"Wo bleiben inhaltliche Tiefe und umfassende Durchdringung?"
Seite 3: "Dokumentarische Medien sind eine Art vertrauensbildender Kit, der unsere Gesellschaft zusammenhält"
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Sie haben im vergangenen Jahr im Dezember unter anderem mit dem Staatssekretär für Medien des Freistaates Thüringen über das dokumentarische Fernsehen diskutiert. Was haben Sie vorgetragen?
Thorolf Lipp: Ich habe in meiner Eigenschaft als AG DOK Vorstandsmitglied und Mitglied in der Deutschen Akademie für Fernsehen eine Podiumsdiskussion konzipiert und moderiert, bei der es im Kern um genau diese Fragen ging, über die auch wir hier reden. Die Medienstaatssekretäre der Länder tagen seit etwa einem Jahr und bereiten eine tiefgreifende Reform des Rundfunkstaatsvertrages vor, bei der es nicht zuletzt auch um die Frage des öffentlich-rechtlichen Auftrages geht.
Unsere Erfahrungen mit den Sendern im Hinblick auf die oben geschilderten Probleme sind sehr ambivalent. Unter dem Strich finden wir zwar immer wieder mal Verständnis und es gibt kleinere Teilerfolge. Durchgreifende Verbesserungen haben wir aber in den letzten 25 Jahren nicht erlebt. Die Sender allein sind offenbar nicht willens oder in der Lage, die Probleme, über die wir hier sprechen, beherzt anzupacken. Also muss wohl doch die Politik ran, denn letztlich ist es ein ordnungspolitisches Problem, wenn von Produzenten und Regisseuren, mithin die schwächsten Glieder in der Produktionskette, verlangt wird, zu eigentlich untragbaren Bedingungen die Demokratie zu retten.
Das hört sich vielleicht ein bisschen überkandidelt an, aber ich meine das völlig ernst: Dokumentarische Medien sind eine Art vertrauensbildender Kit, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Und wenn dieser Kit bröckelt, wenn Vertrauen erodiert, weil Menschen sich nicht ernstgenommen oder sorgfältig abgebildet fühlen, wenn Ihre Themen und Lebenswelten gar nicht mehr vorkommen, dann kann das auf Dauer nicht gut gehen. Und das merkt inzwischen auch die Politik, die die nicht unbegründete Sorge umtreibt, dass die Gesellschaft implodiert.
Die Politik ist gefragt
Wie ist die Diskussion gelaufen und was müsste geschehen, damit sich die Situation wenigstens etwas bessert?
Thorolf Lipp: Meine These ist: Der Auftrag muss dahingehend präzisiert werden, dass er von den öffentlich-rechtlichen Sendern genau das Gegenteil verlangt. In einer immer komplexer werdenden Welt hat ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem nur dann eine Chance auf Bestand, wenn sein Angebot sich an seinem am Public Value orientierten Auftrag messen lässt. Und dieser Auftrag lautet in erster Linie: Wirklichkeit so präzise und vielschichtig wie möglich abzubilden, um auf dieser Grundlage mit einem Höchstmaß an Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit demokratische Willensbildung zu ermöglichen und Informationsasymmetrien innerhalb der Gesellschaft zu überwinden. Dieser Auftrag lässt sich nicht halbherzig und zu Dumpingpreisen ausführen, denn der Prozess freier, individueller und öffentlicher Meinungsbildung ist für die Demokratie schlicht alternativlos.
Wenn der Politik wirklich daran gelegen ist, mit einem leistungsfähigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Demokratiefähigkeit unseres Landes zu erhalten und sogar zu stärken, dann wird das nicht ohne eine Umverteilung von Mitteln zugunsten solcher Programme gehen, die genau das leisten. Wir sind daher dafür, Finanzkorridore für bestimmte Programmbereiche genauer zu definieren.
Also die Politik soll gestalten, aber eben nicht in die Programmhoheit der Sender eingreifen.
Thorolf Lipp: Genau. In die Programmhoheit eingreifen darf die Politik nicht, und das ist auch gut so. Aber sie könnte eben genauer festschreiben, wo die Schwerpunkte sind und wie viel Geld man dafür ausgeben soll. Ein letztes Beispiel dazu: Das ZDF hat im Jahr 2015 tatsächlich 437 abendfüllende Krimis erstausgestrahlt, viele davon zur besten Sendezeit. Demgegenüber standen 12 abendfüllende Dokumentarfilme, davon lief aber kein einziger in der Prime Time.
Ein bisschen hat man das Gefühl, ich habe es ja gerade schon gesagt, die Intendanten wünschten sich geradezu eine solche Initiative der Politik, weil diese sie selbst von der Verantwortung entlasten würde, unliebsame Entscheidungen zu treffen. Sicher müssten dann Sport und bestimmte Unterhaltungsformen beschnitten werden. Und vielleicht würde man auch den Programmdschungel ein bisschen ausdünnen und manche Programme ganz streichen. Gleichzeitig würden Wissen und Bildung, und dazu zählen ja die meisten dokumentarischen Formate, budgetmäßig aufgewertet.
Aber mal davon abgesehen, auch im Kurz-, Kinder-, Spiel- und Animationsfilmbereich wünschte ich mir viel mehr Gestaltungsmut, Budgetmöglichkeiten und Sendeflächen. Gleichzeitig müsste man mehr Medienforschung betreiben, die endlich mal genauer in den Blick nimmt, welche positiven Auswirkungen diese Programme auf die Demokratiefähigkeit der Bürger haben.
Anderswo, etwa in der Schweiz, gibt es solche Instrumente bereits. Man müsste also investieren, um genauer zu definieren und laufend zu untersuchen, welche Erwartungen ein reformiertes öffentlich-rechtliches System an sein Programm hat und wieso die Erfüllung des Auftrages sehr oft nichts mit der rein quantitativen Quote zu tun hat, aber dennoch für das Gelingen von Gesellschaft eine immens wichtige Rolle spielt.