"Wo liegt denn Lichtenhagen?"

Seite 2: Lichtenhagen: "Das wurde doch vom Westen gesteuert, um uns hier als Rassisten zu brandmarken!"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Plattenbauten, bisweilen aufwendig saniert, neben Einfamilienhäusern. Eigentlich eine anständige Wohngegend, auf dem ersten Blick, vielleicht mit einem Touch zum Spießbürgerlichen, kommt es dem Besucher in den Sinn. Nach einem sozialen Brennpunkt schaut es auf jeden Fall hier nicht aus.

1992 im August tobte in Lichtenhagen der Mob, Fernsehbilder gingen um die Welt, berichteten von der Wiedergeburt des "hässlichen Deutschen"! Die damaligen fremdenfeindlichen Ausschreitungen sorgten vor einem Vierteljahrhundert für Entsetzen. Ein rassistischer Mob griff unter den Blicken und dem Beifall von Anwohnern über Tage hinweg die Anlaufstelle für Asylbewerber an. Die Ausschreitungen dienten später als Anlass für eine Grundgesetzänderung.

Heute scheinen die meisten Anwohner von Lichtenhagen im Rentenalter. Über die damaligen Ereignisse möchte man nicht mehr sprechen. "Schauen Sie, in Rostock passieren doch so viele gute Dinge, so viel Aufbruch, warum wollen Sie in den alten Wunden stochern?", äußert ein älterer Herr, auf die damaligen Ereignisse angesprochen. Eine andere Dame keift: "Das wurde doch vom Westen gesteuert, um uns hier als Rassisten zu brandmarken!"

Jerome, ein Musiklehrer senegalesischer Abstammung, der in Köln aufwuchs, meint dazu: "Die Menschen hier sind irgendwie vernagelt, nicht so offen wie in Berlin oder Hamburg, aber Rassismus erlebe ich hier auch nicht öfter als anderswo."

An einer Bushaltestelle wartet Doreen. "Schlimm war das damals, ich habe mich geschämt, aus Lichtenhagen und aus Rostock zu stammen", erinnert sie sich die gebürtige Rostockerin, die als 17-Jährige die Ereignisse nahezu direkt vor der Haustür erlebte. "Es wurde damals aber auch einiges in den Medien falsch dargestellt, wie heute auch", fügt sie hinzu.

Doreen lebt immer noch in Lichtenhagen. Die Versicherungskauffrau ist mit einem Deutschtürken aus Hamburg verheiratet, ihre beiden Kinder wurden nach 1992 geboren. "Damals war aber auch eine schwere Zeit, die hohe Arbeitslosigkeit nach der Wende, die Abwanderung und Unsicherheit, dieses politische Vakuum, dann die Flüchtlinge", bemerkt sie. "Heute geht es uns doch dagegen Gold, die Menschen hier haben mehr von der Welt gesehen. Lichtenhagen bleibt aber eine Warnung, dass so etwas überall auf der Welt geschehen kann", schließt sie zum Abschied, während sie den Bus besteigt.

Foto: Ramon Schack

"Wo liegt denn Lichtenhagen?"

Die Kröpeliner-Tor-Vorstadt, kurz (KTV), scheint Lichtjahre von Lichtenhagen entfernt. Dabei sind beide Stadtteile nur wenige Kilometer voneinander gelegen. Wenn Lichtenhagen die Vergangenheit der Hansestadt repräsentiert, dann ist KTV die Zukunft.

Nirgendwo ist Rostock jünger, bunter, akademischer, als hier. Die Straßenbahn schlängelt sich durch die von Altbauten geprägten Straßenzüge. Bioläden und asiatische Restaurants neben levantinischen Kleinhändlern. Dazwischen junge Menschen mit Dreadlocks, Studenten an Caféhaustischen. Die Atmosphäre erinnert ein wenig an das Schanzenviertel in Hamburg oder an Kreuzkölln in Berlin.

"Rostock ist mein Tor zur Welt!", äußert Jana, die vor einem Jahr zum Studium aus einem kleinen Dorf bei Neubrandenburg hergezogen ist. "Dort gibt es so viele alte und dumme Menschen, ich kehre nie wieder zurück!", kommentiert sie selbstbewusst, bevor sie in ihre vegane Falafel beißt.

Die Skandinavistikstudentin sitzt zusammen mit ihrem Kommilitonen Tom aus Hamburg. "Rostock ist für mich wie ein kleines Hamburg!", findet der junge Mann. "Nur die Entfernungen sind nicht so groß!"

Auf die Ereignisse von Lichtenhagen 1992 angesprochen, die sich dieser Tage jähren, schauen die beiden Jungakademiker ihren Gesprächspartner verständnislos an.

"1992??", fragen sie, als handele es sich um ein vorsinflutliches Datum. Und dann weiter: "Wo liegt denn Lichtenhagen?"