"Wo liegt denn Lichtenhagen?"

Foto: Ramon Schack

Rostock, 25 Jahre später - Ein Stimmungsbild

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Rostock-Bahnhofsvorplatz.

Der Taxifahrer, ein kräftiger Graukopf um die 60, macht aus seiner politischen Gesinnung keinen Hehl. Das AfD-Logo klebt über dem Handschuhfach seines Wagens. Vielleicht nichts Ungewöhnliches in einem Bundesland, wo diese Partei 20,8% der Stimmen bei den Landtagswahlen im letzten Jahr erhielt, damit sogar die CDU überflügelte und zweitstärkste Fraktion im Landesparlament von Schwerin wurde. Trotzdem, dieses Bekenntnis lädt zu einem politischen Austausch ein, zumindest so lange, bis der Zielort erreicht ist.

"Ich habe schon fast alles gewählt, bis auf die Grünen", sprudelt es aus ihm heraus. Nein, die "alten Zeiten", damit sind wohl die DDR-Zeiten gemeint, wolle er nicht zurück, obwohl dort damals einiges besser organisiert gewesen sei, zum Beispiel die Ausländerpolitik. Er möchte sich nicht islamisieren lassen, wovor Udo Ulfkotte in seinen Büchern warnte. Ob man denn schon einmal von Ulfkotte gehört habe, jenem Schriftsteller, der ja Anfang des Jahres ermordet wurde, wie der Taxifahrer zu wissen glaubt (obwohl Ulfkotte an einem Herzinfarkt starb).

Was vor 25 Jahren in Rostock geschah? Das waren die falschen Methoden für das richtige Ziel. Im Ausland war er noch nie, kenne sich aber in Deutschland gut aus, seinem Heimatland, welches die Merkel verraten hat, wobei er den Namen Merkel ausspuckt wie ein altes Kaugummi, als er dem Fahrgast am Zielort das Gepäck aus dem Kofferraum reicht.

"Ja, solche Typen gibt es auch noch!", bekennt Benjamin Weiß, Inhaber des TriHotels am Schweizer Wald, eines angesagten Wellness- und Eventhauses, etwas Abseits der Innenstadt. "Fremdenfeindlichkeit und Rechtspopulismus sind weniger in Rostock ein Problem, aber in der Mecklenburgischen Provinz", weiß er zu berichten. "Weder das Land noch die Stadt könnten sich solche Phänomene erlauben, immerhin ist der Tourismus bei uns der stärkste Wirtschaftsfaktor", fährt er fort.

Der lebenslustige Hotelier, Vater von drei Kindern, leidenschaftlicher Rockmusiker, ist Lokalpatriot und Weltbürger zugleich. Benjamin Weiss, 36 Jahre jung, kam in Rostock zur Welt, studierte nach dem Abi und dem Wehrdienst in Lübeck und ging anschließend nach New York City, wo er sich mit Hoteljobs über Wasser hielt. Seine Eltern betrieben zu DDR-Zeiten die erste private Sauna und eröffneten nach der Wende das Hotel, welches ihr Sohn 2009 übernahm. "Ich beschäftige über 70 Mitarbeiter", erwähnt er stolz, "darunter Menschen aus aller Welt. Internationalität ist im Tourismus ein Markenzeichen, weshalb ich auch bewusst Flüchtlingen aus Syrien beispielsweise eine Chance gebe." Weiss ist fest davon überzeugt, dass sich Ereignisse wie im Jahr 1992 nicht mehr ereignen könnten.

Die Rosa-Luxemburg Straße mündet fast direkt in den Konrad-Adenauer-Platz

Bewegt man sich vom Rostocker Hauptbahnhof in Richtung Innenstadt, wird man spätestens durch die Straßennamen daran erinnert, dass die norddeutsche Hansestadt einst in der DDR lag und in der Nachwendezeit einer Umbenennungsorgie ausgesetzt war, wie andere Städte in den neuen Ländern auch. Lediglich politisch unbelastete Personen der Zeitgeschichte überlebten diesen Regime Change, selbst wenn sie in der DDR als Ikone galten (ob zu Recht oder Unrecht, soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden).

So darf es auch nicht verwundern, dass die Rosa-Luxemburg Straße fast direkt in den Konrad-Adenauer-Platz mündet - und dass die Straßen der näheren Umgebung scheinbar wahllos nach Größen der deutschen Geschichte benannt wurden, was dazu führt, dass sich Goethe neben Friedrich Engels befindet, dass Freiligrath nicht weit von Gerhard Hauptmann zu finden ist.

Aktuell wird in Rostock darüber diskutiert, ob eine Straße nach dem verstorbenen Altkanzler Helmut Kohl benannt werden soll. Ein Vorschlag, der kontrovers aufgenommen wurde. Aber genug von diesem Irrgarten der ideologischen Straßenumbenennung - zurück in die Gegenwart, in den August 2017, 25 Jahre nach den Ausschreitungen von 1992, welche diese Stadt damals weltweit berühmt und berüchtigt machte. Rostock heute.

Foto: Ramon Schack

Die DDR-Geschichte ist im Alltag nicht mehr ersichtlich - und auch die sozialen Verwerfungen der Nachwendezeit scheinen überwunden. Stattdessen großstädtisches Flair und hanseatische Architektur. Das historische Stadtzentrum erstrahlt im neuen "alten Glanz". Rostock wirkt wie ein Seebad mit Flaniermeile, flankiert vom nahen Meer, der Ostsee, dem neuen Traumziel vieler Bundesbürger in Zeiten des globalisierten Terrors, Tagestouristen, Kreuzfahrtgruppen und Badeurlauber neben Einheimischen, die durch die Innenstadt flanieren.

Aber sind diese Eindrücke flüchtig, sind diese Bilder brüchig?

In der Ostsee-Zeitung ist heute zu lesen:

Mit einer Gedenkfeier hat die Hansestadt Rostock am Dienstag der rassistischen Krawalle in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 gedacht. Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) sagte in ihrer Rede, 'wir wollen vor allem alles dafür tun, dass sich Ereignisse, wie wir sie im August 1992 erlebt haben, in Deutschland nie wieder wiederholen.' Es sei wichtig, dass die Politik Menschen unterstütze, die sich für Demokratie einsetzen.

Weiter heißt es in dem Artikel:

Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, sagte, der Eskalation vor dem Sonnenblumenhaus sei ein aggressiver Rassismus in Medien und Politik vorausgegangen. Im Anschluss an die Veranstaltung wurde vor dem Rathaus die erste von fünf thematischen Gedenkstelen enthüllt.

In der Likörfabrik, einer gemütlichen Gaststätte in der östlichen Altstadt Rostocks, verbringt Mandy Kröppelien ihre Mittagspause in einem Strandkorb, welcher hier als Sitzgelegenheit und Lokalkolorit gilt. Kröppelien raucht eine Zigarette, während ihr Blick sich in Richtung ihres Arbeitsplatzes - gleich gegenüber - richtet, dem Europäischen Integrationszentrum, kurz EIZ, beheimatet in einem stattlichen grünen Gründerzeitbau, über dessen Eingangstür die Europaflagge im Winde weht.

"1992 habe ich noch nicht in Rostock gelebt!", berichtet die Leiterin des EIZ, die erst 4 Jahre später zum Studium in die Stadt kam, aus einem kleinen Ort in Vorpommern. "Aber so viel kann ich ihnen versichern, mit der Stadt von damals, einer eher grauen Stadt am Meer, ist das heutige aufblühende Rostock nicht mehr zu vergleichen", berichtet die studierte Erziehungswissenschaftlerin selbstbewusst, während sie ihre Kippe im Aschenbecher löscht. "Die Zukunft Rostocks liegt in Europa", betont sie mit Nachdruck, gemeinsam mit unseren Nachbarn im Baltikum, in Skandinavien, natürlich auch Russland. Daran arbeiten wir im hier im EIZ, damit die Internationalisierung den Menschen vor Ort zu Gute kommt", sagt sie auf dem Weg zurück ins EIZ.

Lichtenhagen: "Das wurde doch vom Westen gesteuert, um uns hier als Rassisten zu brandmarken!"

Plattenbauten, bisweilen aufwendig saniert, neben Einfamilienhäusern. Eigentlich eine anständige Wohngegend, auf dem ersten Blick, vielleicht mit einem Touch zum Spießbürgerlichen, kommt es dem Besucher in den Sinn. Nach einem sozialen Brennpunkt schaut es auf jeden Fall hier nicht aus.

1992 im August tobte in Lichtenhagen der Mob, Fernsehbilder gingen um die Welt, berichteten von der Wiedergeburt des "hässlichen Deutschen"! Die damaligen fremdenfeindlichen Ausschreitungen sorgten vor einem Vierteljahrhundert für Entsetzen. Ein rassistischer Mob griff unter den Blicken und dem Beifall von Anwohnern über Tage hinweg die Anlaufstelle für Asylbewerber an. Die Ausschreitungen dienten später als Anlass für eine Grundgesetzänderung.

Heute scheinen die meisten Anwohner von Lichtenhagen im Rentenalter. Über die damaligen Ereignisse möchte man nicht mehr sprechen. "Schauen Sie, in Rostock passieren doch so viele gute Dinge, so viel Aufbruch, warum wollen Sie in den alten Wunden stochern?", äußert ein älterer Herr, auf die damaligen Ereignisse angesprochen. Eine andere Dame keift: "Das wurde doch vom Westen gesteuert, um uns hier als Rassisten zu brandmarken!"

Jerome, ein Musiklehrer senegalesischer Abstammung, der in Köln aufwuchs, meint dazu: "Die Menschen hier sind irgendwie vernagelt, nicht so offen wie in Berlin oder Hamburg, aber Rassismus erlebe ich hier auch nicht öfter als anderswo."

An einer Bushaltestelle wartet Doreen. "Schlimm war das damals, ich habe mich geschämt, aus Lichtenhagen und aus Rostock zu stammen", erinnert sie sich die gebürtige Rostockerin, die als 17-Jährige die Ereignisse nahezu direkt vor der Haustür erlebte. "Es wurde damals aber auch einiges in den Medien falsch dargestellt, wie heute auch", fügt sie hinzu.

Doreen lebt immer noch in Lichtenhagen. Die Versicherungskauffrau ist mit einem Deutschtürken aus Hamburg verheiratet, ihre beiden Kinder wurden nach 1992 geboren. "Damals war aber auch eine schwere Zeit, die hohe Arbeitslosigkeit nach der Wende, die Abwanderung und Unsicherheit, dieses politische Vakuum, dann die Flüchtlinge", bemerkt sie. "Heute geht es uns doch dagegen Gold, die Menschen hier haben mehr von der Welt gesehen. Lichtenhagen bleibt aber eine Warnung, dass so etwas überall auf der Welt geschehen kann", schließt sie zum Abschied, während sie den Bus besteigt.

Foto: Ramon Schack

"Wo liegt denn Lichtenhagen?"

Die Kröpeliner-Tor-Vorstadt, kurz (KTV), scheint Lichtjahre von Lichtenhagen entfernt. Dabei sind beide Stadtteile nur wenige Kilometer voneinander gelegen. Wenn Lichtenhagen die Vergangenheit der Hansestadt repräsentiert, dann ist KTV die Zukunft.

Nirgendwo ist Rostock jünger, bunter, akademischer, als hier. Die Straßenbahn schlängelt sich durch die von Altbauten geprägten Straßenzüge. Bioläden und asiatische Restaurants neben levantinischen Kleinhändlern. Dazwischen junge Menschen mit Dreadlocks, Studenten an Caféhaustischen. Die Atmosphäre erinnert ein wenig an das Schanzenviertel in Hamburg oder an Kreuzkölln in Berlin.

"Rostock ist mein Tor zur Welt!", äußert Jana, die vor einem Jahr zum Studium aus einem kleinen Dorf bei Neubrandenburg hergezogen ist. "Dort gibt es so viele alte und dumme Menschen, ich kehre nie wieder zurück!", kommentiert sie selbstbewusst, bevor sie in ihre vegane Falafel beißt.

Die Skandinavistikstudentin sitzt zusammen mit ihrem Kommilitonen Tom aus Hamburg. "Rostock ist für mich wie ein kleines Hamburg!", findet der junge Mann. "Nur die Entfernungen sind nicht so groß!"

Auf die Ereignisse von Lichtenhagen 1992 angesprochen, die sich dieser Tage jähren, schauen die beiden Jungakademiker ihren Gesprächspartner verständnislos an.

"1992??", fragen sie, als handele es sich um ein vorsinflutliches Datum. Und dann weiter: "Wo liegt denn Lichtenhagen?"