Größtes Manöver seit Kaltem Krieg: Nato im Kampf gegen Russland – und sich selbst
"Steadfast Defender 2024" ist eine Übung der Superlative. Sie enthüllt aber auch die Schwächen der Allianz. Die zeigen sich etwa bei Artilleriemunition.
In einem Waldgebiet nahe der lettischen Militärbasis Adazi haben sich Nato-Truppen aus 14 Ländern für das größte Militärmanöver der Allianz seit dem Kalten Krieg versammelt. Wie schon bei vorherigen Nato-Übungen liegt der Fokus des andauernden Manövers auf Russland.
Dem lettischen Armeeoberst Oskars Kudlis, der eine Brigade schwerer gepanzerter Fahrzeuge aus einer Position im Wald befehligte, ist es am wichtigsten, die Bereitschaft zur schnellen Handlung und Verteidigung der lettischen und NATO-Grenzen zu demonstrieren. Das sagte er gegenüber dem Wall Street Journal.
Fokus auf Russland
Eine Übung vor Ort begann unlängst in der frühen Morgendämmerung mit einer Warnung. Das Szenario: Feindliche Kräfte haben die lettische Grenze zu Russland überschritten und näherten sich der Hauptstadt. Die Truppen, die in verschiedenen Sprachen über unterschiedliche Funkgeräte kommunizierten, eilten los, um die fiktiven Eindringlinge in Richtung sumpfiger Gebiete zu drängen, wo ihre Panzer Probleme bekommen würden.
Seit Moskau 2014 die Krim-Halbinsel von der Ukraine abgetrennt und unter seine Kontrolle gebracht hat, rüstet die Nato an der Ostgrenze des Nordatlantikpaktes verstärkt auf. Die diesjährige Übung "Steadfast Defender 2024" zielt darauf ab, Moskau eine Botschaft zu senden: Die Allianz steht bereit, ihre Mitglieder zu verteidigen – insbesondere jene nahe der russischen Grenze, einschließlich Lettland. Die Übungen haben am 22. Januar begonnen und sollen bis Ende Mai andauern.
Kommunikationsprobleme und unterschiedliche Waffensysteme
Die Reaktion auf den simulierten Angriff erforderte, dass Truppen aus so weit entfernten Ländern wie Kanada und Albanien Kommunikationsprobleme lösen und unterschiedliche Waffensysteme koordinieren.
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"Die Integration aller Länder ist eine Herausforderung", sagte der kanadische Armeeleutnant Jonathan Cox, der die Übung "Crystal Arrow", den lettischen Teil der Nato-Manöver, mit anführte.
Nato wird stärker, aber auch Uneinigkeiten nehmen zu
Die Nato, die am 4. April ihr 75-jähriges Bestehen feierte, wird in einigen Bereichen stärker. Finnland und Schweden sind nach jahrzehntelanger Ablehnung einer Mitgliedschaft beigetreten.
Die europäischen Nato-Mitglieder geben mehr für Verteidigung aus als seit dem Kalten Krieg. Dieses Jahr werden die europäischen Mitglieder erstmals seit Jahrzehnten ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber der Allianz nachkommen, sagte der Generalsekretär der Allianz, Jens Stoltenberg, kürzlich.
Größte Übung seit 1988
Die diesjährigen Übungen, die größten seit 1988, finden über vier Monate bis Mai an Orten von der Arktis bis zum Schwarzen Meer statt. Sie umfassen nach Nato-Angaben insgesamt rund 90.000 Soldaten, 1.100 Kampffahrzeuge, 80 Flugzeuge und 50 Kriegsschiffe.
Die Operation in Lettland war eine von mehreren, die nahe der europäischen Grenze zu Russland durchgeführt wurden. Nachdem Russland 2014 die Krim-Halbinsel erobert und zur Rebellion in der Ostukraine beigetragen hatte, vereinbarten die Nato-Mitglieder, ständig Truppen durch ihre verwundbaren östlichen Mitglieder zu rotieren und festzulegen, welches Mitgliedsland die Führung bei der Verteidigung jedes Landes übernehmen würde.
Nato-Partner enger verflochten als je zuvor
Die Partnerschaften haben die Alliierten enger miteinander verflochten als zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem Kalten Krieg. Damals hatten die USA, Großbritannien und Frankreich noch ständig Truppen in Westdeutschland stationiert.
Die Übung in Lettland, in der Nähe der Hauptstadt Riga, war eine der umfassendsten der Nato in diesem Jahr. Elf Mitgliedsnationen, die bereits Truppen in Lettland stationiert hatten, darunter Kanada, wurden von Streitkräften aus den USA, Island und Lettlands Nachbarland Estland unterstützt.
Nato-Länder weit entfernt von Militärausgabenzielen
Im Jahr 2014 hatten die Nato-Mitgliedsstaaten vereinbart, dass jedes Land bis dieses Jahr mindestens zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aufwendet.
Lettland, das 1940 von der Sowjetunion besetzt und erst 1991 unabhängig wurde, wird dieses Jahr 2,4 Prozent seines Bruttoinlandproduktes (BIP) für Verteidigung eingeplant, als Teil eines Plans, bis zum Jahr 2027 dann drei Prozent zu erreichen. Kanada gibt etwa 1,3 Prozent seines BIP für sein Militär aus und hat keinen Plan, zwei Prozent zu erreichen.
Uneinigkeit über Bedrohungen
Eine der grundlegendsten Spaltungen der Allianz ist die Diskrepanz in der Wahrnehmung von Bedrohungen durch die Mitgliedsländer. Während die Nato zwei Gefahren – Terrorismus und Russland – ausmacht, sind viele Beamte in der Türkei und anderen Mitgliedsländern entlang des Mittelmeers mehr besorgt über regionale Konflikte, illegale Migration und Terrorismus.
Der Konflikt mit Russland spielt dort nur eine unter geordnete Rolle.
Befürchtungen vor russischer Aggression
Nato-Planer halten eine direkte russische Invasion eines benachbarten Mitgliedslandes bald für unwahrscheinlich, obwohl kürzlich einige Militärbeamte in Nato-Ländern sagten, Moskau könnte in wenigen Jahren stark genug sein, um anzugreifen.
Kurzfristig befürchten sie, dass Moskau Konflikte in nahegelegenen Ländern auslösen könnte, indem es lokale Russen aufwiegelt und Spannungen als Vorwand benutzt, um einzugreifen, wie es der Kreml vor einem Jahrzehnt in der Ostukraine getan hat.
Vorbereitung auf gemeinsame Kriegsführung ist oberste Priorität
Nach dem Kalten Krieg spielten Unterschiede in Sprache, Kommunikationssystemen und Waffen innerhalb der Nato eine geringe Rolle, da ihre Truppen selten Schulter an Schulter kämpften.
Derzeit ist die Vorbereitung auf eine Kriegsführung im Bündnis wieder die oberste Priorität der Nato, und die Truppen müssen lernen, wie man gemeinsam auf dem Schlachtfeld arbeitet.
Massive Probleme mit Gerät und Munition
Die Einheitlichkeit bleibt eine Herausforderung für die Mitgliedsstaaten des Nordatlantikpaktes. Bei Crystal Arrow setzten die Alliierten kanadische LAV-6-Panzerfahrzeuge, amerikanische, deutsche und polnische Panzer sowie lettische, britisch hergestellte CVR-T-Aufklärungsfahrzeuge ein. Jedes benötigt unterschiedliche Ersatzteile und Wartung. Im Wall Street Journal heißt es dazu:
Die Planer des Bündnisses haben Ausrüstungsnormen festgelegt und sich dafür eingesetzt, dass die Ausrüstung austauschbar ist. Aber selbst für eine der grundlegendsten Nato-Normen, 155-Millimeter-Artilleriegranaten, stellen die Mitglieder 14 verschiedene Modelle her, so Bauer. Einige Geschosse können nicht in andere Abschussgeräte eingesetzt werden, während andere zwar passen, aber nicht mit der Zielsoftware verbunden werden können.
Viele der fast 200 verschiedenen Waffensysteme, die der Ukraine zur Verfügung gestellt wurden, stammen aus Nato-Staaten. Dieses Sammelsurium hat für die Ukraine zu einem Alptraum in Sachen Wartung geführt, denn sie musste sich Ersatzteile für viele Systeme zusammensuchen.
Aufrüstung und Kriegsvorbereitung
Die Probleme versucht die Nato auch über massive Finanzspritzen auszugleichen; das ist Teil eines neuen Rüstungswettlaufs. Im vergangenen Jahr – 2023 – haben die weltweiten Militärausgaben einen neuen Höchststand von 2,4 Billionen US-Dollar erreicht. Das war ein Anstieg von 6,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr und die stärkste jährliche Steigerung seit 2009, wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut (Sipri) unlängst berichtete.
Gleichzeitig bereiten sich die Nato-Landstreitkräfte auf das laufende Manöver vor, an dem die Bundeswehr führend beteiligt ist. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Carsten Breuer, betont die Notwendigkeit, "wie im Krieg" zu üben. Breuer sagte:
Wir müssen üben wie im Ernstfall, wir müssen üben wie im Krieg, wir müssen üben, schnell und wirksam zu reagieren. Alarmierung, Verlegung von Kräften und auch der Einsatz von Kräften.
Konkret, wir verlegen aus dem gesamten Nato-Gebiet, auch aus Nordamerika, an die Ostflanke. Wir verlegen Personal und Material und wir führen sie zusammen als schlagkräftige militärische Verbände. (…)
Es hat mir noch mal gezeigt, dass Kriegstüchtigkeit deutlich angekommen ist, dass man deutliche Schritte in Richtung Kriegstüchtigkeit gemacht hat.
General Carsten Weber