Wissenschaft im Zeitalter des Antiprofessionalismus
Seite 2: Im digitalen Umfeld wähnt sich jeder als Experte
- Wissenschaft im Zeitalter des Antiprofessionalismus
- Im digitalen Umfeld wähnt sich jeder als Experte
- Marktorientierung und Quantifizierungswahn untergraben die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft und der Forscher
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Dieser im Kern ebenfalls vor- bzw. gegenmoderne Antiprofessionalismus, unter dessen Auspizien dem Experten und "Profi" gerne Demokratiedefizite und Machtmissbrauch unterstellt werden, ist dabei nicht nur in den USA, wo er kulturhistorisch tief verwurzelt ist, virulent. Er hat sich inzwischen als ein globales Phänomen etabliert, angetrieben von der digitalen Verfügbarkeit des Weltwissens sowie dem trügerischen Versprechen der großen Hightech-Konzerne, der Kauf ihrer Computer, Laptops und iPads samt der dazugehörigen Software versetze den Benutzer in die Lage, selbst zum Experten, zum Künstler, zum Autor, zum Steuerfachmann oder eben zum Forscher zu werden (so gibt es bereits frei zugängliche Programme, die selbst völlig unkundigen Nutzern den Eingriff in die DNA Struktur einfacher Pflanzen ermöglichen).
In einem digitalen Umfeld, in dem sich jeder als Experte wähnen und durch den einfachen Klick bei Google in die Rituale und Rhetorik wissenschaftlicher Disziplinen einführen kann, müssen eben diese Rituale ihre respekteinflößende, legitimierende Wirkung verlieren.
Sich auf überprüfbare Expertise zu berufen, so der Politikwissenschaftler Tom Nichols in einem unlängst in The Federalist erschienenen Artikel ("The Death of Expertise"), ziehe heutzutage fast unweigerlich den Spott und die Verachtung seiner Gesprächspartner nach sich. Die Gründe für diese Entwicklung sind ebenso vielfältig wie die kulturellen und nationalen Manifestationen dieses Antiprofessionalismus selbst. Sie haben zum einen mit der von vielen Menschen geteilten falschen Vorstellung zu tun, bei den im Internet zugänglich gemachten Informationen handle es sich bereits um eine Form von Wissen. Dass Wissenschaft gerade darin besteht, diffuse Informationen lesbar zu machen und mittels bestimmter standardisierter Methoden in jeweils vorläufiges, durch Konsens legitimiertes Wissen zu überführen, wird dabei gerne übersehen.
Dass sich Mediziner heute einer Heerschar kritischer und zuweilen renitenter Patienten gegenübersehen, denen jeglicher Respekt vor dem Wissen und der Erfahrung des Arztes oder der Ärztin abhandengekommen ist, ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist die immer weiter um sich greifende Wissenschaftsskepsis, in deren Umfeld nicht nur der einzelne Experte angezweifelt wird, sondern die Institution "Wissenschaft" insgesamt.
Ob es sich bei den auch an den Universitäten selbst festzustellenden antiprofessionellen Tendenzen um ursächliche Entwicklungen oder lediglich um Spiegelungen eines zunehmend wissenschaftsfeindlichen gesellschaftlichen Umfeldes handelt, lässt sich schwer bestimmen. Fest steht jedoch, dass die in den Geistes- und Sozialwissenschaften um sich greifende Erosion der wissenschaftlichen Grundlagen akademischer Ausbildung das ihre zum gegenwärtigen Wissenschaftsverdruss beigetragen haben.
Zweifellos haben Methodenpluralität und die heute gängigen Anleihen bei teils verwandten teilweise aber kaum kompatiblen Nachbardisziplinen auch ihr Gutes; so lassen sich Germanisten von Soziologen oder Philosophen und diese wiederum von Umweltingenieuren, Ethnologen oder Amerikakundlern inspirieren. Ob dabei der Erkenntnismehrwert in allen Fällen den drohenden Kompetenzverlust aufwiegen kann (ein in den Sozialwissenschaften dilettierender Literaturwissenschaftler ist eben noch kein mit der Geschichte und den jeweiligen Methoden des Faches vertrauter Soziologe, Ethnologe oder Religionsforscher), sei dahingestellt.
Gleiches gilt — zumindest im europäischen Raum — für die verfehlte, vermeintlich an amerikanischen Vorbildern orientierte neoliberale Hochschulpolitik, in deren Kontext das wissenschaftliche Selbstverständnis einzelner Fächer nachhaltig gelitten hat. Universitäten, die sich nach innen wie in ihrer Außendarstellung als Produktionsstätten anwendbaren Wissens neu erfinden, die mit ihren Angestellten Zielvereinbarungen abschließen, in denen ein ebensolcher Wissenszuwachs nicht nur garantiert, sondern gleich noch in "bare" Münze, sprich: Drittmitteleinwerbungen umgerechnet wird, machen sich an der Demontage der gesellschaftlichen Anerkennung von Wissenschaft mitschuldig.