Worum kämpfen?
Seite 2: Wer ist politisches Subjekt im Nachkriegsstaat?
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Die Analogie zu den Balkankriegen nach dem Zerfall Jugoslawiens wirft die Frage nach dem Danach auf. Oft werden zur Konfliktresolution Powersharing-Arrangements eingeführt, durch die verfeindete Gruppen gleichberechtigt an der Regierungsmacht beteiligt werden. Auch in den Dayton Accords (1996), dem Friedensvertrag für Bosnien-Herzegowina, wurde Powersharing vereinbart und damit der Fokus auf das Recht dreier verfeindeter ethnonationaler Gruppen gelegt, an der Regierung beteiligt zu werden.
Betont wird das Recht auf Gleichbehandlung und Partizipation von Bosniaken, Kroaten und Serben (und nicht etwa aller Gruppen!).
Andere religiöse, sexuelle oder ethnische Minderheiten wie etwa Roma oder Juden können zwar dort unbehelligt leben, treten aber nicht als politische Subjekte in Erscheinung, denn sie sind faktisch nicht wählbar und ihre Interessen werden nicht vertreten. Damit blieben die ethnischen Konfliktlinien bestehen und kommunale Identitäten wurden zementiert.
Die Polarisierung politischer Parteien in Extreme folgte rasch. Powersharing, so die Kritik von Beobachtern, reifiziert regelmäßig spezifische politische Subjektivitäten, nämlich tribale’Identitäten, und vertieft schon vorhandene gesellschaftliche Spaltungen und Segregation.
Doch Staatlichkeit ist in "Post-Konflikt"-Kontexten nicht allein durch ethno-kommunale Identitätspolitiken geschwächt. Hinzu kommt, dass Korruption und Klientelismus blühen und dass große Teile der Bevölkerung dem Staat wenig bis gar keine Loyalität entgegenbringen.
An Friedensabkommen und -prozessen sind überdies üblicherweise diverse Mitgaranten und externe Stakeholder beteiligt, die sich allesamt Frieden auf die Fahne schreiben, dabei aber höchst unterschiedliche Agenden, Aufgaben und Missionen verfolgen.
In staatliche Hoheitsrechte stark eingreifend trat in Bosnien die Internationale Gemeinschaft in Erscheinung, in deren Händen großenteils die Verwaltung und Exekutive des Staates liegen: Hier lieferte die EU nicht nur Währung (der Umrechnungskurs ist immer noch an die D-Mark gekoppelt), Flagge und Nummernschilder für Fahrzeuge, also die klassischen Paraphernalien des Nation-Building, sondern übernahm sensible hoheitliche Angelegenheiten wie Gesetzgebung (EULEX), die Reform der Polizei (die als gescheitert betrachtet werden kann) und teilweise mit der aus 34 Nationen bestehende Friedenstruppe Sfor auch die Sicherung der Staatsgrenzen.
Die Gerichtsbarkeit für Kriegsverbrechen (ICTY) wurde nach Den Haag ausgelagert, während sich lokale Gerichte schwertun, Prozesse anzustrengen. Ein hoher Repräsentant sowie ausländisches Militär wachen bis heute über die Wahrung des Friedens.
Negativbeispiel Kosovo
In dieser Situation ist ein Vakuum für weitere Akteure geblieben, die ihren Einflussbereich vergrößern wollen: Die Bandbreite reicht von transnationalen kirchlichen Netzwerken mit religiösen Missionen, über recht autarke ausländische Investoren, bis hin zu jihadistisch motiviertem Dark Tourism.
Der ohnehin schon fragile Staat wird durch diese Faktoren weiter unterminiert. Zugleich dauert auf lokaler Ebene die Gewaltbedrohung durch Kriminalität und paramilitärische Organisationen an. Auch 26 Jahre nach Kriegsende ist die Ökonomie desolat, der Wiederaufbau stockend und die gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen in weiter Ferne. Der Hass zwischen den vormaligen Kriegsparteien ist so lebendig wie die Angst vor einem Wiederaufflammen der Gewalt.
Ein noch extremeres Beispiel junger Staatlichkeit nach einem Krieg ist das Kosovo: Nahezu vollständig von der "Internationalen Gemeinschaft" verwaltet – übrigens eine Begriffsschöpfung Tony Blairs zum Irakkrieg –, ist der junge Staat Drehscheibe für Organ- und Menschenhandel und weist schockierende Mordraten und Zahlen an Zwangsprostitution auf. Das verdeutlicht, dass die Anwesenheit der Internationalen Gemeinschaft nicht automatisch für mehr Accountability und Sicherheit vor Gewalt für Bürger sorgt.
Dazu kommen in diesen quasi-poststaatlichen Räumen jeweils "Hinterlande" – sie sind die Feeder Areas für immer dräuende gewaltsame Auseinandersetzungen. In Bosnien-Herzegowina ist die Republika Srpska, eine von zwei Entitäten im Staat. In der überwiegend proserbischen Entität gibt es vernehmbar Sezessionsbestrebungen und den Wunsch nach einem Anschluss an Serbien.
Zur Fragilität von Staatlichkeit und Frieden trägt als weiterer Faktor die Kontrolle von Mikroterritorien durch paramilitärische Gruppen und Milizen, durch internationale Truppen, oder durch regionale Polizeien bei.
Bosnien-Herzegowina ist – wie viele andere Staaten im Nachkriegszustand – ein Territorium, in dem als Ergebnis von Friedensschlüssen multiple Governance-Ebenen existieren, neben- und übereinanderliegende Ordnungen, die teilweise kooperieren und sich teilweise blockieren. Ein Monopol im Hobbes'schen Sinne hat der Staat ebenso wenig auf Sicherheit, wie auf Wohlfahrt oder Repräsentation. Die Demokratie entbehrt eines Demos.
Territorien, in denen sich derzeit Friedensprozesse vollziehen, sind ein Brennglas für Globalisierung – Assemblagen unterschiedlicher Ordnungen, in denen Territorium, Recht und Autorität nicht in eins fallen. So herum betrachtet sind die zahlreichen Post-Konflikt-Regionen echte Avantgarde und es drängt sich die Frage auf, weshalb Praktiker und Theoretiker noch immer nach (nationalstaatlichen) Alternativen für diese Territorien fragen, anstatt anzuerkennen, dass diese die zeitgenössische Alternative sind.
Neben Traumatisierung und Gewalterfahrung macht auch das Fehlen verlässlicher Strukturen Nachkriegsgesellschaften fast ausnahmslos gewaltoffener. Nach dem Krieg entsteht eine spezifische Qualität von Post-Staatlichkeit und Gewaltordnungen, die den Aufruf zum Kampf um Freiheit und Souveränität im jetzigen Krieg zur Farce macht.