Worum geht es eigentlich den Gelbwesten?
Seite 2: "La planète agonise!" - "Der Planet liegt im Sterben"
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Mit "fin du monde" wird aber auch - so meine Wahrnehmung - das "katastrophische" Bewusstsein der Gelbwesten deutlich - und damit ihr Blick auf die aktuelle Dystopie im Kontext einer drohenden "extinctio oecologica".
Das fügt sich nahtlos in den Kontext eines weiteren Karton-Plakats, auf dem ich die folgende Aufschrift lesen kann : "La planète agonise ! Ce système nous oppresse ! Plus question de laisser faire. La lutte est nécessaire." (Der Planet liegt im Sterben! Dieses System unterdrückt uns! So kann es nicht mehr weitergehen. Der Kampf ist notwendig).
"La planète agonise" - mit schwarzem Filzstift auf gewöhnlichen Karton gemalt - das ist alles nur noch "unterirdisch" - und erfordert einen Kommentar.
Neben den Protesten gegen Steuern, neoliberale Finanzoligarchie und Polizeigewalt sind "Klimawandel" und "ökologische Dystopie" ein zentrales Thema der Gilets jaunes. Die Textzeile "la planète agonise" erinnert mich unweigerlich an das 2017 veröffentlichte Buch "Où atterir? Comment s'orienter en politique" (Das terrestrische Manifest) des emeritierten Pariser Hochschullehrers Bruno Latour (siehe sein Interview mit der FAZ).
Im Eingangskapitel führt Bruno Latour aus, dass die westliche Machtelite sich bereits seit vierzig Jahren darüber im Klaren ist, dass zweihundert Jahre Modernisierung der Welt gescheitert sind und jetzt im 21. Jahrhundert in eine so noch nie dagewesene Dystopie "einmünden".
Vierzig Jahre Neoliberalismus haben - so Bruno Latour - ihren eigentlichen Entstehungsgrund in dem Sachverhalt, "dass ein gewichtiger Teil der führenden Klassen zu dem Schluss gelangte, dass für ihn und den Rest der Menschen nicht mehr genügend Platz vorhanden sei".1
Aus der aktuellen Einsicht in die gegenwärtige Kollision des auf fossilen Energieträgern basierenden industriellen Systems mit den Grenzen des Planeten erwächst bei Bruno Latour die zentrale Erkenntnis: Wir verlieren unsere Welt.
"La planète agonise" auf dem Gilets jaunes - Plakat nimmt den gleichen Gedanken auf. Der ehemalige Minister John Kerry aus der früheren US-amerikanischen Obama-Administration spricht in einem Fernsehauftritt Anfang 2019 von einem "mutual suicide pact" im Kontext einer katastrophalen Klimaerwärmung um vier Grad bis zum Ende des 21. Jahrhunderts, von der mittlerweile auszugehen ist.
Der US-amerikanische Autor David Wallace-Wells beschreibt in seinem im Mai 2019 erscheinenden Buch The Uninhabitable Earth apokalyptische Szenarien auf einem in Teilen lebensfeindlich gewordenen Planeten als Folge einer gescheiterten Modernisierung.
Mit "la planète agonise" und vielen weiteren Plakaten der Gelbwesten, die ich gesehen und fotographiert habe, ergibt sich - klar und unübersehbar - eine thematische Überschneidung mit den aktuell weltweiten "Friday for Future"-Schülerdemos, deren überraschende Dynamik so ebenfalls nicht vorhersehbar war.
Die Aufschrift "si le climat était une banque il serait déjà sauvé" auf einer Pariser gelben Weste habe ich in deutscher Übersetzung auf der "Friday for Future"- Demo am 15. März 2019 in Frankfurt am Main wiedergefunden : "Wenn das Klima eine Bank wäre, hättet ihr es schon längst gerettet."
Vorläufiges Fazit
Eine abschließende Bewertung eines noch ganz neuen gesellschaftspolitischen Phänomens, wie es jetzt die Gelbwesten darstellen, ist erst mit größerem historischen Abstand möglich. Trotzdem möchte ich hier ein vorläufiges Fazit in den Raum stellen.
Die heterogene Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit der Gilets jaunes reicht von witzigen und intelligenten Protestformen über eine bitternotwendige Kritik am neoliberalen Plünderungsfeldzug einer solipsistischen Oligarchie und an der rasanten ökologischen Zerstörung des Planeten bis zu fragwürdigen Demo-Gewaltexzessen.
Sie gehört in den gegenwärtigen Kontext einer hochgradig dystopisch-krisenhaften Entwicklung, die mit Schlagworten wie "bröckelndes US-Imperium", "nukleare Hochrüstung und massiv gestiegene Kriegsgefahr", "Klimakatastrophe", "extinctio oecologica" und dem "Scheitern des neuzeitlichen Menschen" nur in grober Annäherung umrissen ist.