Wissen lässt sich nicht einsperren
In Berlin findet die Tagung "Gut zu wissen" statt - ein Gespräch über die Wissensgesellschaft mit dem Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen
Wissen wird im 21. Jahrhundert zunehmend eine größere wirtschaftliche und soziale Bedeutung erlangen. Wie Wissen jedem und jederzeit zur Verfügung gestellt werden kann, ist eine der entscheidenden Fragen, die in diesem Zusammenhang beantwortet werden müssen. Mit den verschiedenen Aspekten der Wissensgesellschaft beschäftigt sich vom 4. bis 6. Mai in der Humboldt-Universität der internationale Kongress Gut zu Wissen – links zur Wissensgesellschaft der Heinrich-Böll-Stiftung. Wird das Wissen zur Ware, einem öffentlichen Gut oder unveräußerlichen Eigentum? Darauf versuchen renommierte Wissenschaftler wie Nancy Fraser, Richard Sennett oder Rainer Kuhlen eine Antwort zu finden.
Schon längst ist klar, dass der Begriff der Wissensgesellschaft einen Wandel bezeichnet, der weit über die Ökonomie hinausreicht. Wie wird die Demokratie in Zeiten des Internets aussehen? Darum geht es Nancy Fraser von der New Yorker New School University in ihrem Vortrag "Democratic Justice in the Knowledge Society". "Wem gehört das Wissen?" ist die Frage, mit der sich Rainer Kuhlen in seinem Beitrag beschäftigt, In acht verschiedenen Foren diskutieren die Wissenschaftler zudem über Themen wie "Demokratie der Wissensgesellschaft", "Bildung in der Wissensgesellschaft" oder "Wissensgesellschaft – Risikogesellschaft?". Wissen ist frei – ist das tatsächlich noch so? Kann man den "öffentlichen Raum frei von kommerziellen Spielregeln halten", wie sich das zum Beispiel Andy Müller-Maguhn vom Chaos Computer Club wünscht, der ebenso erwartet wird wie der Soziologe Claus Leggewie und die Hamburger Senatorin für Wissenschaft und Forschung, Krista Sager (Bündnis 90/Grüne).
Das in der EU soeben novellierte Urheberrecht und der Streit um die Internet-Musikbörse Napster zeigen die Brisanz der Frage nach dem Stellenwert geistigen Eigentums. Und die Politik? Wird sie lernfähig sein in einer aufs Lernen orientierten Wissensgesellschaft? Auch wenn dazu mehr gehört als das Internet, so ist das Netz der Netze sicherlich eine der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen der nahen Zukunft. Der Kongress "Gut zu Wissen – links zur Wissensgesellschaft" nimmt dazu Stellung. Das Forum zum Thema "Wem gehört das Wissen?" wird zudem am Sonnabend von 15 bis 18 Uhr zeitgemäß per Livestream in das Internet eingespeist und so weltweit zu sehen sein.
Der Informationswissenschaftler Prof. Dr. Rainer Kuhlen beobachtet die Entwicklung des Internet mit gemischten Gefühlen. Angesichts der zunehmenden Kommerzialisierung von Wissen im Netz fordert er ein stärkeres Engagement des Staates, aber auch von Organisationen der Zivilgesellschaft. Die aktuellen Forschungsschwerpunkte des Wissenschaftlers von der Universität Konstanz, der zurzeit an der Humboldt-Universität lehrt, sind die elektronischen Informationsmärkte und die Theorie informationeller Mehrwerte.
Herr Prof. Dr. Kuhlen, warum lohnt es sich, über die Zukunft des Wissens im Internet zu streiten?
Rainer Kuhlen: Ja, weil uns einerseits Wissen wie nie zuvor zur Verfügung steht, woraus sich ein enormes Innovations-, aber auch Demokratisierungspotenzial sowie die Möglichkeit ergibt, die Kluft von arm und reich zu verkleinern. Und weil wir auf der anderen Seite aber beobachten müssen, dass die Erwartungen an eine freiere und offenere Gesellschaft durch das Internet sich bislang nicht erfüllt haben. Ganz im Gegenteil vergrößert sich diese Kluft sogar noch. In diesem Zusammenhang spielt es eine große Rolle, dass sich das Internet von einem freien Kommunikationsplatz zu einem Marktplatz der Kommerzialisierung von Wissen umwandelt.
Woran machen Sie das fest?
Rainer Kuhlen: Das ist doch ganz einfach: Es gibt immer mehr Produkte, für die man bezahlen muss. Gut, vielleicht muss man in vielen Fällen für Informationsprodukte noch nicht bezahlen, weil die Bereitschaft der Nutzer einfach noch zu gering ist. Aber es gibt ja auch andere Formen des "Bezahlens", zum Beispiel durch Kontrolle: über Passwörter, Cookies oder eine Registrierung. Man spricht im Internet von einem Digital Rights Management. Also von Techniken der Kontrolle, vergleichbar mit dem Leasing, wodurch genau geregelt werden kann, wer welches "Stück Wissen" wie lange, für welchen Zweck und für welchen Preis nutzen kann.
Und was ist das Problem?
Rainer Kuhlen: Dass wir uns entscheiden müssen, ob Wissen der Öffentlichkeit gehört oder ob es exklusiv privatisiert, kontrolliert, in Nutzungszonen eingeteilt und kommerziell genutzt werden darf. Das ist eine Frage, auf die Antworten und Interessenausgleiche gefunden werden müssen.
Was verstehen Sie genau unter "Wissen"?
Rainer Kuhlen: Also, das ist natürlich eine sehr grundlegende Frage, die von Aristoteles bis heute sehr breit beantwortet werden kann. Letztlich ist Wissen aber alles, was vom menschlichen Geist produziert wird, sowohl in der Kunst als auch in Wissenschaft, Bildung, Technik und den Medien. Filme und Musik genauso wie ein wissenschaftlicher Aufsatz.
Dann ist das Internet also ein Wissensmedium?
Rainer Kuhlen: Es hat zumindest das Potenzial, Wissen für jedermann bereitzustellen. Und das muss meiner Meinung nach auch genutzt werden. Aber natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass das Internet auch ein Medium für Unwissen und Halbwissen bis hin zur Lüge ist. Das Internet präsentiert nicht nur die Wahrheit von Wissen, sondern das gesamte Spektrum.
Warum fordern Sie, dass die Politik in die Entwicklung des Internets eingreift?
Rainer Kuhlen: Weil das Internet nicht nur dem freien Spiel der Märkte überlassen bleiben darf.
Warum nicht?
Rainer Kuhlen: Dafür steht zu viel auf dem Spiel.
Was denn?
Rainer Kuhlen: Es darf nicht sein, dass Wissen wie jede andere Ware gehandelt wird. Der Zugang zum Wissen muss frei bleiben – das steht schon in der UN-Deklaration der Allgemeinen Menschenrechte. Doch dieses Grundrecht kann faktisch durch Kommerzialisierung unterlaufen werden. Das dürfen Staat und Zivilgesellschaft nicht hinnehmen. Eine der renommiertesten amerikanischen Universitäten, nämlich das MIT, hat jüngst ein Zeichen gegen die Privatisierung von Wissen gesetzt, indem ihre sämtliche Kursunterlagen für jeden zugänglich und gebührenfrei ins Internet gestellt werden sollen.
Was würde passieren, wenn man den Märkten freien Lauf ließe?
Rainer Kuhlen: Sehen Sie sich an, was in bislang noch spektakulärer Form bereits beim Fernsehen passiert. Öffentliche Ereignisse, die ins Pay-TV abwandern. So etwas droht auch dem Wissen mit dramatischeren Konsequenzen für die Zukunft zu passieren. Ich möchte es einmal so formulieren: Der Zugang zu Wissen ist die Chance für jeden, sich frei entwickeln zu können. Sowohl in privater als auch in beruflicher Hinsicht. Die Märkte hingegen bieten nur an, was sich auch kommerziell vermarkten lässt. Damit entscheidet der Markt, welches Wissen attraktiv ist. Das ist einfach nicht tolerabel, weil sich Wissen damit auf das reduziert, was sich auch verkaufen lässt.
Gilt die Aussage "Wissen ist Macht" in Zeiten des Internet mehr oder weniger als früher?
Rainer Kuhlen: Weniger. Oder nein, eigentlich mehr. Wer die Verfügung über Wissen hat, hat auch die Macht in der Wissensgesellschaft.
Wissen verdoppelt sich zurzeit alle drei Jahre. Haben wir nicht schon längst ein Zuviel an Wissen?
Rainer Kuhlen: Ja, vielleicht sollte man deshalb lieber sagen: Wer die Kompetenz und die, vor allem finanzielle, Kapazität für den Zugriff auf Wissen hat, der hat die Macht. Zu wissen, welches Wissen es gibt und wie man dran kommen kann, wird wichtiger, als es selber zu wissen. Man sieht das ja auch daran, dass mit der Metainformation im Internet mehr Geld gemacht wird als mit der Information selber. Zum Beispiel mit Suchmaschinen, intelligenten Agenten usw.
Wie können diese Zugänge offen gehalten werden?
Rainer Kuhlen: Offen gehalten? Die Zugangskanäle sind doch die ersten, die schon kommerzialisiert worden sind.
Wieso, Suchmaschinen etwa sind doch alle umsonst.
Rainer Kuhlen: Ja, das ist schon richtig. Aber wir können nicht kontrollieren, auf welche Weise die Suchergebnisse zustande kommen. Wie Sie wissen, gibt es bereits Suchmaschinen, bei denen man die ersten Plätze für die Suchergebnisse ersteigern kann. Damit können Sie sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Ergebnisse objektiv sind.
Welche Möglichkeiten hat denn die Politik, die Rahmenbedingungen zu verändern?
Rainer Kuhlen: Auf die Dauer kann man nur auf globaler Basis zu Regelungen kommen. Es ist klar, dass die nationale Zuständigkeit der Regulierung von Internetphänomenen machtlos wird. Bislang scheinen allerdings internationale Organisationen wie WIPO (für Urheberrechtsschutz) oder WTO (für freien Handel) eher die Interessen der kommerziellen Informationswirtschaft zu vertreten. Die UNESCO ist mit Programmen wie "Information für all" da eher eine Ausnahme – wenn auch eine ziemlich machtlose.
Würden Sie sich eigentlich als Schwarzseher bezeichnen?
Rainer Kuhlen: Gar nicht. Ich bin sogar weniger pessimistisch als viele Kollegen. Kontrolle und Kommerz beruhen auf Software. Ich gehe davon aus, dass es für jede Software eine Gegen-Software geben wird, die eine totale Kontrolle durch private Interessen verhindert und vernünftige Ausnahmen des "Fair use" möglich macht. Wissen und Information werden sich nicht einsperren lassen.