Wissenschaft als Medienereignis: Arbeitsversion des menschlichen Genoms veröffentlicht

Speed matters IX

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In der Wissenschaft geht es allmählich zu wie in der bundesdeutschen Konkurrenz zwischen Privatsendern und dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen: die Quote wird zum Maßstab, die Medienresonanz und damit die Aufmerksamkeit zum Erfolgskriterium. Alles andere kann erst einmal in den Hintergrund treten.

Wenn Wissenschaft jemals "unschuldig" gewesen sein sollte, so zeigt der Wettlauf um die Entzifferung des menschlichen Genoms, des El Dorado des Biotech-Zeitalters, zumindest ziemlich deutlich, dass es damit vorbei ist. Seit Craig Venter und sein Unternehmen Celera das mit öffentlichen Geldern geförderte internationale Human Genome Project unter Druck gesetzt hat, überschlägt sich im genetischen Goldrausch nicht nur die Geschwindigkeit der auf Bioinformatik beruhenden Sequenzierung, sondern auch die mediale Aufmerksamkeitspolitik der Beteiligten. Schließlich geht es nicht nur um die Sicherung des Eigentums an den möglicherweise wertvollen genetischen Informationen, sondern auch um die staatliche Wissenschaftspolitik und den Kurs der Firmen an den Börsen.

In einer gemeinsam abgestimmten Aktion wurden heute vom internationalen Human Genome Project (HPG) in Großbritannien, Japan, Frankreich, Deutschland und in den USA auf Pressekonferenzen verkündet, dass man 97 Prozent des menschlichen Erbgutes entschlüsselt habe. Wirklich vollständig sequenziert wurden allerdings erst die Chromosomen 21 und 22. Da man allerdings jetzt schon die Arbeitsversion vorliegen habe, werde man auch früher als 2003 die vollständige Version mit einer Genauigkeit von 99,99 Prozent vorlegen können.

Durch Celera unter erheblichen Druck gesetzt, haben so die mit öffentlichen Mitteln geförderten Forschungsinstitute, die die Rohdaten der Sequenzierungsergebnisse im Internet jedermann zugänglich machen, die Veröffentlichung einer Arbeitsversion mit einer, wie man immer betont, fast vollständigen Sequenzierung mehrere Jahre früher als ursprünglich geplant erreicht. Präsident Clinton verkündete aber auch das Ende des Wettkamps zwischen Staat und Privatwirtschaft. Von nun an würde die "starke und gesunde Konkurenz, die uns zu diesem Tag geführt hat, verbunden mit einer verstärkten Kooperation" zwischen öffentlichen Institutionen und der Privatwirtschaft. Gleichzeitig würden das HGP und Celera die genetischen Daten noch in diesem Jahr veröffentlichen und dann darüber nachdenken, wie man weiter vorangehen werde. Während also so alles Zufriedenheit gelöst zu sein scheint, waren natürlich auch die hinter dem Konflikt zwischen dem HPG und Celera verborgenen Unternehmen wie DoubleTwist, Eli Lilly, Affymetrix, Human Genome Sciences, Incyte Genomics, Genetech oder Millennium Pharmaceuticals nicht untätig, auch wenn sie sich kommerziellen Erfolg weniger aus der Sequenzierung des Genoms versprechen.

Dass diese Bekanntgabe im Juni gemacht werden würde, war schon seit einiger Zeit angekündigt worden, nachdem zunächst Celera im April gemeldet hatte, 99 Prozent des menschlichen Erbguts in einer Arbeitsversion entschlüsselt zu haben und eine vollständige Version noch bis zum Sommer dieses Jahres vorzulegen. Interessanter als die jeweiligen Erfolgsmeldungen ist freilich mittlerweile schon die Art, wie die Konkurrenten dabei auf die Medien setzen und der Wettlauf zu einem hochstilisierten Medienereignis wurde. Dazu passt, dass Michael Dexter, Direktor des britischen Wellcome Trust, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms nicht nur mit dem ersten Betreten des Mondes durch einen Menschen auf dem Mond verglichen hat, sondern meinte, es sei viel mehr als dies: "Dies ist die herausragende Leistung nicht nur für unsere Epoche, sondern auch im Rahmen der menschlichen Geschichte." Es sei mehr als die Erfindung des Rades, das durch eine neue Erfindung obsolet werden könne: "Dieser Code ist das Wesen des Menschseins, und solange es Menschen geben wird, wird dieser Code wichtig sein und gebraucht werden." Clinton und Blair bezeichneten die Sequenzierung des menschlichen Genoms als die "schönste Karte, die jemals von Menschen hergestellt worden ist."

Die Erfolgsmeldung diente natürlich auch dazu, die Leistungskraft der jeweiligen Forschungsinstitutionen und damit der nationalen Wissenschaftspolitik vorzustellen. So wird beispielsweise betont, dass die oft zitierten drei Milliarden Dollar, die das HGP gekostet habe, sich auf einen Zeitraum von 15 Jahren beziehen und die geschätzten Kosten neben der Entschlüsselung selbst auch für neue Technologien, bioinformatische Verfahren, experimentelle Organismen, die Erforschung von Krankheiten oder ethische, legale und gesellschaftliche Themen, die mit der Genetik zusammenhängen veranschlagt worden seien. Venter hatte dem HGP Verschwendung von Steuergeldern vorgeworfen und behauptet, dass die privatwirtschaftlich organisierte Forschung effektiver, schneller und billiger sei. Um nicht abgehängt zu werden, verkündete denn auch Celera am Montag, dass man die erste Version des menschlichen Genoms mittlerweile fertiggestellt habe. Und Francis Collins, Direktor des amerikanischen National Human Genome Research Institute, der sich mit Venter überworfen hatte, sagte denn auch erstaunlicherweise ganz versöhnlich, dass die beiden unterschiedlichen Ansätze komplementär seien und man diskutieren wolle, welche Methode letztlich die bessere sei. Möglicherweise werde man in Zukunft eine Kombination aus beiden Verfahren entwickeln.

Natürlich wurden auch die jeweiligen nationalen Leistungen in den Vordergrund gestellt. So betonten die Briten, dass sie ein Drittel des Genoms sequenziert hätten. Vier amerikanischen Forschungsinstitutionen (Baylor College of Medicine, Joint Genome Institute in Walnut Creek, Washington University School of Medicine, Whitehead Institute) und das britische Sanger Centre hätten alleine bereits 82 Prozent sequenziert. Deutschland sieht da nicht gut aus, da man hierzulande die biotechnologische Revolution zu lange nicht wirklich erkannt und daher auch zu wenige Geld in das HGP investiert hatte. Forschungsministerin Bulmahn kündigte daher heute auf der 50. Tagung der Nobelpreisträger in Lindau an, dass im Haushalt 2001 die Mittel zur Humangenomforschung um 50 Prozent erhöht worden seien und zusätzlich von Bund und Ländern noch einmal jährlich 240 Millionen DM bereitgestellt würden: "Es gilt jetzt vor allem, unsere nationalen Stärken zu nutzen und weiter auszubauen und unsere Kompetenz zielgerichtet in die internationale Wissenschaft einzubringen", sagte die Ministerin. Der Wettlauf zwischen dem HGP und Celera hat nur für kurze Zeit das Standortinteresse an der Forschungsförderung nach hinten gedrängt.

Der amerikanische Präsident Clinton betonte denn auch, dass die amerikanische Regierung weiterhin die Genforschung massiv unterstützen wolle, allerdings verwies er darauf, dass die Biotech-Unternehmen entscheidend dafür sein werden, die Erkenntnisse in medizinische Produkte zu überführen, weswegen man für diesen Wirtschaftszweig günstige Rahmenbedingungen schaffen werde. So werde Clinton die Patentierbarkeit genetischer Entdeckungen unterstützten, weil durch diesen rechtlichen Schutz des geistigen Eigentums Investitionen gefördert würden.

Der "große Tag für die Forschung" ist allerdings nur ein kleiner Schritt auf dem Weg, die genetischen Informationen wirklich nutzbar zu machen und sie vielleicht zugunsten der Menschen, jedenfalls aber gewinnbringend einzusetzen. Bislang wissen die Wissenschaftler nicht einmal auch nur annähernd, wieviele Gene das menschliche Genom eigentlich besitzt und welche Genomsequenzen welche Funktionen besitzen. Gentherapien haben bislang keineswegs die Erfolge gezeigt, die man in sie gesetzt hat, auch wenn dies bei biotechnisch hergestellten Medikamenten und gentechnisch veränderten Pflanzen und Tieren ganz anders ist. Möglicherweise lassen sich auch Ersatzorgane aus gentechnisch veränderten Stammzellen züchten, und ziemlich sicher wird es durch die Identifizierung der SNPs, der individuellen genetischen Abweichungen, möglich, maßgeschneiderte medikamentöse Behandlungen zu entwickeln, doch inwieweit und in welchem Ausmaß gezielte Eingriffe in das menschliche Genom jemals zur Behandlungen von Krankheiten oder gar zu einer "Verbesserung" des Menschen führen, ist weiterhin unklar. Vielleicht können wir nur besser erkennen, an welchen Krankheiten wir später im Leben einmal leiden und sterben werden.

Deutlicher sind aber die Möglichkeiten, die genetischen Informationen über die Menschen missbrauchen zu können, egal ob es dabei um den Beitrag zur Krankenkasse oder zur Lebensversicherung geht, um die Diskriminierung am Arbeitsplatz oder die Verhinderung von Kindern mit unerwünschten Eigenschaften. John Sulston, Direktor des Sangre Centre, gibt sich allerdings optimistisch beim medialen Verkauf der Erfolge, da die Befürchtungen "wahrscheinlich unbegründet" seien, dass es zu einer Herstellung von Designerbabys oder zur Diskriminierung von Menschen kommen werde. Dem könne man jedenfalls durch Gesetze beikommen, und überhaupt überwiegen natürlich die Vorteile die Risiken bei weitem. Ansonsten verspricht er an, dass die Analyse der Gene zu einem "vollständigen Verständnis nicht nur der Menschen, sondern des ganzen Lebens" führen werde.

Einig sind sich natürlich auch die Politiker darüber, dass die aus der Erkenntnis des menschlichen Genoms möglicherweise entstehenden Techniken nur zugunsten der Menschen eingesetzt werden sollen. Genetische Informationen, so Clinton, dürften niemals benutzt werden, um einen Menschen oder eine Gruppe zu stigmatisieren oder zu diskriminieren. Überdies müsse man für einen starken Datenschutz sorgen.

Und so lässt sich dann auch wie Sulston schön über das Geschenk der Genwissenschaftler philosophieren, da die Erkenntnis des menschlichen Genoms nicht nur praktische Konsequenzen habe. Man könne erkennen, dass Leben eine Einheit sei und dass bei aller Ähnlichkeit der Menschen, die genetisch zu 99,9 Prozent identisch seien, es niemals zwei identische Menschen gebe. "Wir sollten uns sicherlich als ähnlich betrachten", folgert Sulston tiefgründig, "und dementsprechend füreinander Verantwortung übernehmen, aber wir müssen auch unsere Unterschiede respektieren."

Die bis auf höchster Ebene gefeierte Entschlüsselung des Genoms zu 97 oder 99 Prozent liefert allerdings lediglich Rohdaten, die wirkliche Arbeit steht erst noch an. Daher betonen alle wie der amerikanische Präsident, dass mit dieser Arbeitsversion eigentlich nur der erste Schritt in eine vielversprechende Zukunft, in ein "Zeitalter den Genmedizin", geleistet wurde, die wie immer auf uns wartet.