jon Arryn findet die Wahrheit über die Kinder der Eheleute Robert und Cersei Baratheon heraus, und weil er deshalb von Familie Lannister ermordet wird, muss Ned Stark die neue rechte Hand des Königs werden, der ihn gern als Bruder haben will, weil er seine echten Brüder nicht leiden kann. Neds eigene Familie wird dadurch zerrissen und nie mehr so zusammenkommen, wie sie am Anfang einmal war. Die beiden Töchter, Sansa und Arya, begleiten Ned nach King’s Landing, die drei Söhne bleiben mit Catelyn in Winterfell und Jon, Neds eigener "Bastard", wird zur Night’s Watch abgeschoben, weil ihn Catelyn nicht um sich haben will. Kein Waltons-Idyll für die Starks.

Die kleine Arya ist die sympathischere der beiden Töchter. Ein Mädchen will sie eigentlich nicht sein. Sie ist aufmüpfig und unangepasst, hasst Stickarbeiten, ist eine bessere Bogenschützin als ihr Bruder Bran und nimmt Unterricht beim Fechtvirtuosen Syrio Forel, damit sie einmal gegen die Tyrannen kämpfen kann. Letzteres kenne ich von Stewart Granger in Scaramouche. Hier gilt die alte Regel: Nicht ob man klaut oder nicht ist wichtig, sondern was und von wem. Martin hat wie üblich eine gute Wahl getroffen. Da gibt es nichts zu meckern. Die interessantere Figur ist trotzdem Sansa. Sie will Prinzessin und dann Königin werden, und dafür denkt sie sich Prinz Joffrey schön, der ein größenwahnsinniger Sadist und Feigling ist. In der ersten Staffel muss sie das mit einem schmerzhaften Prozess der Desillusionierung bezahlen.

Die Desillusionierung steht überhaupt ganz weit oben auf der Agenda dieser Serie. Nehmen wir das Turnier am Hof von König Robert. Solche Turniere kennt man aus Ivanhoe et al. Wackere Recken treten gegeneinander an, um den Ehrenpreis und die Gunst einer holden Frau zu erringen. In Game of Thrones ist auch davon nur noch die Fassade übrig. Die Lannisters nutzen das Spektakel, um einen Zeugen ihrer Verbrechen durch einen als Unfall inszenierten Mord aus dem Weg zu räumen. Sansa ist fasziniert von Ser Loras Tyrell, einem Schönling in Blumenrüstung, dem es prompt gelingt, den riesenhaften und als unbezwingbar geltenden Ser Gregor Clegane im edlen Wettstreit aus dem Sattel zu werfen. Dumm nur, dass der Wettstreit so edel gar nicht war, weil Ser Loras einen fiesen Trick angewandt hat (die Fleischeslust, diesmal in der heterosexuellen Variante, spielt eine Rolle) und dass Ser Gregor ein jähzorniger Mensch und schlechter Verlierer ist, weshalb wieder Blut spritzt. Was Sansa auch nicht weiß: Ser Loras ist schwul und der Liebhaber von Lord Renly Baratheon, dem jüngsten Bruder des Königs.

Nach dem Turnier entspannt sich das Paar in seiner Kemenate. Ser Loras hilft Lord Renly bei der Körperrasur und taucht dann in den Bereich unterhalb des Bildausschnitts ab, um den Lord oral zu befriedigen. Im Roman gibt es das nicht. Viele Zuschauer in den USA, wo man sich erst noch zu der Einsicht durchringen muss, dass auch ein Spitzenpolitiker schwul sein kann, hat die Szene nachhaltig verstört. In den meisten Inhaltsangaben, die ich gelesen habe, werden Gewalttaten und Intrigen beschrieben, das Schäferstündchen der beiden Ritter hingegen nicht. Die klassische Verdrängung. Ich persönlich finde am interessantesten, dass König Robert für die Ausrichtung des Turniers einen weiteren Kredit bei den Lannisters aufnehmen muss (die Staatskasse ist leer), bei denen er sowieso schon bis über beide Ohren verschuldet ist. In einem durch teure Kriege physisch, psychisch und finanziell ausgeblutetem Land sind die Lannisters noch reicher geworden als zuvor. Der naive Ned Stark denkt bis zum Schluss, dass Robert gegen diese vorgehen wird, wenn er die Wahrheit erfährt und kapiert nicht, dass der König das gar nicht kann, weil er finanziell von ihnen abhängig ist. Das ist hochaktuell und viel spannender als die Frage, wer mit wem in welcher Stellung Sex hat und ob wir in Staffel 2 den Blowjob auch sehen und nicht nur hören dürfen (oder müssen, je nach Präferenz und Aufgeschlossenheit). Die besten HBO-Serien haben gemeinsam, dass sie auch vom schleichenden Niedergang der Weltmacht USA erzählen und nach Gründen dafür suchen. Sie finden unter anderem die Korruption und die Ignoranz, in den unterschiedlichsten Varianten.

Der Winter kommt

Sehr gelungen ist die Titelsequenz von Game of Thrones. Die Kamera fliegt über eine bewegliche Landkarte von Westeros und Essos, zeigt die Welt als Räderwerk. Ned Stark und Robert Baratheon, die Helden vergangener Kriege, begreifen zu spät, dass alles mit allem zusammenhängt und das kleinste Rädchen oft die größte Wirkung hat. Präventivschläge und gezielte Tötungsaktionen in fremden Ländern wecken schlafende Ungeheuer. Lord Varys - Eunuch, Herr über tausend Spitzel und Chef der Geheimpolizei von Westeros, der, sagt er wenigstens, für das Reich nur das Beste will (wer da wohl Pate stand?) - erhält die Nachricht von Danys Schwangerschaft. Da könnte ein neuer Targaryen-Erbe heranwachsen, der den Baratheons vielleicht irgendwann den Thron streitig macht. König Robert ordnet Danys Ermordung an. Das Attentat schlägt fehl. Khal Drogo, bisher kein Freund einer Invasion, will Rache und Westeros nun doch erobern. Weil er dafür Schiffe braucht, und weil Schiffe Geld kosten, zieht er plündernd und mordend durch Essos. Die Frauen der eroberten Siedlungen werden vergewaltigt und sollen an Sklavenhändler verkauft werden. Weil dabei aber der Tempel einer anderen Kultur geschändet und weil religiöse Gefühle verletzt werden … man sehe selbst.

Auch Ned setzt eine fatale Kettenreaktion in Gang, über die er schnell die Kontrolle verliert, weil er an den schlichten Verhaltensmustern von gestern festhält, statt eine komplex gewordene Realität zu akzeptieren und sich um ein informationsgestütztes, die Folgen berücksichtigendes Denken zu bemühen. Das lässt sich auch ökologisch deuten. Der Klimawandel hat in Westeros dramatische Ausmaße angenommen. Ein Sommer dauert nicht mehr Monate sondern Jahre, und im Verlauf der ersten Staffel mehren sich die Vorboten eines strengen Winters, der noch viel länger dauern wird, mit unabsehbaren Folgen. Im Norden hat sich die Redewendung "Der Winter kommt!" eingebürgert. Das ist nicht nur klimatisch gemeint und heißt nichts Gutes. In Umdrehung des Nord-Süd-Konflikts muss sich der Süden auf eine Wanderungsbewegung gefasst machen, auf die er nicht vorbereitet ist. Wer wohl das Brennholz (das Erdöl) liefert, wenn es so richtig kalt wird?

Beim Krieg ums Öl können einem Vater und Sohn Bush einfallen, oder Colin Powell. Als George Bush sen. den Golfkrieg führte und George R. R. Martin die Arbeit an seiner Rittersaga aufnahm, war Powell Chef des Generalstabs. So einer, dachten viele, muss Präsident werden. Er selbst aber traute sich das nicht recht zu, war mehr Soldat als Politiker, wurde schließlich Außenminister unter Bush jun. und machte im neuen Amt nicht die allerbeste Figur, weil er Strippenziehern wie Rumsfeld und Cheney so wenig gewachsen war wie Ned Stark den Lannisters und den Baelishs in Westeros. Für Ned, den Veteranen zweier Kriege mit - zumindest aus seiner Sicht - klaren Einteilungen in Gut und Böse, ist King’s Landing nur ein "Rattennest".

Dieses Ressentiment gegen die Hauptstadt und ihre Politiker, möge sie Washington oder King’s Landing heißen, ist so alt wie die USA. Gerade steuern wir wieder auf einen Wahlkampf zu, in dessen heißer Phase vermutlich auch das Obama-Lager behaupten wird, dass der Präsident mit diesem Rattennest im Grunde nichts zu schaffen hat und endlich aufräumen wird in Washington (das Romney-Lager tut das sowieso). Es ehrt den Roman und die auf ihm basierende Serie, dass beide solchem Populismus eine Absage erteilen. In einer Welt, in der von Fall zu Fall neu verhandelt werden muss, was richtig und was falsch ist, wird ein alter, den hohen Ton der Moral anschlagender Kämpfer wie Ned Stark zum Prinzipienreiter und zum Fossil. Am Ende seiner Amtszeit in King’s Landing stehen der Königsmord und der Bürgerkrieg oder, weniger militärisch formuliert, ein in sich zerrissenes, in viele Fraktionen zersplittertes Land.

Man kann sich der Politik auch auf ästhetischem Wege nähern. Visuell orientiert sich die Serie, was das Leben bei Hof und in der Ritterburg angeht, an der Künstlergruppe der Präraffaeliten und am in deren Stil malenden John William Waterhouse. Die Präraffaeliten und Waterhouse teilten Tennysons Begeisterung für den mythischen König Artus und seine Ritter der Tafelrunde und schufen von dessen Werken (Idylls of the King, "The Lady of Shalott") inspirierte Bilder, die jeder kennt, weil sie uns inzwischen von Schutzumschlägen, Keksdosen und im Museumsshop erworbenen Krawatten anschauen. Doch was haben Maler aus dem 19. Jahrhundert in so einer Fernsehserie verloren? Ganz einfach. Dabei soll einem die als "amerikanisches Camelot" verklärte Präsidentschaft von John F. Kennedy einfallen.

Für Nostalgiker ist das die Zeit, als noch alles gut war in den USA, ohne Vietnam und Watergate und Afghanistan: "ein magischer Moment in der amerikanischen Geschichte, als galante Männer mit schönen Frauen tanzten, als große Taten vollbracht wurden, als sich Künstler, Schriftsteller und Poeten im Weißen Haus trafen und die Barbaren jenseits der Mauer auf Distanz gehalten wurden", wie Theodore H. White in seinem Buch In Search of History schreibt (nicht zu verwechseln mit T. H. White, dessen Fantasy-Roman The Once and Future King Martin manche Anregung verdankt). Game of Thrones gräbt solchen rückwärts gewandten Utopien das Wasser ab. In Westeros, obwohl in das magische Licht der Präraffaeliten getaucht, herrschen die intriganten Realpolitiker, die galanten Männer sind hüftsteife Ex-Soldaten, geschäftstüchtige Bordellbetreiber oder Frauenhelden, die vor der Tür zu Marilyn Monroes Schlafzimmer Schlange stehen würden, wenn diese in King’s Landing schon gesungen hätte, dem einzigen Barden weit und breit wird die Zunge aus dem Mund geschnitten, die schönen Burgfräulein, ob Hure oder von adeligem Geblüt, sind Handelsobjekte, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass es je anders war. Da bleibt nur übrig, sich der Gegenwart und der Realität zu stellen, statt aus ihnen zu entfliehen. Ironischerweise ist das eine der Botschaften dieser Serie, die im scheinbaren Nirgendwo einer Fantasywelt spielt und dabei immer fest in der Wirklichkeit verankert bleibt (mit der Dothraki-Chauvi-Horde als einer Mischung aus den Taliban und marodierenden Söldnerbanden, gepaart mit schlimmen Erinnerungen an My Lai sowie inzwischen auch an Afghanistan und den Irak).

Sollte ich mal einen Roman schreiben, dachte ich mir lange Zeit, müsste er so anfangen wie Gravity’s Rainbow von Thomas Pynchon: "A screaming comes across the sky. It has happened before, but there is nothing to compare it to now." George R. R. Martin, glaube ich, ging es so ähnlich. Bei Pynchon fliegen die Raketen über den Himmel, mit denen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg London beschießen. In Westeros geht das natürlich nicht. Aber es gibt andere Möglichkeiten. Erster Satz von A Clash of Kings, Roman Nummer 2 in Martins Tetralogie: "The comet’s tail spread across the dawn, a red slash that bled above the crags of Dragonstone like a wound in the pink and purple sky."

Mit diesem Kometen verschärft sich die bis dahin aufgebaute Krisen- und Untergangsstimmung. Nach dem zu urteilen, was ich von Staffel 2 gesehen habe, werden die Religionen und deren Repräsentanten eine wichtigere Rolle spielen als bisher. Gleich in der ersten Episode gibt es eine Kindermordaktion, die König Herodes angeordnet haben könnte (man denke beim Kometen auch an den Stern von Bethlehem). Und es kommt zu einer ersten Konfrontation zwischen Königin Cersei und Petyr Baelish, den Meistern der Intrige. Das, was man nicht weiß, sagt Baelish, bringt einen um, und: Wissen ist Macht. Nur Macht ist Macht, setzt Cersei dagegen. Einstweilen ist sie die stärkere, weil sie über die Uniformierten mit den Schwertern gebietet. Baelish wird daraus lernen. Das könnte noch spannend werden.

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